LiteraturOh du, mein süßer Zettelkasten

Literatur / Oh du, mein süßer Zettelkasten
Dorothee Elmiger Foto: dpa/Arne Dedert

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Für den Zucker haben die Europäer Amerika erobert und Afrika versklavt. In „Aus der Zuckerfabrik“ wird das weiße Gold Teil eines intertextuellen Geflechts, das Geschichte, Literatur und die eigene Biografie verbindet. Die Leser erwartet eine oft fesselnde und unberechenbare Reise, deren Ergebnisse aber vorhersehbar bleiben.

Jahrelang hat die Schriftstellerin Material für ihr neues Projekt in einer Mappe zusammengetragen. Aber wenn sie jemand fragt, an was sie gerade arbeitet, kann sie nur verlegen Stichworte nennen: „Zucker, Lotto, Übersee.“ Inmitten dieses Buchs, das in klassisch selbstreflexiver Manier seine eigene Entstehung erzählt, trifft sie ihren Lektor, der darauf besteht, dass, was auch immer bei der Arbeit herauskommt, „Roman“ draufstehen muss. Die Autorin findet „Recherchebericht“ passender. Dem Text, den man schließlich zu Gesicht bekommt, ist keine Gattungsbezeichnung vorangestellt. Immerhin, eine Art Lektüreanweisung gibt Dorothee Elmiger einem mit auf den Weg: „Es gibt an diesem Ort keine feststehende Ordnung. Mit jedem Gang durch das Chaos […] scheinen die Dinge in neue Verhältnisse zueinander zu treten.“

So muss man also seinen eigenen Weg gehen, durch die vielen Zitate, Textschnipsel und kurzen erzählerischen oder beschreibenden Passagen, die „Aus der Zuckerfabrik“ zu Themen wie Zucker, Lotto und Übersee anhäuft. Elmigers Sammelleidenschaft entzündet sich an einem TV-Bericht aus den Achtzigern: Das Eigentum des ersten Schweizer Lottomillionärs wird versteigert. Der einfache Installateur Werner Bruni war seinen unverhofften Reichtum nach wenigen Jahren wieder los und musste Privatinsolvenz anmelden. Unter seinen Besitztümern befindet sich ein Paar Holzfiguren aus der Karibik, ein Mitbringsel einer Reise zu dem Ort, wo der Zucker herkommt. An diesen Figuren bleibt der Blick der Erzählerin hängen, sie treiben sie an zu einer Recherche über Kapitalismus, Kolonialismus und Begehren – nach Zucker, Macht und Liebe.

Man liest über Marie Luise Kaschnitz und „Das dicke Kind“, über die Magersuchtpatientin Ellen West und ihren Arzt Ludwig Binswanger, über den Ausnahmetänzer Vaslav Nijinsky auf hoher See, über die Ekstasen der Mystikerin Teresa von Ávila, über Adams Smiths Zuckergelüste im Angesicht seiner Cousine, über Heinrich von Kleists „Verlobung in St. Domingo“ und die haitianischen Revolutionsanführer Toussaint Louverture und Jean-Jacques Dessalines, über den englischen Kolonisator und Mädchenentführer Edward Wakefield, über Karl Marx’ Analyse der Produktionsverhältnisse in der Neuen Welt und natürlich über den unglücklichen Lottogewinner Bruni, der sich bei einem Bauprojekt in Haiti verausgabt.

Everything’s connected!

Und wie hängt das nun alles zusammen? Dorothee Elmiger hält sich mit Deutungen und Kommentaren zurück. Es ist den Lesern selbst überlassen, die „Verwandtschaften, Wiederholungen, Parallelen“ zwischen den einzelnen Textblöcken zu entdecken oder vielleicht auch erst herzustellen. Wiederkehrende Motive helfen dabei. Manches wird angedeutet und erst viel später entwickelt, anderes wiederholt aufgegriffen und variiert, sodass man fast unweigerlich von einer musikalischen Technik der Erzählerin sprechen muss. Andernorts ist es vielleicht wirklich das, was einem gerade zufällt, das einen in den Bann zu ziehen vermag.

So sehr sich die Autorin dagegen sträubt, ihr Publikum an der Hand durch das Buch zu führen, so sehr ist sie aber auch selbst ein Teil davon. Eine „Einmischung des Biografischen“ kündigt sich bereits zu Beginn an, bei der Elmiger nicht nur über ihr eigenes Schreiben reflektiert, sondern auch Episoden aus dem eigenen Leben autofiktional verarbeitet. Mit ihrem Liebhaber F. reist sie an der amerikanischen Ostküste entlang. C. reicht sie in Zürich eine Birne als Geste der Zuneigung. A. schreibt sie ständig, was ihr so durch den Kopf geht. Dazwischen mischen sich immer wieder Träume und Erinnerungen. Was Wirklichkeit und was Vorstellung ist, was man selbst erlebt und was man sich angelesen hat, solche Unterscheidungen lässt „Aus der Zuckerfabrik“ schnell hinter sich. Entscheidend sind die Verbindungen zwischen dem eigenen Dasein, dem Gelesenen, Gesehenen und Gehörten und der Geschichte: „Es ist mein Körper, der da liegt, zwischen den verstreuten Dingen anderer, der zutiefst verwickelt ist in alles, was passiert, und das, was ich zuvor als Material abgelegt habe.“

„Everything’s connected!“, ruft einem die Autorin mit der Überzeugung des Paranoikers oder Ökologen permanent zu. Das Resultat ist dabei weit weniger interessant als der Prozess; Ziel des Gangs durch das Chaos bleibt stets der Weg. Was „Aus der Zuckerfabrik“ an Einsichten über die Verstrickung des Zuckers in Machtverhältnisse zwischen Mann und Frau, Weiß und Schwarz usw. zutage fördert, ist gelegentlich überraschend, aber selten neu. Doch wer die sperrige Form und das ein oder andere postmoderne Klischee nicht scheut, kann Dorothee Elmigers Materialsammlung durchaus mit Gewinn erkunden.

Infos

Dorothee Elmiger: „Aus der Zuckerfabrik“. Hanser Verlag, München 2020. 272 Seiten. 23 €