Der weiß-blaue Holzkahn befand sich im Schlepptau des spanischen Rettungskreuzers „Salvamar Alpheratz“, der momentan im Atlantik pausenlos im Einsatz ist. Etwa 90 Bootsinsassen klettern an Land. Die meisten sind junge Männer, aber auch einige Frauen und Jugendliche sind dabei. Einige küssen den Boden, als sie auf europäischem Territorium stehen. Andere sinken auf die Knie, blicken zum Himmel und recken die Arme in die Höhe. Rot-Kreuz-Helfer legen ihnen Decken um die Schultern.
Ihr Boot hat offenbar in der von Marokko besetzten Westsahara abgelegt, die rund 200 Kilometer von Gran Canaria entfernt liegt. Andere Boote fahren im weiter südlich liegenden Mauretanien oder in Senegal los. 40 dieser „pateras“, wie die Holzboote in Spanien genannt werden, trieben nun innerhalb von 48 Stunden an. Mit mehr als 1.100 Menschen. Ein trauriger Rekord. Die im Atlantik liegenden Kanarischen Inseln, die in den letzten Jahren nur wenige Ankünfte registrierten, erleben gerade die größte Migrationskrise des letzten Jahrzehnts.
Seit Jahresanfang sind bereits mehr als 8.000 Bootsmigranten auf den zu Spanien gehörenden Urlaubsinseln angekommen. Das ist sieben Mal mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. In den Booten sitzen Algerier und Marokkaner, die der desolaten politischen und wirtschaftlichen Situation in ihren Heimatländern entkommen wollen. Und auch viele Menschen aus den westafrikanischen Armutsländern Mali, Guinea, Senegal oder Elfenbeinküste.
Die meisten landen auf Gran Canaria, aber auch auf Teneriffa, Fuerteventura und Lanzarote kommen die Kähne an. Die provisorischen Auffanglager platzen inzwischen aus allen Nähten. Und zwar so sehr, dass die Ankommenden mittlerweile schon in Hotels, die wegen der Corona-Reisekrise leer stehen, untergebracht werden müssen. Die Ankunft so vieler Einwanderer sorgt für soziale Spannungen auf den Inseln, was sich im Anstieg rassistischer Vorfälle widerspiegelt.
Bei allen Migranten werden routinemäßig Corona-Tests gemacht: Offizielle Zahlen zu den Infektionen unter den irregulären Einwanderern werden nicht veröffentlicht. Aber nach Angaben von Helfern sorgen die beengten Verhältnisse in den Booten wie auch später in den Flüchtlingsunterkünften immer wieder für größere Virusausbrüche.
Verschiebung der Migrationsrouten
Am schlimmsten sind die Zustände in einem provisorischen Zeltlager auf der Hafenmole des Ortes Arguineguín auf Gran Canaria. Dort sind derzeit mehrere Hundert Migranten untergebracht. Es gibt weder genügend Matratzen noch ausreichende sanitäre Anlagen. „Das ist menschenunwürdig“, klagte einer der für das Lager zuständigen Ärzte in einem Radiointerview.
Die Ankunftszahlen auf den Kanaren spiegeln eine neue Verschiebung der Migrationsrouten im Süden Europas wider: Auf der westlichen Mittelmeerroute von Marokko und Algerien zur spanischen Festlandküste gehen die Migrationszahlen zurück, weil dort die Überwachung der Seegrenze verstärkt worden ist. Auf der Atlantikroute Richtung Kanaren steigen derweil die Zahlen, weil die Wassergrenzen vor Westafrika derzeit durchlässiger sind.
Unter dem Strich verzeichnet Spanien nach Angaben des Innenministeriums in Madrid aber immer noch einen leichten Rückgang der irregulären Einwanderung. Die Immigranten kommen entweder per Boot oder über die Landgrenzen der beiden Nordafrika-Exklaven Ceuta und Melilla. In 2020 gelangten bis Ende September insgesamt 19.000 Flüchtlinge und Migranten nach Spanien – 17 Prozent weniger als im Vorjahr.
Auch im gesamten Mittelmeerraum sinkt der Migrationsdruck: Nach den letzten verfügbaren Zahlen der EU-Grenzschutzagentur Frontex reduzierte sich die Zahl der in ganz Südeuropa registrierten Flüchtlinge und Migranten bis Ende August um 14 Prozent.
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