CinEastDas verflixte dreizehnte Jahr: Vier Wettbewerbsfilme in der Übersicht

CinEast / Das verflixte dreizehnte Jahr: Vier Wettbewerbsfilme in der Übersicht
„Servants“ von Ivan Ostrochovsky

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Trotz 2020 und sie-wissen-schon-was findet seit gestern das CinEast statt. Der eigentlich nicht mehr aus dem Kalender des luxemburgischen Kinojahres zu streichende Termin hätte wie so vieles dieses Jahr fast nicht stattgefunden. Doch das Fest des ost- und mitteleuropäischen Kinos hat im verflixten 13. Jahr eine Hybrid Edition ausgearbeitet, amalgamiert folglich digitalen und analogen Kinobesuch und lädt sein Publikum nun gleichzeitig ins Kino sowie in den Stream ein. Zwischen den fast 50 Spielfilmen findet Mensch einen Wettbewerb, der aus acht Filmen zusammengesetzt und von einer internationalen Jury bewertet wird. Vier der im Ganzen acht Filme sind überdies in der Longlist des europäischen Filmpreises.

Andrea Staka findet in „Mare“ mit einer ihrer actrices fétiches, der Schauspielerin Marija Skaricic, wieder zusammen. Nach ihrem gemeinsamen Goldenen Leoparden-Gewinnerfilm „Fräulein“ vor über zehn Jahren erzählen sie hier nun die Geschichte der titelgebenden Frau und Mutter Mare. Sie lebt mit Mann und drei mehr oder weniger pubertierenden Kindern und ist eigentlich glücklich. Eigentlich. Ihr Ältester ist gerade besonders schwierig, lässt sich vermehrt beim Rauchen erwischen und formuliert seine Angst, „aus diesem Loch nicht wegzukommen“.

Tatsächlich leben Mare und Familie am südöstlichsten Zipfel Kroatiens, am Meer und dem Flughafen Dubrovnik zur einen Seite sowie den Bergen und der montenegrinischen Grenze zur anderen. Öffnung und Welt, Einengung und die Grenze vor der Tür hinterlassen ihre Spuren. Und wenn dann plötzlich ein netter polnischer Vorarbeiter aufkreuzt, ist die Destabilisierung perfekt.

Die schweizerische Staka, die ihre Wurzeln klar spürbar im porträtierten Kroatien hat, inszeniert in „Mare“ ein Mosaik der conditio Frau mittleren Alters. Feinfühlig und minimalistisch sensibel, wohlwissend, dass ihre Erzählung dramaturgisch ins Sonntagnachmittag-Fernsehterrain abrutschen könnte. Marija Skaricics Schauspiel, Andrea Stakas ruhiges Händchen und der mit Kameramann Erol Zubcevic ausgesuchte 16-mm-Film – alles harmoniert auf schlüssige Art und Weise.

Das körnige Bild setzt die warme, wenn auch karge Berglandschaft am Meer in Szene, die wiederum Skaricics von Sonne und Leben gekerbtes Gesicht in Szene setzt. Stakas Handkamerastil gibt dem Ganzen dank des benutzten Filmmaterials eine fast schon dokumentarische Dringlichkeit, die zu jedem Augenblick in Mares Körper wiedererkennbar ist. Sobald die Kamera angeschaltet war und den Film belichtet hat – davon geht der Autor dieser Zeilen aus –, musste es sitzen. Die Rollen hätten für ewiges Probieren mit der Kamera nicht gereicht.

„Mare“ ist ein Frauenporträt, welches man aus dieser Filmlandschaft in dieser Form nicht oft zu Augen bekommt. Frei von Drama – vielleicht zu frei und zu undramatisch für einige – und fernab der gefürchteten Plattitüden von Soap und Kitsch, stellt Mare Wünsche und Sehnsüchte – auch sexuelle – einer Frau und Mutter in den Mittelpunkt, die von Gesellschaft und Kino des Öfteren ignoriert werden. Und maßt sich mit seinen etwas über 80 Minuten Spielzeit nicht an, definitive Antworten auf seine gestellten Fragen zu geben.

Der Serbe Srdan Golubovic ging unterdessen von sehr dramatischen Ausgangspunkten aus, um seine Filme loszutreten. In seinem neuen Film „Otac“ – „Father“ – zerrt eine Mutter ihre zwei Kinder auf den Hof einer Firma und fordert vor versammelter Arbeiterschaft, dass ihr Mann seinen nicht ausgezahlten Lohn endlich bekommt. Die Familie hungert und die Frau findet keinen Ausweg. Sie zündet sich vor ihren Kindern an. Sie kommt mit dem Leben davon, die Kinder jedoch werden ihr und ihrem Mann weggenommen und in Pflegefamilien gesteckt. Sie landet in einer Psychiatrie. Der Vater Nikola, Tagelöhner, versucht noch sein Haus in Schuss zu bringen, klinkt sich an das Strom- und Wassernetz des Nachbarn, doch die Autoritäten bleiben bei ihrem Beschluss. Nikola entscheidet, mit einem Brief an den Minister ins 300 Kilometer entfernte Belgrad zu spazieren, um so seine Kinder zurückzubekommen.

Minimalistisch

„Otac“ ist genauso minimalistisch wie Mare, fasst seine Themen jedoch völlig anders. Vorab steht das Genre des – wenn auch sehr langsamen – Roadmovies im Mittelpunkt, indem ein stiller Protagonist nicht nur an seine körperlichen Grenzen kommt. Goran Bogdan verkörpert den stoischen Nikola, der im Tunnelblick auf Belgrad zugeht. Auch bei diesem Film riskiert der Regisseur ständig, sein Publikum zu verlieren, passiert an der Oberfläche von Nikolas Reise doch eigentlich recht wenig. Und auch wenn bei Golubovic Serbien noch immer in der Nachkriegszeit steckt, so wird Nikola auf seiner Reise mit dem Tod konfrontiert, als ob es das erste Mal wäre. Das psychologische Porträt von Nikola bleibt ganz bewusst diffus und lässt Freiräume offen.

Golubovic schraubt die Narration aufs Essenzielle und auf die Botschaft herunter: Ein Vater, eine Mutter, Eltern haben unter keinen Umständen ihre Kinder weggenommen zu kriegen. Auch unter schwerstprekären Zuständen. Eine Botschaft, die ganz diametral zu „Capharnaüm“ von Nadine Lasbaski steht (der 2018 in Cannes als Wettbewerbsfilm projiziert wurde) – ein Film, der ganz unverfroren und alles andere als unterschwellig mitteilte: Arme Menschen haben kein moralisches Recht, Kinder zu bekommen.

Die tschechischen und slowakischen Wettbewerbsbeiträge sind im Gegensatz zu den gerade besprochenen Filmen polierter und haben höhere ästhetische Ansprüche. „Sluzobnici“ – „Servants“ – ist ein Film über die Konfrontation von System und Religion im Kommunismus.

Ivan Ostrochovskys dritter Spielfilm erzählt von dieser Gegenüberstellung anhand von zwei jungen Seminaristen, die in der Tschechoslowakei der frühen 80er Jahre Pfarrer werden möchten. Ziemlich schnell stehen sie jedoch vor der Wahl, sich auf die Seite des Staates und der Staatssicherheit zu stellen und ihren Glauben zu opfern oder eben dem staatlichen Maulkorb entgegenzuwirken und ihr Leben aufs Spiel zu setzen.

Thematisch ähnlich geht es in Agnieszka Hollands neuem Film „Sarlatan“ – auf Englisch „Charlatan“ – zu. Der tschechische Schauspielveteran Ivan Trojan spielt die Rolle des von den Kommunisten diabolisierten Arztes Jan Mikolasek, der seine Patienten auf Basis von Urinproben und Kräutermischungen behandelt hat. Ein Dorn im Auge der Kommunisten: Nachdem in den toten Körpern zweier von ihm behandelter Männer Strychnin gefunden wurde, wird Mikolasek verhaftet und vor Gericht gestellt.

Wenn „Mare“ und „Otac“ dem Zuschauer zu viele Freiräume überlassen haben, so ist bei diesen beiden Filmen das Gegenteil der Fall. „Charlatan“ sollte eigentlich bis zum Schluss von der Frage leben, ob der Arzt nun der titelgebende Scharlatan ist oder nicht. Die Verlagerung des Films gegen Ende zum Gerichtsfilm mit sehr vielen Rückblenden verstärkt diese Ansicht. Der Film gibt seinen Zuschauern aber zu keinem Punkt in der Narration wirklich das Gefühl, dass Mikolasek tatsächlich ein Betrüger sein könnte. Dass Mikolasek zum Teil am autistischen Spektrum schrammt – ja, dass er narzisstisch-egoistische Züge an den Tag legt – ja, aber dass er Scharlatanerie betreibt – auf keinen Fall. Der Antagonist ist und bleibt im zeitgenössischen tschechischen und slowakischen Kino im Zweifelsfall immer der Kommunismus.

Die Poesie und das märchenhaft Fabuleske, mit dem sich die Kinolandschaft dieser beiden Länder vor Jahrzehnten einen Namen gemacht hat, macht einer uniformierten Ästhetik Platz, die andere nachäfft. Ostrochovskys Seminaristen agieren in einem Film, der in seinem schwarz-weißen 1.37-Format stark an Paweł Pawlikowskis „Ida“ und „Cold War“ erinnert. Der Kommunismus ist schwarz, grau und nass und die Menschen darin eingeengt und in einer Sackgasse. Und doch ist es wunderschön. Hollands Film ist anzusehen, dass die polnische Regisseurin die letzten Jahre sehr viel im amerikanischen Serienbetrieb gearbeitet hat. Ihre Geschichten sind sauber inszeniert und exekutiert, der Mangel an Budget wird mit einem Hochglanzbild weggepfuscht, sodass amerikanische Vertreiber diesen eigentlich tschechischen Film kaufen. „Charlatan“ lässt sich durchaus schauen, spannendes Kino ist jedoch eher in ihrem Frühwerk – „Spoor“ sollte Mensch gesehen haben – wiederzufinden.

„Charlatan“ von Agnieszka Holland
„Charlatan“ von Agnieszka Holland