„Deutscher Buchpreis“ (2)Alles, aber kein Märchen: Thomas Hettches „Herzfaden“

„Deutscher Buchpreis“ (2) / Alles, aber kein Märchen: Thomas Hettches „Herzfaden“
Thomas Hettche © Joachim Gern

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Thomas Hettche erzählt in „Herzfaden“ die Geschichte einer der bedeutendsten Kulturinstitutionen der Nachkriegszeit. In seinem jüngsten Werk lässt der Autor die Marionettenfiguren der Augsburger Puppenkiste zum Leben erwecken. Was zunächst wie ein amüsant-heiteres Märchen klingt, entpuppt sich als ein Roman, der mit dunklen Motiven der NS- und Nachkriegszeit arbeitet und mit viel Liebe zum Detail aus der Sicht von Hannelore Marschall-Oehmichen die Entwicklung von Oehmichens Marionettentheater umreißt.

Nach einem Besuch einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste läuft ein zwölfjähriges Mädchen ihrem Vater im Foyer davon und gelangt versehentlich durch eine versteckte Tür auf einen dunklen Dachboden. Dass sie damit den fantastischen Raum der lebendigen Marionetten betreten würde, konnte das in der heutigen Zeit lebende Mädchen nicht ahnen. Wie in Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ gelangt es in eine geheimnisvolle Welt, in der die eigentlich tote Hannelore Marschall-Oehmichen zwischen ihren selbstgeschnitzten Puppenfiguren wieder lebendig wird und sich dazu bereit erklärt, dem Mädchen ihre Geschichte und die des Augsburger Marionettentheaters zu erzählen. Dies bildet die Rahmenerzählung von Thomas Hettches Roman „Herzfaden“, der zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2020 steht. Von hier aus lässt der Autor seine Leser*innen zusammen mit dem namenlosen Mädchen in die Welt der realhistorischen und 2003 verstorbenen Figur der Hannelore Marschall-Oehmichen und deren Familie – die Gründer der Augsburger Puppenkiste – eintauchen. Detailreich beschreibt Hettche deren Leben im Augsburg der NS- und Nachkriegszeit und erzählt von der Entstehung der Augsburger Puppenkiste bis in die 1960er-Jahre hinein.

Bombenangriffe, Armut und Judendeportationen

Walter Oehmichen, ehemaliger Oberspielleiter des Augsburger Stadttheaters, wird 1939 zur Wehrmacht einberufen. Seine beiden Töchter Ulla und die jüngere Schwester Hatü muss er zusammen mit seiner Frau Rose Oehmichen, die später auch die Kostüme für die Marionetten näht, zurücklassen. Hält Walter Oehmichen während seiner Zeit als Soldat seine Kameraden nebenbei mit Puppenschauspielen bei Laune, so macht die kleine Hatü währenddessen traumatisierende Kriegserlebnisse, die sie ihr Leben lang prägen: Bombenangriffe, Armut und Judendeportationen stehen auf dem alltäglichen Programm im nationalsozialistischen Augsburg. Die Marionetten und der Puppenschrein des Vaters – der Vorläufer der Augsburger Puppenkiste – lassen sie die schrecklichen Bilder um sich herum etwas vergessen.

Als nach einem schweren Bombenangriff der Puppenschrein der Familie Oehmichen zerstört wird, entschließt der Vater sich nach seiner endgültigen Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft dazu, ein neues Marionettentheater zu gründen: die Augsburger Puppenkiste. Während einige ihn deswegen belächeln und ihn und seine Marionetten für Kinderkram halten, erklärt er die Bedeutung von Kultur und dem Puppentheater in der Nachkriegszeit, in der unterschiedliche Generationen und Menschengruppen die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges mühsam verarbeiten müssen: „Wir müssen die Herzen der Jugend erreichen, die von den Nazis verdorben wurden. Und die Fäden, mit denen wir sie wieder an Kultur anknüpfen, das sind die Fäden meiner Marionetten.“ Damit kommt der Stein ins Rollen – und der Roman erzählt von nun an die Geschichte der Augsburger Puppenkiste und wie Hannelore diese zusammen mit ihrer Familie und ihren Freunden berühmt macht.

Hettche kombiniert in seinem durchaus klar konzipierten Text, der sowohl historische Fakten als auch fiktionale Elemente enthält, einen Adoleszenzroman mit Zeit- und Theatergeschichte und gibt diesen in einem angenehm lesbaren Schreibstil wieder.

Detailreich und liebevoll gestaltet

Auch in seiner Gestaltung erweist sich das Buch als wunderbar durchdacht. Im Roman, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit überlagern, werden die zwei Erzählebenen im Druck farblich voneinander abgesetzt. Während die Geschichte Hatüs in einem tiefen Blaustich erzählt wird, ist die Gegenwartsebene blutrot abgedruckt. Interessanterweise wurden hier die zwei Farben gewählt, in denen auch die Vorhänge des Theaters im Roman gestaltet sind, wobei Hatüs Vater präzisiert, dass der rote Vorhang für das Menschen- und der blaue für das Puppentheater gedacht ist – denn rot ist das Blut der Menschen und blau der Himmel der Marionetten. Der Text von Thomas Hettche wird ebenfalls durch liebevolle und passende Zeichnungen von Puppen und Marionetten ergänzt, die genauso detailreich angelegt sind wie die Geschichte selbst.

Der Herzfaden einer Marionette macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht

Thomas Hettche, Herzfaden

„Herzfaden“, in dem die Marionetten letztlich doch mehr als nur eine Nebenrolle spielen, erzählt nicht nur die bedeutsame Geschichte des real existierenden Augsburger Puppentheaters, sondern ebenfalls die der Familie, die hinter dieser faszinierenden Kulturinstitution steckt. Insbesondere stellt er die Vergangenheit Hannelores in den Fokus und lässt die Puppenschnitzerin zusammen mit ihren Marionetten ein letztes Mal zum Leben erwecken. Obwohl die Thematik der Story keinesfalls märchenhaft ist, gelingt es Hettche mit Marionettenfiguren wie Jim Knopf doch noch, den Leser in eine Welt kindlichen Zaubers zurückzuversetzen.

Cover von Thomas Hettches jüngstem Roman
Cover von Thomas Hettches jüngstem Roman ©  Kiepenheuer & Witsch Verlag