ZentralasienChaostage in Kirgistan: Nach nur einer Nacht stehen die Verhältnisse auf dem Kopf

Zentralasien / Chaostage in Kirgistan: Nach nur einer Nacht stehen die Verhältnisse auf dem Kopf
Demonstranten vor dem Regierungsgebäude in Bischkek: Unter dem Druck massiver Proteste wurde die Parlamentswahl in Kirgistan für ungültig erklärt.  Foto: AP/Vladimir Voronin

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Nach Unregelmäßigkeiten bei der Parlamentswahl kam es zu Unruhen. Oppositionsvertreter wollen Rücktritt von Präsident Scheenbekow erzwingen. Und der befreite Ex-Präsident Almasbek Atambajew sinnt auf Rache.

Nach den nächtlichen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften stellten sich viele in Kirgistan eine Frage: Wer regiert nun das Land? Der abgetauchte Präsident Sooronbaj Scheenbekow, der sich mit einer Videobotschaft an die Öffentlichkeit wendete, vom Versuch einer „illegalen Machtergreifung“ sprach und gleichzeitig versicherte, die Lage sei unter Kontrolle? Oder ist die Macht übergegangen auf die Vertreter mehrerer Oppositionsparteien, die nachts zuvor ihre Anhänger auf den zentralen Ala-Too-Platz gerufen hatten, um gegen das Ergebnis der Parlamentswahl zu protestieren?

Anders als in Belarus, wo seit fast zwei Monaten Hunderttausende gegen Wahlfälschungen auf die Straße gehen und mit harter Reaktion des Sicherheitsapparats rechnen müssen, stehen die Verhältnisse in Kirgistan nach nur einer Nacht auf dem Kopf. Die sechseinhalb Millionen Einwohner zählende Republik in Zentralasien ist bekannt für einen lebhaften politischen Konkurrenzkampf, aber auch für die Schwäche der Zentralgewalt. Und die schien sich am Dienstag sprichwörtlich zu verstecken.

Nächtlicher Sturm auf das „Weiße Haus“

Montagnacht, als die Sicherheitskräfte die zunächst friedliche Kundgebung auflösen wollten, hatten sich Demonstranten zu Wehr gesetzt und schließlich das „Weiße Haus“ gestürmt – ein markantes weißgraues Gebäude, das Parlament und Präsidentenamt beherbergt. Sie verschafften sich Zutritt zu den Amtsräumen, zerstörten Porträts von Präsident Scheenbekow, rissen Flaggen an sich und posierten für Selfies hinter Schreibtischen – Bilder, die an den Umsturz von 2010 erinnerten, als der damalige Präsident Kurmanbek Bakijew aus dem Amt gejagt wurde. Rund 750 Personen wurden verletzt und ein Mensch getötet. Auch andere öffentliche Gebäude und eine TV-Station wurden besetzt; mehrere hohe Beamte traten zurück; Nachfolger aus den Oppositionsreihen wurden ernannt. Am Dienstag demonstrierte man in Bischkek und anderen Städten des Landes zunächst friedlich weiter.

Auslöser der dramatischen Ereignisse war die von Fälschungsvorwürfen begleitete Parlamentswahl vom Sonntag. Zwei dem Staatschef nahe stehende Parteien hatten nach dem offiziellen Resultat knapp 50 Prozent der Stimmen erhalten. Mehrere Oppositionsparteien waren an der Sieben-Prozent-Hürde gescheitert. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hatte milde reagiert. Sie lobte die Organisation der Wahl, sprach aber auch von „glaubwürdigen Vorwürfen“ in Bezug auf Stimmenkauf. Viele in Kirgistan sehen das kritischer.

Parlamentarische Demokratie, aber das System krankt

Politologe Emilbek Schorojew etwa spricht im Gespräch mit dem Tageblatt von „groben Übertretungen“ wie Einschüchterungsversuchen und Manipulation an den Urnen. Die frühere Sowjetrepublik ist – anders als ihre autoritär geprägten Nachbarn – eine parlamentarische Demokratie. Doch das System krankt vielerorts: Politik gilt als schmutziges Geschäft. Parteien sind an Führungsfiguren und ihren Clans ausgerichtet. Abgeordnetensitze sind käuflich. Mit der Wahl wollte Scheenbekow, angeschlagen von Corona- und Wirtschaftskrise, seine Macht konsolidieren. Das ging offensichtlich schief. Der Präsident war am Dienstag verschwunden und in der Defensive. Die Wahlkommission hob das Resultat auf. Der Urnengang soll nun wiederholt werden. „Ein baldiger Termin muss festgesetzt werden, um die Krise zu beenden“, fordert Schorojew.

Scheenbekow, der für die Unregelmäßigkeiten verantwortlich gemacht wird, steht massiv unter Druck. Vertreter der Opposition forderten seinen Rücktritt. Sie haben einen Koordinationsrat für den Machttransit gegründet. Wie der Prozess in Gang gesetzt werden soll, war unklar. Ein Treffen zwischen Scheenbekow und dem nur aus Männern bestehenden Rat fand zunächst nicht statt. Unklar war, wo der Präsident sich aufhält. Von einer „undurchsichtigen Lage“ spricht auch Analyst Schorojew.

Schorojew warnt vor einem Machtvakuum und einem möglichen Blutvergießen als Folge des Umbruchs. Das unabhängige Kirgistan ist von politischer Instabilität geprägt: 2005 erlebte das Land eine Revolution, 2010 einen blutigen Umsturz und ethnische Unruhen. Kirgistans Dilemma bestehe auch darin, dass heutzutage weder Präsident noch Opposition ein breites Vertrauen der Gesellschaft genießen würden. Dass Scheenbekow sich an der Macht halten könne, glaubt Schorojew nicht. „Er kontrolliert das Land nicht. Niemand hört auf ihn.“

Ex-Präsident aus Gefängnis befreit

Offen ist, wie viel politische Weitsicht die Gegenspieler des Präsidenten beweisen. Eine Schlüsselrolle spielt Ex-Präsident Almasbek Atambajew. Atambajew wurde Montagnacht unter dem Jubel seiner Anhänger aus einem Geheimdienstgefängnis befreit. Ebenso wie andere Ex-Politiker kam er praktisch ohne Widerstand der Polizeikräfte frei. Im Juni war Atambajew wegen Korruption zu elf Jahren Haft verurteilt worden; ihm werden weitere Vergehen zur Last gelegt. Atambajew gilt als der politische Ziehvater des eher farblosen Scheenbekows, der sich nach seiner Wahl zum Staatschef 2017 bald von diesem lossagte.

Atambajew wurde politisch demontiert und schließlich im Sommer 2019 in einer spektakulären Polizeioperation festgenommen. Im Fahrwasser des Aufruhrs will er wieder die kirgisische Politik bestimmen. Schorojew ist skeptisch, ob er auf die Unterstützung der Bürger zählen kann: „Man will ihn nicht in offizieller Rolle sehen. Viele denken, dass er seine Strafe verbüßen sollte.“