Editorial34 Prozent: Wieso Noel Gallagher heute Pizzalieferant wäre

Editorial / 34 Prozent: Wieso Noel Gallagher heute Pizzalieferant wäre
34 Prozent der britischen Musiker spielen mit dem Gedanken, ihren Beruf an den Nagel zu hängen  Foto: dpa/PA/Sean Dempsey

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Was genau der Lockdown und die Pandemie mit unserer Psyche machen, wird sich erst im Laufe der nächsten Jahre herausstellen. Der Kultursektor ist bereits jetzt einer psychisch gefährlichen, beruflich aber unabdingbaren Schizophrenie verfallen. Zurzeit wird eifrig geplant, gewerkelt, vorbereitet: Endlich werden wieder Kostüme genäht, Texte verfasst, Bühnen bespielt. Das kulturelle Angebot ist reichhaltiger denn je: Ein kleines Theaterhaus wie das TOL hatte zwei Uraufführungen innerhalb von fünf Tagen (üblicherweise vergehen zwischen zwei TOL-Premieren ca. zwei Monate), die Wochenenden sind prall gefüllt mit „Rentrée“-Programmen, die oftmals auf Restbestände der zwischen März und Juli abgesagten Spielzeitprogramme zurückgreifen, der „Printemps des poètes“ rivalisierte vergangenes Wochenende mit dem „TalentLAB Goes Fëschmaart“ und dem „Connections“-Projekt im Mamer Kinneksbond – und auch in Esch soll das kommende Wochenende zum Fest für Theater- und Kunstbegeisterte werden.

Wer sich das alles ansehen soll – das ist eine berechtigte Frage. Der kulturelle Überfluss verbirgt aber eine besorgniserregende Gegebenheit: Hält der Kulturschaffende für einen Moment inne, stellt er fest, dass er zwar wieder arbeiten darf, jedoch weiterhin ins Ungewisse hineinplant, weil er keinen blassen Schimmer hat, ob seine kreative Arbeit irgendwann auch wirklich auf der Bühne umgesetzt wird – und dass er weiterhin Kollegen hat, die überhaupt nicht arbeiten dürfen.

Denn: Wie viele der kommenden Produktionen werden wirklich, sollten die Infektionszahlen im Herbst und Winter weiter in die Höhe schnellen, aufgeführt? Wann werden wir wieder in den Genuss von Aufführungen in den kleinen, zurzeit heimatlosen Theaterhäusern kommen, deren Räumlichkeiten immer auch ein wichtiger Bestandteil der Atmosphäre oder gar der Inszenierung sind? Wann werden die Konzerthallen wieder funktionstüchtig sein, wann werden Musiker wieder „richtige“ Konzerte geben? Wie lange kann ein Privatunternehmen wie „den Atelier“ noch überleben – eine kleine Konzerthalle, die ihren Charme und ihr wirtschaftliches Wohlbefinden daraus zieht, dass Menschen inmitten von Bier- und Schweißgeruch auf engstem Raum neben- und miteinander tanzen? Werden sich die Konzertgänger nicht irgendwann an biedere Sitzkonzerte gewöhnen – und vergessen, dass solche Events nie und nimmer rentabel sind? Wieso dürfen Flugzeuge ihre Aufnahmekapazität ausschöpfen, Kulturhäuser jedoch nicht? Wie fühlt es sich für Kulturschaffende an, wenn ihnen täglich ihre wirtschaftliche Unbedeutsamkeit ins Gesicht fliegt?

In der UK gedenken zurzeit 34 Prozent aller Musiker, ihren Beruf an den Nagel zu hängen. Viele britische Musiker arbeiten in Supermärkten oder liefern Essen aus. Ihre Zukunft ist ungewiss. Seit Margaret Thatcher ist das Vereinigte Königreich ein wirtschaftlich und sozial kaputtes, dafür aber aufgerütteltes Land. Das Gute daran: Die Briten produzieren seit Jahrzehnten tolle, spannende, wütende Musik.

Ich schlage folgendes Gedankenexperiment vor: Versetzen Sie sich in Ihr präferiertes musikalisches Jahrzehnt. Hören Sie sich den stoischen Post-Punk der 80er, den Britpop der 90er oder den stürmischen Indie-Rock der 2000er an. Denken Sie an die tollen Bands, die Großbritannien in diesen Jahren hervorgebracht hat – Joy Division, The Cure, Oasis, Pulp, Blur, Radiohead, Massive Attack, The Libertines, Bloc Party oder die Arctic Monkeys, um nur einige der bekannteren davon zu nennen. Stellen Sie sich vor, ein Drittel dieser Bands hätten nie existiert. Und das nächste Mal, wenn Ihnen jemand sagt, Kultur sei zweitrangig, denken Sie daran, dass Noel Gallagher heute vielleicht Ihr Pizzalieferant wäre oder der Uber-Fahrer, der Sie zum Big Ben bringt, Thom Yorke heißen könnte.

Andre
15. Oktober 2020 - 15.25

Ist die Vorstellung, je schlechter es einem Land und den Menschen geht, desto bessere, authentischere Künstler bringt es hervor, nicht ein Mythos? Wenn ich zwei Jobs haben muss und bis nachts hinter der Kasse oder im Lager malochen muss, schreibe ich nicht nebenbei noch geile Songs. Egal, wie jung und wütend ich bin. Noel Gallagher hat seine größten Songs geschrieben, als er arbeitslos war. Als er vom Sozialsystem unterstützt wurde. Und als er unterbezahlter Roadie einer alternativen kleinen Band sein konnte. So etwas geht doch nur, wenn es einem Land einigermaßen gut geht, oder?

Gross
2. Oktober 2020 - 17.55

Lieber nicht, die Pizza wäre eiskalt wenn diese Pappnase sie liefern würde.

J.C.Kemp
30. September 2020 - 15.49

So sehr ich Thom Yorke mag, als Uber-Fahrer wollte ich ihn nicht haben. Der Mann hat nämlich wegen Augenproblemen (lazy eye syndrome) keinen Führerschein. ;-)

Theo
30. September 2020 - 13.26

"In der UK gedenken zurzeit 34 Prozent aller Musiker, ihren Beruf an den Nagel zu hängen. Viele britische Musiker arbeiten in Supermärkten oder liefern Essen aus." Also genau wie Schauspieler. Das ist seit ewigen Zeiten Usus im Amusementbusiness.

Knutschfleck
30. September 2020 - 10.25

Also wenn ich mir vorstelle dass Joy Division, The Cure, Oasis, Blur, Radiohead, Massive Attack, Libertines oder Bloc Party nie existiert hätten, dann würde ich einigen Songs nachtrauern, dem Hype um die Bands bzw. dem Personenkult jedoch absolut nicht. Vielleicht bin ich aber auch anormal, ich höre viel Musik, hatte aber nie ein Poster in meinem Zimmer hängen.