NachrufVon Jugend an der Wahrheit auf der Spur: Zum Tod des legendären Journalisten Harry Evans

Nachruf / Von Jugend an der Wahrheit auf der Spur: Zum Tod des legendären Journalisten Harry Evans
Enkel eines Analphabeten und Sohn eines Rangierarbeiters: Harry Evans legte eine beachtliche Karriere hin Foto: WikiCommons

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Seine Besessenheit mit der Wahrheit und ihrer Wiedergabe in den Medien hat Harry Evans stets auf einen Strandspaziergang mit seinem Vater zurückgeführt. Im Frühsommer 1940 begegnete ihnen eine Gruppe erschöpfter, heruntergekommener Männer – Überreste der hastigen Evakuierung der britischen Armee aus dem französischen Kanalhafen Dünkirchen.

Die Zeitungen hatten die Rettung der knapp 340.000 Soldaten vor dem Zugriff der Hitler-deutschen Armee wie einen Sieg gefeiert und behauptet, die Überlebenden würden gern rasch an die Front zurückkehren. Von wegen, lernten Vater und Sohn Evans bei ihrer Befragung der Zeitzeugen: Die Männer waren bitter über den Mangel an Waffen und zeigten keinerlei Kriegsbegeisterung.

„In diesem Moment wusste ich, dass ich Reporter werden und die Wahrheit herausfinden wollte“, berichtete Evans, der am Mittwoch 92-jährig in New York gestorben ist, in einem langen BBC-Interview anlässlich seines 90. Geburtstages. Reporter wurde der Enkel eines Analphabeten und der Sohn eines Rangierarbeiters tatsächlich, und noch viel mehr: Von der Pike auf arbeitete sich Evans hoch, war mit 32 Chefredakteur der größten englischen Regionalzeitung, übernahm bald die Londoner Sunday Times und wurde einer der Väter des modernen investigativen Journalismus auf der Insel. Zwei Generationen von Reportern zählten ihn zu ihren Vorbildern, die Queen schlug ihn 2004 zum Ritter als „Sir Harold“.

Mit ernsten Themen auf populäre Weise umgehen

Ohne diesen charismatischen Mann werde die Welt „ein viel langweiligerer Ort“ sein, teilte Bestseller-Autor Robert Harris („Fatherland“, „Vergeltung“) am Donnerstag mit. Der frühere Guardian-Boss Alan Rusbridger nannte Evans den „Chef, der wir alle sein wollten – mutig, aufgeklärt und zäh“. Den „besten Chefredakteur seiner Generation“ nannte ihn der konservative Publizist Andrew Neil („Spectator“). In einer Umfrage unter Journalisten zu Beginn des Jahrhunderts war Evans sogar in berufsbedingter Übertreibung zum „größten Chefredakteur aller Zeiten“ gekürt worden.

Bei aller Liebe zur Wahrheit – Evans wusste auch, dass die Medienbranche zur Unterhaltungsindustrie zählt. Wo immer er das Ruder übernahm, wurden die Titelseiten abwechslungsreicher, Überschriften und Fotos größer. Nie aber ging dies zulasten des Inhalts. Eine Qualitätszeitung, fand der mit dem Prinzip der strikten Trennung zwischen Nachricht und Kommentar Großgewordene, solle mit ernsten Themen auf populäre Weise umgehen und populäre Themen ernst behandeln.

Die Dinge liegen meist nicht so, wie es an der Oberfläche aussieht. Grab’ tiefer, tiefer, tiefer. Und finde, verdammt noch mal, die Fakten heraus.

Als 16-Jähriger erhielt seinen ersten Job bei einem Wochenblatt im nordenglischen Ashton-under-Lyne; zum Arbeitsplatz und zurück radelte er täglich 45 Kilometer. Mitte der 1950er Jahre ermöglichte ein großzügiges Stipendium dem aufstrebenden Jungreporter zwei Jahre Aufenthalt in den USA. Seinen wichtigsten Eindruck fasste er im BBC-Interview so zusammen: „Die Kollegen dort wurden als Menschen angesehen und ernst genommen, nicht so wie wir in England als Halbwilde, die der Oberschicht zur Last fallen.“ Damit einher ging bei lokalen und regionalen Zeitungen eine penible Überprüfung von Fakten – und die Neugierde, den Vorgängen vor Ort wirklich auf den Grund zu gehen. „Das hat mich enorm beeindruckt.“

Berichten über Contergan möglich gemacht

Als Leiter des Northern Echo im nordenglischen Darlington setzte Evans das Gelernte um. Seine Zeitung setzte sich für die bis dahin unüblichen Routinetests gegen Gebärmutterhalskrebs ein, warb hartnäckig um Hilfe für die mit Missbildungen zur Welt gekommenen sogenannten Contergan-Kinder und deren Eltern. Mehrfach geriet der Chefredakteur in Konflikt mit den drakonischen Verleumdungsgesetzen auf der Insel, die bis heute reichen Schwindlern und Schurken Schutz bieten. Zur Sunday Times gewechselt, erzwang Evans vor dem Europäischen Menschengerichtshof die Preisgabe der Geheimhaltung bei Zivilprozessen auf der Insel – erst damit war der Weg frei für eine umfassende Berichterstattung über den Contergan-Skandal, die den Weg zu Ausgleichszahlungen für die Opfer freimachte.

Als der Medienzar Rupert Murdoch 1981 die von der Schließung bedrohte Times-Gruppe übernahm, machte Evans zunächst mit dem Australier gemeinsame Sache und wurde mit dem prestigeträchtigen Chefsessel bei „The Times“ belohnt. Doch die Freude währte kaum ein Jahr: Dem fanatischen Unterstützer der Tory-Premierministerin Margaret Thatcher war der liberale Wahrheitskämpfer zu lahm, Evans musste weichen.

Er wich aus über den Atlantik: Der Mann von Mitte 50, in zweiter Ehe mit einer 25 Jahre jüngeren Kollegin verheiratet, siedelte nach New York über. „Dort war ich der Mann von Tina Brown“, scherzte Evans später – seine Frau machte als Chefredakteurin von „Vanity Fair“ und „New Yorker“ Furore. Der Zeitungsmann Evans gründete das Reisemagazin „Conde Nast Traveler“, wurde später Publizist beim Verlagsgiganten Random House. Am Ende seines Lebens diente er der Nachrichtenagentur Reuters als Editor-at-Large.

Wie er das Geheimnis seines Gewerbes definiere, ist Evans immer wieder gefragt worden. Die Antwort bleibt gültig über die versunkene, beinahe märchenhafte Zeit von Bleisatz, Zeitungen mit fünf Ausgaben täglich und Millionenauflagen hinaus: „Die Dinge liegen meist nicht so, wie es an der Oberfläche aussieht. Grab’ tiefer, tiefer, tiefer. Und finde, verdammt noch mal, die Fakten heraus.“