WissensgesellschaftWelche Bedeutung Forschung und Wissen heute für Luxemburg haben

Wissensgesellschaft / Welche Bedeutung Forschung und Wissen heute für Luxemburg haben
Die Universität auf Esch/Belval Foto: Editpress/Isabella Finzi

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Luxemburg ist auf dem Weg, eine Wissensgesellschaft zu werden. So heißt es jedenfalls hin und wieder. Auch wir haben das bereits behauptet. Ist Luxemburg eine Wissensgesellschaft? Und was bedeutet das? Diesen Fragen wollen wir nachgehen.

Vor nicht allzu langer Zeit war Esch-Belval eine Industriebrache. Heute ist das Viertel die Heimat der Universität, von Forschungszentren und einer ganzen Reihe von Start-ups. Stillgelegte Hochöfen und moderne Bauten aus Glas und Beton stehen dicht an dicht. In der Universitätsbibliothek verschmelzen die zwei Epochen der Luxemburger Geschichte geradezu. Das Gebäude des renommierten Architektenbüros Valentiny integriert die Überreste der Geschichte in das hochmoderne sonnengeflutete Gebäude.

Belval ist auf viele Arten ein Spiegel Luxemburgs. Auf der einen Seite hängt das Land an seiner Geschichte als Stahlnation, wie die restaurierten Schornsteine zeigen. Auf der anderen Seite setzt das Land auf Innovation. Wo früher, und nebenan im Elektrostahlwerk immer noch, körperlich geschuftet wurde, werden heute geistige Leistungen vollbracht.

Die Universität Luxemburg wurde 2003 gegründet. Seitdem ist sie kontinuierlich gewachsen und hat auf Belval eine neue Bleibe gefunden. Sie ist die Heimat von fast 6.500 Studenten aus 125 Ländern, 242 Professoren und etwa 850 Forschern. Die Studiengänge sind oft mehrsprachig oder komplett auf Englisch.

Das Oberhaupt der Universität ist ihr Rektor Stéphane Pallage. Sein Büro hat er in einer der oberen Etagen in der „Maison du savoir“, dem Haus des Wissens. So heißt das Hauptgebäude der Universität. „In erster Linie ist die Wissensgesellschaft ein Traum“, sagt Pallage. Ein Traum, den wir seit der Renaissance träumen, von einer Gesellschaft, in der die Wissenschaften jedem zugänglich sind und in der alle Entscheidungen – ob politisch oder andere spielt keine Rolle – auf der Basis von durch Experten belegten Fakten getroffen werden. Es ist eine erleuchtete Gesellschaft. Pallage muss selbst ein wenig über diese Worte lachen. Er ist aber überzeugt, dass Luxemburg schon weit gegangen ist auf dem Weg zur Wissensgesellschaft.

Auf allen Ebenen wird investiert

Die Zahl der Studierenden in Luxemburg ist laut der Statistikbehörde Statec von 2.925 Personen im Schuljahr 2005/06 auf 7.109 im Schuljahr 2018/19 angestiegen. Der Löwenanteil der Studierenden ist an der Universität von Luxemburg eingeschrieben. Daneben gibt es die Studierenden, die eine Formation du brevet de technicien supérieur (BTS) machen.

Pallage, der vor drei Jahren nach Luxemburg gekommen ist – er bezeichnet sich selber als „néo-luxembourgeois“ –, hatte das Land davor zuletzt in den 80er Jahren besucht. „Luxemburg hat sich mit einer schwindelerregenden Geschwindigkeit in Richtung der Wissensgesellschaft entwickelt“, findet er. Auf allen Ebenen werde in die Bildung investiert und besonders viel Geld fließe in die Forschung.

Im luxemburgischen Staatshaushalt 2019 wurden 194 Millionen Euro für die Universität veranschlagt. Im selben Haushalt sind 163 Millionen Euro für Forschung und Entwicklung vorgesehen. Das Geld wurde zum größten Teil auf die Forschungseinrichtungen „Luxembourg Institute of Science and Technology“ (LIST), Luxembourg Institute of Health (LIH) und „Luxembourg Institute of Socio-Economic Research“ (Liser) aufgeteilt.

Pallage glaubt, dass die Gründung der Uni einen beschleunigenden Effekt auf die Wissensgesellschaft hatte. „Ich war damals nicht dabei, aber ich glaube, dass die Schöpfer der Uni diese Vision bereits hatten“, sagt Pallage. Er unterstreicht besonders die Rolle von Erna Hennicot-Schoepges, die die Rolle der Forschung und Bildung in Luxemburg habe vorantreiben wollen. Dabei sei der Universität eine große Unabhängigkeit garantiert worden. Das sei unerlässlich für die Glaubwürdigkeit der Forschung.

 Grafik: Tageblatt

Forscher dienen der Gesellschaft

In seinem 1973 in den USA erschienenen Buch Die nachindustrielle Gesellschaft schreibt Daniel Bell: Die nachindustrielle Gesellschaft ist in zweifacher Hinsicht eine Wissensgesellschaft: einmal, weil Neuerungen mehr und mehr von Forschung und Entwicklung getragen werden (oder unmittelbarer gesagt, weil sich aufgrund der zentralen Stellung des theoretischen Wissens eine neue Beziehung zwischen Wissenschaft und Technologie herausgebildet hat); und zum anderen, weil die Gesellschaft – wie aus dem aufgewandten höheren Prozentsatz des Bruttosozialproduktes und dem steigenden Anteil der auf diesem Sektor Beschäftigten ersichtlich – immer mehr Gewicht auf das Gebiet des Wissens legt.

In Luxemburg leben und arbeiten mittlerweile Tausende von Forschern. Aber die meisten Menschen, die hierzulande leben und arbeiten, sind keine Forscher. „Die Forscher stehen im Dienst der Gesellschaft“, sagt Pallage. Forscher sollen nicht in ihren Laboren hinter verschlossenen Türen arbeiten. Daran glaubt der Unidirektor. Sie müssen sich der Öffentlichkeit hingeben. „Früher waren manche Universitäten Elfenbeintürme. Unsere war das nie.“ Eine Universität könne sich so etwas heute nicht mehr erlauben. „Das Wissen, das an Universitäten entwickelt wird, muss der Gesellschaft dienen“, unterstreicht Pallage.

Die Wissenschaft in Luxemburg genießt ein hohes Maß an Vertrauen. 89 Prozent von 600 befragten Personen gaben an, dass sie Informationen aus der Forschungsgemeinschaft Vertrauen schenken. Das geht aus einer Studie hervor, die der Luxembourg National Research Fund (FNR) 2019 veröffentlichte. 61 Prozent der 600 befragten Personen sagten, sie seien stark oder mittelmäßig an Forschung interessiert. Das Interesse hat im Vergleich zu früheren Studien tendenziell zugenommen. Viele Menschen fühlen sich jedoch schlecht über das Forschungsgeschehen in Luxemburg informiert. 70 Prozent forderten, besser informiert zu werden.

Die Ergebnisse der Wissenschaft werden von der Privatwirtschaft genutzt und zu Geld gemacht. Das Wirtschaftswachstum kommt den Menschen zugute, sagt Pallage. Forschung, zum Beispiel auf dem Gebiet der Nachhaltigkeit, nutze aber auch den Menschen und zukünftigen Generationen direkt. „Mit ein und derselben Forschung kann man alle Zielgruppen erreichen“, glaubt Pallage. Covid mache die Bedeutung der Forschung im Dienst der Gesellschaft noch einmal deutlich. Unter anderem die Universität hat ihre Forscher in den Dienst der Gesundheit der Bürger gestellt. Durch ihren Rat und den von vielen anderen Experten aus der Gesellschaft können Politiker informierter Entscheidungen treffen.

Die Hälfte der Bevölkerung verlangt nach mehr

„Für mich ist ein Forscher jemand, der in seinem Bereich für das Wohl der Gesellschaft arbeitet. Er muss nah an den Menschen dran sein“, sagt Pallage. „In Nordamerika, wo ich herkomme, sind Professoren sehr informell. Ich glaube, wir brauchen unbedingt diese Nähe innerhalb der Uni, aber auch nach außen hin.“

Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung betrugen laut der OECD 2018 rund 1,2 Prozent des luxemburgischen Bruttoinlandproduktes. Das schließt sowohl die staatlichen wie die privaten Investitionen ein. Damit erreicht Luxemburg das von der EU angestrebte Drei-Prozent-Ziel nicht. Das Großherzogtum liegt damit auch hinter allen Nachbarländern und dem Durchschnitt der OECD-Mitgliedstaaten. Eine Erklärung ist der große Dienstleistungssektor in Luxemburg, der weit weniger forschungsintensiv ist als zum Beispiel die Autoindustrie. In der oben genannten Studie des FNR wünschten sich 48 Prozent der Befragten, der Staat solle mehr in die Forschung investieren.

Von der Wissensgesellschaft überzeugt ist auch Georges Santer vom Luxemburger Industrieverband Fedil. Früher habe Luxemburg auf importiertes Wissen gesetzt, erinnert sich Santer. Spätestens mit der Gründung der Forschungszentren und der Universität habe sich das geändert. Man habe erkannt, dass Wissen ein wichtiger Faktor für das Land und seine wirtschaftlichen Aktivitäten ist.

Heute reiche es nicht aus, sich auf Nischen und Expertenwissen aus dem Ausland zu verlassen, sagt Santer. „Wir haben erkannt, dass wir gut ausgebildete Leute brauchen, wenn wir wirtschaftlichen Erfolg haben wollen.“ Deshalb sei es von enormer Bedeutung gewesen, die Universität auf die Beine zu stellen und junge Menschen so anzuregen, ein Hochschulstudium zu absolvieren.

Unternehmen suchen Expertise im Inland

Santer glaubt, dass die Unternehmen in Zukunft möglichst nahe mit der Universität und den Forschungszentren zusammenarbeiten müssen. Damit die Wirtschaft sich weiterentwickeln und modernisieren kann, brauche sie das Wissen der Forscher und gut ausgebildete Mitarbeiter. Bereits jetzt zeichne sich ein engeres Verhältnis ab. „Früher gingen die Unternehmen zu renommierten Forschungszentren mit viel Expertise im Ausland. Heute arbeiten Unternehmen immer stärker mit Luxemburger Forschungszentren zusammen. Das ist sehr positiv.“

Luxemburg ist die Heimat von zahlreichen Unternehmen, die vor 20 Jahren noch als Science-Fiction abgetan worden wären. Darunter sind Firmen, die Satelliten zur Erdobservation entwerfen und steuern, auf dem Mond nach Eis suchen oder mittels künstlicher Intelligenz Musik komponieren.

Wissen entsteht aber auch in der Industrie selber. Santer nennt als Beispiel den Reifenhersteller Goodyear, der neben seiner Produktionsstätte eines seiner größten Forschungszentren außerhalb der USA hierzulande betreibt. Die Produktion und Forschung an einem Standort zu haben, macht in Santers Augen Sinn. Bange wird ihm, wenn er nach China guckt. „Wenn man sieht, wie viele Ingenieure und sonstige gut ausgebildete Leute dort jedes Jahr auf den Markt kommen, ist das schon erschreckend.“ Luxemburg dürfe sich auf keinen Fall auf seinen Lorbeeren ausruhen. Eine Herausforderung sei es aus Sicht der Fedil, die jungen Menschen dazu zu bewegen, nicht nur Jura und BWL zu studieren, sondern auch Naturwissenschaften und die Ingenieurskunst. Die Unternehmen stünden vor zwei großen Herausforderungen: der Energiewende und dem digitalen Wandel. Um sie zu meistern, brauchen sie kompetente und gut ausgebildete Mitarbeiter. Santer glaubt, dass hier nicht nur die Universitäten gefragt sind, sondern auch die Gymnasien und die Unternehmen selber.

In seinen Überlegungen zur Wissensgesellschaft schließt Daniel Bell jedoch nicht nur Forschung und Entwicklung ein. Erziehung, Kommunikationsmedien, Informationsmedien, Informationsgeräte und Informationsdienste zählen für ihn genauso dazu. Im luxemburgischen Staatshaushalt 2019 wurden 2,5 Milliarden Euro (14,2%) dem Bildungsministerium zugeteilt.

Rahmen und Risiko

Etwas Neues zu schaffen, ist oft mit Risiken und hohen Investitionen verbunden. IT-Infrastruktur zu schaffen, ist teuer. Einen Weltraumsektor aufzubauen, ist riskant. Eine Wissensgesellschaft aufzubauen, muss durchdacht sein. Alles auf eine Karte setzen wie in der Vergangenheit allzu oft dürfe man das nicht mehr, glaubt Santer. Auch eine Wissensgesellschaft muss eine breite Palette abdecken. Santer glaubt, dass die Politik aktiv einen Rahmen stecken kann, um zum Beispiel junge Talente auf das Großherzogtum aufmerksam zu machen, die merken sollen, dass man hier auch anderen Aktivitäten nachgehen kann als der Juristerei und der Betriebswirtschaft.

Die Regierung wirbt mit der Internetseite innovation.public.lu um Forscher und Firmengründer mit innovativen Ideen aus dem Ausland. Dabei führt sie zehn Branchen an, in denen Luxemburg besonders innovativ ist. Sie reichen von der Automobilbranche über Holzverarbeitung hin zur Weltraumindustrie.

„In meinen Augen ist Luxemburg bereits eine Wissensgesellschaft“, sagt Santer mit Verweis auf den hohen Lebensstandard. „Ein so hohes BIP zu erwirtschaften, ist nur möglich, wenn man eine Wissensgesellschaft ist und über gut ausgebildete Arbeitskräfte verfügt.“ Luxemburg habe realisiert, dass es den Bankenplatz nicht bis in alle Ewigkeit als „Cashcow“ benutzen kann.