InklusionDie Frage nach einer Bus-Begleitperson für Menschen mit Behinderung entscheidet über Leben und Tod

Inklusion / Die Frage nach einer Bus-Begleitperson für Menschen mit Behinderung entscheidet über Leben und Tod
Unterwegs in die Inklusionswerkstatt oder die Schule sind Busfahrer alleine mit Menschen mit Behinderung. Dabei kommen sie regelmäßig in Situationen, für die sie weder geschult wurden, noch die Verantwortung tragen sollten. Foto: Editpress-Archiv

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Menschen mit Behinderung werden meist mit dem Bus zur Schule oder zur Arbeit in einer Inklusionswerkstatt gebracht. Unterwegs sind sie alleine mit dem Busfahrer – der in Situationen geraten kann, die ihn überfordern. Besorgte Eltern und Gewerkschaften fordern schon länger eine geschulte Begleitperson während des Transports. Doch Familien-, Mobilitäts- und Bildungsministerium werden sich nicht einig. Und nehmen sich Zeit, die manch andere nicht haben.

Erst gestern musste der kleine Tristan Loutsch per Hubschrauber ins Krankenhaus gebracht werden. Er hat einen epileptischen Anfall im Bus erlitten und es war niemand da, der ihm schnellstmöglich sein Medikament hätte verabreichen können. „Wir fangen wieder genauso an, wie wir vor den Sommerferien aufgehört haben“, sagt sein aufgelöster Vater im Telefongespräch mit dem Tageblatt. Beim ersten Interview am frühen Donnerstagnachmittag war noch alles in Ordnung. Seine Angst, seinen Sohn wieder in den Bus zu setzen, hat sich nur wenige Stunden später bestätigt.

Schon im Juli berichtet das Luxemburger Wort vom Fall des kleinen Tristan Loutsch. Der Vierjährige leidet am Syndrom der Alternierenden Hemiplegie, kurz AHC, einer komplexen neurologischen Krankheit. Sie führt dazu, dass der Junge weder laufen noch sprechen kann und nicht sauber ist. Tristan erleidet regelmäßig epileptische Anfälle. „Dann gilt es schnell zu handeln und ihm die richtigen Medikamente zu geben. Sonst können die Anfälle Langzeitschäden verursachen“, sagt der alleinerziehende Vater André Loutsch.

Busfahrer sind keine Begleitpersonen

Tristan besucht dreimal die Woche das „Centre pour le développement moteur“, kurz CDM, in Strassen und zweimal die Woche die „Ecole précoce“ in Redingen/Attert. An beiden Orten ist immer eine Person in seiner Nähe, die schnelles Handeln garantiert. Unterwegs dahin ist das anders – und genau da liegt das Problem.

Den Transport übernimmt der Spezialbusdienst „Capabs“ („Transport complémentaire d’accessibilité pour personnes à besoins spécifiques“). Die einzige erwachsene Person, die bei der mindestens 45-Minütigen Fahrt dabei ist, ist der Busfahrer – und der muss bekanntlich auf die Straße achten. Außerdem fällt es nicht in den Kompetenzbereich von Busfahrern, sich um Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung zu kümmern. Eine Ausbildung hierfür bekommen sie nicht wirklich.

Der kleine Tristan besucht das CDM seit Februar dieses Jahres und hat bereits vor den Sommerferien mehrmals epileptische Anfälle im Bus erlitten. Viermal musste sein Vater ihn bewusstlos aus dem Sitz holen. Einmal war sein Zustand derart kritisch, dass der Junge ins Krankenhaus eingeliefert und intensivbehandelt werden musste. Gestern war es dann so schlimm, dass der Hubschrauber kommen musste.

Solche Situationen sind kein Einzelfall, weiß Martine Eischen, Präsidentin der „Trisomie21 asbl“ und Mutter einer Tochter, die mit dem Downsyndrom lebt. Besonders erschreckend findet sie es, dass Grundschulkinder im gewöhnlichen Schulbus immer von einem Erzieher begleitet werden – Kinder mit einer Behinderung dagegen nicht. „Dabei sieht die UN-Behindertenrechtskonvention gleiche Behandlung für alle vor“, sagt Eischen. Sie sieht darin eine flagrante Diskrimination. 

Drei Stunden lang verschwunden

Erst vor zwei Wochen hat sie selbst einen nervenaufreibenden Vorfall mit ihrer 22-jährigen Tochter Catalina erlebt. In der Regel kommt die nämlich zwischen 16.50 und 17.30 Uhr mit dem „Capabs“-Bus zu Hause an. „Als sie um 17.45 Uhr immer noch nicht da war, habe ich das Busunternehmen kontaktiert“, berichtet Eischen. Die Person in der Zentrale versprach, beim Busfahrer nachzuhaken und sich dann zu melden. Das tat sie nicht, sodass die extrem besorgte Mutter zehn Minuten später wieder anrief. „Dann wurde mir gesagt, meine Tochter sei weder auf der Arbeit noch im Bus gewesen.“ Eigentlich unmöglich, da Eischen ihre Tochter noch morgens selbst in den Bus gesetzt hatte.

Nach einigem Hin und Her schickte das Busunternehmen jemanden in die Garage, in der die Busse abends abgestellt werden, um nachzusehen – und da lag Catalina. Eingesperrt im Bus, der Fahrer war nach Hause gegangen, ohne die Sitze zu kontrollieren. „Zum Glück hat meine Tochter die ganze Zeit über geschlafen und kein Trauma davongetragen“, sagt Martine Eischen. Knapp drei Stunden war ihre Tochter verschwunden. Der Mutter steckt der Schreck immer noch in den Knochen. Vor allem, weil es nicht das erste Mal war.

Ein anderes Mal hat der Busfahrer ihre Tochter an der falschen Adresse, bei ihrem Vater, herausgelassen und nicht gewartet, ob irgendjemand ihr die Tür öffnet. Der Vater war nicht zu Hause, sodass Catalina abends um 22.00 Uhr alleine auf der viel befahrenen Hauptstraße saß. „Zum Glück konnte ich mir ausmalen, wo sie ist, und bin sofort hingefahren“, sagt Eischen. Nach einigem Rufen kam Catalina dann aus dem dunkeln Treppenhaus, in das sich die 22-Jährige verzogen hatte.

Mit solchen Situationen überfordert

Auch Joël Delvaux, der für die Abteilung behinderter Arbeitnehmer des OGBL zuständig ist, kennt solche Vorfälle. „Vergleichbare Situationen sind in den vergangenen Jahren immer mal wieder vorgekommen“, sagt er. Den Busfahrern werde zwar eine eintägige Schulung angeboten, dabei gehe es allerdings mehr darum, zu lernen, wie ein Rollstuhl sicher im Bus fixiert wird. „Ihnen wird nicht beigebracht, wie sie mit Menschen mit mentalem oder körperlichem Handicap umgehen“, sagt Delvaux. Dadurch seien sie mit manchen Situationen überfordert. „Es ist auch nicht seine Aufgabe, einen Begleitungsdienst zu garantieren“, betont Delvaux.

Die Abteilung behinderter Arbeitnehmer des OGBL führe schon seit zehn Jahren immer wieder Gespräche mit dem Mobilitätsministerium und fordern eine Begleitperson bei den Fahrten des „Capabs“. Das Thema sei vor allem eine Frage der Zuständigkeit, die unbedingt geklärt werden müsse. „Das Mobilitätsministerium sagt, es könne keinen zusätzlichen Dienst für Begleiter öffnen“, sagt Delvaux. In Deutschland seien es Vereinigungen wie „Aktion Mensch“ oder die Caritas, die je nach Bundesland Begleitpersonen zur Verfügung stellen. Delvaux bedauert es, dass die Busfahrer nach solchen Vorfällen meist die Leidtragenden sind, denen eine Standpauke gehalten oder sogar gekündigt wird. „Dabei ist es in den meisten Fällen nicht oder nicht nur ihre Schuld.“

Drei Ministerien und die Frage der Zuständigkeit

Mitte Juli hatten die CSV-Abgeordneten Françoise Hetto und Martine Hansen eine parlamentarische Frage zu diesem Thema eingereicht. Ihren Informationen zufolge würden sich das Transportministerium, das Bildungsministerium und das Familienministerium gegenseitig den Ball zuspielen und zu keiner Einigung kommen, wer denn nun zuständig ist. Hetto und Hansen wollten demnach wissen, ob die drei Ministerien keine Notwendigkeit sehen würden, Begleitpersonal für die Spezialbusdienste zur Verfügung zu stellen und ob sie gedenken würden, bis zur „Rentrée“ 2020/2021 eine Lösung vorzulegen.

Die „Rentrée“ ist jetzt – und Tristans Vater ist stinksauer und verzweifelt. „Nachdem ich alle Ministerien angeschrieben habe und der Artikel veröffentlicht wurde, hat sich niemand mit mir in Kontakt gesetzt“, sagt er. Der alleinerziehende Vater muss arbeiten gehen, um seine Familie zu versorgen. Ihm bleibt also nichts anderes übrig, als Tristan von nun an wieder jeden Tag in den Bus zu setzen und zu fürchten, ihn wieder bewusstlos abholen zu müssen. Die gemeinsame Antwort der drei Ministerien auf die Fragen der beiden Abgeordneten findet er lächerlich.

Antwort der Ministerien ist enttäuschend

Abhängig vom Gesundheitszustand, dem Grad der Behinderung und dem Grad der Selbstständigkeit des Kindes würde die Antwort anders ausfallen, schreiben die Ministerien. Sie bestätigen jedoch auch, dass es nicht die Aufgabe des Busfahrers ist, seine Passagiere medizinisch zu überwachen. Das Gleiche gelte für verhaltensauffällige Kinder, die der Fahrer nicht ständig im Auge haben könne.

Das Ministerium für Mobilität biete den Fahrern eine eintägige Grundausbildung an, bei der sie einen Einblick in verschiedene Arten der Behinderungen, den Umgang mit Personen im Rollstuhl, deren Sicherung sowie den Umgang mit blinden Menschen bekommen. Auch die Kompetenzzentren würden den Fahrern eine spezifische Ausbildung und Beratung anbieten.

Die Ministerien schlagen zwei Lösungsansätze vor: Bei akutem Bedarf könnten punktuell Mitarbeiter eines Kompetenzzentrums oder eines Unterstützungsteams für Kinder mit besonderem Förderbedarf einen Schüler beim Transport begleiten. „Gleich nachdem die Antwort veröffentlicht wurde, habe ich das beim Direktor von Tristans Schule angefragt“, sagt André Loutsch. Eine Antwort bekam er bisher noch nicht.

Den Politikern scheint es ganz egal zu sein, dass sie Menschen mit Behinderung in Gefahr bringen

André Loutsch, Vater eines vierjährigen Sohnes mit Behinderung

Der zweite Lösungsansatz kommt für ihn nicht infrage: Bei schwerwiegendem medizinischem Befund würde das Bildungsministerium es den Eltern ermöglichen, ihre Kinder persönlich zur Schule zu bringen und wieder abzuholen. Das Ministerium würde in diesen Fällen die anfallenden Unkosten erstatten. „Ich arbeite als Lehrer und müsste freigestellt werden“, erklärt Loutsch.

Die meisten Kinder, die den „Capabs“ nutzen, bräuchten laut den Ministerien keine Begleitperson. Um festzustellen, ob und bei welchen Fahrten Begleitpersonal notwendig ist, werde sich „im Herbst“ eine Arbeitsgruppe, zusammengestellt aus Vertretern der drei Ministerien, des Themas annehmen. Dieses Vorhaben kritisiert Martine Eischen: „Es wird schon wieder einmal nicht mit den betroffenen Akteuren gesprochen“, sagt sie. Ihrer Meinung nach müssten Busfahrer, Busunternehmen, Inklusionswerkstätten, Schulen und Passagiere nach ihrer Sicht der Dinge gefragt werden. 

Für André Loutsch ist die Aussicht einer Arbeitsgruppe viel zu vage. Für seinen Sohn zählt – wie der gestrige Vorfall erneut unterstreicht – jede Minute. „Den Politikern scheint es ganz egal zu sein, dass sie Menschen mit Behinderung in Gefahr bringen“, sagt er. Vor allem die Passivität der Familienministerin, die für Menschen mit Behinderung verantwortlich ist, schockiert den Vater zutiefst.

J.Scholer
19. September 2020 - 7.42

Mich revoltiert beim Lesen dieses Artikel die Haltung der Politik. Einerseits propagiert sie in der Flüchlingskrise mangelnde Solidarität,Humanität ,schnelle Lösungen und im eigenen Land vernachlässigt sie hilflose , kranke Menschen . Mit dümpelt als würde unsere Politik im Ausland, den Medien gerne glänzen ,.Augenwischerei ?.Im eigenen Land selber sind einfache, menschliche Lösungen nicht machbar oder werden auf die lange Bank geschoben.