LiteraturDie Kranken, die Hilflosen und die Simulanten

Literatur / Die Kranken, die Hilflosen und die Simulanten
Schriftsteller und Sänger Thorsten Nagelschmidt Foto: Verena Brüning

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Ein Drogendealer fragt sich, ob er Freunde oder nur noch Kunden hat. Eine junge Polizistin verdächtigt ihren prahlerischen Vorgesetzten, Bestechungsgelder zu kassieren. Ein musikbegeisterter Taxifahrer freut sich über eine Überlandfahrt, auch wenn diese ihn in das ihm verhasste Halle zurückführt. Und eine Spätibetreiberin wird zum sechsten Mal in zwei Jahren überfallen und knallt dem pubertären Verbrecher das Münzfach ins Gesicht.

Thorsten Nagelschmidt belichtet das Berliner Nachtleben aus der Sicht der menschlichen Treibkräfte, die den Feierbetrieb Berlin am Leben erhalten. Während in Berlin die Touristen, Studenten und Raver feiern, arbeiten sich Türsteher, Spätibetreiber, Restaurantlieferanten, Notfallsanitäter, Taxifahrer und Drogendealer durch die Partynacht. Der Autor stellt die schonungslose Frage, auf welche humane Kosten der Ruf einer ewig jungen, wilden Großstadt geht – und schreibt in elf sich ineinander verzahnenden Schicksalsfragmenten einen erschütternden soziologischen Roman, der die Kehrseite des Berliner Hedonismus kritisch hinterfragt.

In „Arbeit“ geht es um „die Harmlosen, die Schamlosen und die Zahnlosen“, es geht um die anonymen Randgestalten, die von ewig jungen Hedonisten meist nur belächelt, manchmal nicht einmal wahrgenommen werden. Dabei sind sie es, die ihnen das Nachtleben ermöglichen – weil sie in wenig eleganter Arbeitskluft hinter dem Tresen des Spätis ihr Bier kassieren, ihnen die Drogen verkaufen, die sie für die endlosen Nächte in den Berliner Clubs brauchen, ihnen für einen Hungerlohn Pizzen, Sushi und Chicken Tikka Masala frei Haus liefern, sie sie auf Befehl von einer Kneipe zur nächsten kutschieren.

Sheriff schiebt eine Nachtschicht in einem Berliner Hostel und lässt zwischen verwöhnten Österreicher Gören, „veganen Rucksackisraelis“ und einem verlorenen „Stammi“, der seine Weltsicht aus paranoiden YouTube-Verschwörungsvideos zusammenstrickt, seine gescheiterte Existenz Revue passieren. Türsteher Ten muss sich zu Schichtbeginn von einem aufgebrachten Teenie „Quotenneger“ beschimpfen lassen. Ein schlechtes Omen, wie es die darauffolgenden Stunden in Gesellschaft eines labernden Gehilfen, mehr „hessischer Bauer“ als Rausschmeißer, des früheren Hausdealers Flix und der üblichen Kundschaft – „einem manisch auf einem Kaugummi kauenden Speedzwerg“, einem „katzengesichtigen Vitrage-Clochard“ und „schwulen Szene-Syrern“ – beweisen werden.

Besagter Teenager hängt mit seinem Kumpel Pasci bei Reinhold, einem „Patient mit Brille und Halbglatze“, der die beiden an einem Spätsommertag auf dem Spielplatz zum Zocken und Abhängen zu sich eingeladen hat. Mit seinem Avatar Mike klaut Osman im Videospiel „GTA“ Autos, überfährt Passanten und genießt die Sicht auf den Pixelstrand – bis Ober-Creep Reinhold dem Jugendlichen auf eine pädophile Pornhub-Variante von „Netflix and chill“ einlädt.

Anonyme Randgestalten

Tagsüber arbeitet Ingrid in ihrem Billigbuchladen in der Reichenberger, „den nur Euphemisten und Romantiker noch Antiquariat nennen“, nachts zieht sie durch Kreuzberg und sammelt Pfandflaschen – nicht aus Bedarf, sondern weil zu Hause sie alles an ihren vor drei Jahren an Krebs verstorbenen Mann erinnert. Ingrid kann Menschen, die aus „verstuckten und verkuschelten Wohlfühlexistenzen“ stammen, nicht ausstehen und vergrault solche Kunden gerne aus ihrem Laden – „jedem Rausschmiss wohnt ein Zauber inne“, meint sie –, bevor sie sich in die nach Chemikalien riechenden Polstersessel eines leeren Kinos setzt. Die Furcht, das Kino würde sie zu sehr an ihren Mann erinnern, hat sie abgelegt – denn „was erinnert sie denn nicht an ihn“. Nach dem Kinobesuch zieht sie durch die Straßen. „Ingrid mag die Nacht. Nachts sind alle so sehr mit sich selbst beschäftigt, mit ihrem Rausch und ihrer Balz und ihrer Selbstverwirklichung, dass eine Person mehr am Rand nicht weiter auffällt. Alle wollen sie ins Licht, auf die Bühne, in den Mittelpunkt.“

Nagelschmidt porträtiert das Berliner Nachtleben, indem er das soziokulturelle Glamour abstreift – es ist ein Berlin ohne Glitzer, ohne Tanz und Rausch, es ist das Berlin der Kokstaxis, der afrikanischen Dealer, die keinen legalen Job ausüben dürfen, es ist das Berlin der Gardinenkneipen und der Einsamen, in dem sich eine schwangere Restaurantlieferantin auf ihrem Fahrrad durch den Großstadtdschungel kämpft, um nicht aus dem Land verwiesen zu werden, und ein drogenverkaufender Flüchtling auf einer Bank sitzt und die Geschichte seines Leidenswegs für 50 Euro an Journalisten oder Schriftsteller verkauft. Die Randfiguren, die Nagelschmidt empathisch zeichnet, sind traurige Trinker, drogenabhängige Partygänger, sind einsame Menschen, aber auch gesichtslose Samariter. „Die Leute, die diese Stadt regieren, sind jetzt alle schön zu Hause“, denkt Notfallsanitäterin Tanja, „nur wir sind übrig, wir und die Kranken, die Hilflosen und die Simulanten, wir sind jetzt auf uns gestellt und müssen das irgendwie hinkriegen, gemeinsam.“

Schicksalfragmente

Wer deutsche Punkmusik mag, kann sich sicherlich an die Münsteraner Punkband Muff Potter und die kritischen Texte deren Sänger Nagel erinnern. Noch bevor sich Muff Potter 2009 auflöste (die Band hat mittlerweile wieder zusammengefunden und einen neuen Song veröffentlicht), veröffentlichte Nagel seinen ersten Roman, „Wo die wilden Maden graben“. Seit er beim Fischer-Verlag veröffentlicht, hat der Schriftsteller und Sänger seinen Punk-Nickname gegen seinen bürgerlichen Namen eingetauscht – sein politisches Engagement und die Akribie, mit der er menschliche Schicksale am Rande des bürgerlichen Lebens seziert, ist allerdings auch beim großen Verlagshaus intakt geblieben.

Musik spielt auch in „Arbeit“ eine tragende Rolle. „Arbeit“ besteht aus zehn treibenden Kapiteln, die wie so mancher Track von Muff Potter Schicksalsfragmente umreißen: Mit Ausnahme des Kapitels „High Life von hinten“, in dem Türsteher Ten aus der Ich-Perspektive erzählt, schildert jedes Segment in figuraler Erzählung einen Auszug aus ein und derselben Freitagnacht. Am Ende jedes Kapitels verlassen wir die jeweilige Figur – meist ohne zu wissen, wie sich die Konfliktsituation, in der sie sich befindet, lösen wird. Zusammengehalten wird dieser multiperspektivische Roman durch eine elfte, fragmentierte Erzählung: Taxifahrer Bederitzkys Nachtschicht, die an Jim Jarmuschs „Night on Earth“ erinnert, ist das strukturierende Bindeglied. In kurzen Intermezzi wird zwischen den längeren Kapiteln sein Leidensweg nach Halle – für Nagelschmidt ganz eindeutig sowas wie der letzte Kreis der Hölle – geschildert. Während jeder Fahrt versucht Bederitzky, die Kunden für ein von ihm aufgenommenes Demo-Tape zu begeistern, die Reaktionen besagter Kunden gehen allerdings nur von „grauenhaft“ bis gleichgültig – ein teuflischer Running Gag, wie ihn die Cohen-Brüder in ihrem „Inside Llewyn Davis“ auch hinbekommen hätten.

Im Dunkeln tappen

Ganz auf der Strecke wird der Leser aber nicht gelassen – wer sich fragt, was mit den einzelnen Figuren passiert, wenn Nagelschmidt mit dem Kapitel, das sich mit ihnen befasste, abgeschlossen hat, wird in den darauffolgenden Seiten immer wieder auf bekannte Gesichter stoßen. Nagelschmidt spielt damit, dass man in literarischen Texten nicht wirklich etwas sehen kann, sodass der Leser durch teils akribische Überschneidungsarbeit diese oder jene Figur im Dunkel der Nacht identifizieren muss. Indem er diese Figuren immer wieder am Rande der Kapitel, im Schatten der literarischen Ellipse sozusagen, erscheinen lässt, verdeutlicht er umso mehr, wie namenlos diese Charaktere, die er für ein paar Seiten ins Rampenlicht geschoben hat, eigentlich sind. Unter seiner Feder blitzen die Figuren kurz auf, erstarren wie auf einem dieser iPhone-Bilder, bei denen man aus Unachtsamkeit die Blitzlichtfunktion eingeschaltet hat, um dann wieder in der Ungewissheit der Berliner Nacht zu verschwinden.

Der Ton ist dabei schonungslos – wie auf einem bunt zusammengewürfelten Mixtape erfasst Nagelschmidt Dialekt, Slang, Stil und Idiosynkrasien der verschiedenen Bevölkerungsschichten, deren Repräsentanten er darstellt. Wie ein Chamäleon springt Nagelschmidt zwischen den veralteten Sprüchen des verschuldeten Ossis, dem wackeligen Deutsch der kolumbianischen Lieferantin, den Tiraden des schwarzen Türstehers („Kann man sich etwas Deutscheres vorstellen als einen Deutschen, der sich selbst als antideutsch bezeichnet“) und den verbitterten Analysen der Buch- und Pfandflaschenhändlerin („Aber Bücher wegwerfen, das können die Leute ja nicht, wie sie ihr und sich selbst bei jeder Gelegenheit versichern müssen, weil sie glauben, diese vermeintlich edle Tugend verleihe ihnen irgendeine Form von Kultiviertheit oder bürgerlichem Anstand), der die noch verbitterte Lebenserfahrung von Dealer Felix gegenübersteht: „Momentan macht Kerstin ein Sabbatical, wie sie es nennt. Andere sagen, sie habe ein bisschen die Kontrolle über ihren Konsum verloren und sei gegangen worden, freigestellt, unehrenhaft entlassen. Sie und ihre Freundin setzen sich aufs Sofa unter dem Wandregal. Mit gierigen Blicken scannen sie das Angebot auf dem Küchentisch. Wenn Blicke ziehen könnten.“

Wenn bei Sonnenaufgang dann doch alle Handlungsstränge zusammenfinden und (fast) alles aufgeklärt wird, stellt der Leser fest, dass der Berliner Ausgehbetrieb eine ewig junge Gottheit ist, die so einiges an Opfern fordert. In seiner polyphonen Radikalität, in seiner Auseinandersetzung mit dem Suchtverhalten und dessen Legitimierung innerhalb unserer Spaßgesellschaft liest sich „Arbeit“ ein klein wenig wie das zugänglichere, deutsche, soziologische Pendant zu „Infinite Jest“.

Leseprobe

Info

„Arbeit“, von Thorsten Nagelschmidt, S. Fischer, 2020, 334 Seiten