Tageblatt-Reportage aus Minsk„Natürlich gehe ich zur Demo!“: Zehntausende trotzen Lukaschenkos Repressionsapparat

Tageblatt-Reportage aus Minsk / „Natürlich gehe ich zur Demo!“: Zehntausende trotzen Lukaschenkos Repressionsapparat
„Die Oliven machen wieder Jagd“, wird in den Netzwerken gewarnt: In Belarus kassieren die Sicherheitsbehörden weiter Demonstranten ein  Foto: AFP/tut.by

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Allen Einschüchterungsversuchen zum Trotz haben am Sonntag erneut zehntausende Menschen in der belarussischen Hauptstadt gegen Machthaber Alexander Lukaschenko protestiert. Tageblatt-Korrespondent Paul Flückiger hat sich in Minsk unter die Demonstrierenden gemischt.

„Dies hier ist meine Stadt, ich bin gegen diese Okkupation und natürlich gehe ich zur Demo“, sagt Weronika bestimmt. Die Frau um die 30 sagt, sie habe alle Angst bereits abgelegt. Nun gälte es nur noch, den Usurpator zu vertreiben – das sei das Einzige, was zähle. Der Usurpator ist der Noch-Staatspräsident Alexander Lukaschenko. Vor seinem Treffen mit Putin am Montag will er Moskau beweisen, dass er Herr der Lage in seinem Land ist.

Auch deshalb hat er schon am frühen Sonntagmorgen auf dem Platz der Unabhängigkeit in der Minsker Innenstadt Armeetechnik auffahren lassen. Bereits am Vormittag werden Lukaschenkos Schergen aktiv und nehmen in den Außenquartieren erste Aktivisten oder einfach nur mögliche Demonstranten fest. „Die Oliven machen wieder Jagd, passt bloß auf, sobald ihr das Haus verlasst!“, wird in den oppositionellen Telegram-Kanälen gewarnt.

Die „Oliven“ sind die Olivgrün gekleideten Einheiten ohne Kennzeichen. Niemand weiß, wer sie sind. Es wird darüber spekuliert, ob es sich dabei nicht um jene von Putin versprochenen Sonderpolizeieinheiten handeln könnte, die angeblich noch nicht in Belarus sind, sondern erst auf einen Einsatz warten. Die „Oliven“ sind besonders brutal und bereits am Sonntagvormittag machen sie Jagd auf Demonstranten, die von den großen Hochhausquartieren in die Minsker Innenstadt zum „Marsch der Helden“ ziehen wollen.

Viele Festnahmen, große Brutalität

Kleine Aktivistengruppen werden umzingelt und in bereitstehende Busse ohne Kennzeichen gezerrt. Bis zum Beginn des Marsches sind mindestens 250 Festnahmen zu vermelden. Viele davon sind äußerst brutal. Die Menschenrechtsorganisation „Wiasna“ hat bisher die Namen von 82 festgenommenen Demonstranten veröffentlicht.

Dennoch lassen sich die Minsker nicht mehr abhalten. „Wir sind das Volk!“ und „Dies ist unsere Stadt!“, skandieren Zehntausende und machen sich in verschiedenen Demonstrationszügen daran, Lukaschenkos Residenz im Minsker Vorort Drozdy mit einer Menschenkette zu umzingeln. Der Hauptdemonstrationszug ist bis Redaktionsschluss an der U-Bahnstation „Puschkinskaja“ angekommen, wo in den ersten Protesttagen das erste Todesopfer zu beklagen war. Der unbewaffnete Demonstrant war damals von einem Gummigeschoss niedergestreckt worden.

An diesem Sonntag jedoch warten laut dem belarussischen Nachrichtenportal tut.by Truppen des Innenministeriums an der Nowosilenski-Straße bereits mit scharfer Munition auf die Demonstrierenden. Geschossen wird jedoch nicht. Dem Regime liegt immer noch vor allem an der Abschreckung. „Erst wenn das Kriegsrecht ausgerufen wird, bekomme auch ich Angst und bleibe zu Hause“, sagt Vova, ein weiterer Demonstrant.

„Bis zum frühen Abend sollten eher mehr Leute auf der Straße sein als am vergangenen Sonntag, denn nun sind auch die Studierenden und die Datscha-Sommerurlauber zurück in Minsk“, sagt Vova. Laut dem oppositionellen, von Warschau aus arbeitenden und oft etwas optimistischen Internetportal charter97.org waren bei Redaktionsschluss bereits 150.000 Demonstrierende auf ihrem Weg nach Drozdy.

Die Verhaftungen weiterer Koordinationsratsmitglieder in der vergangenen Woche, allen voran Maria Kolewnikowas, hat laut Auskunft der meisten darauf angesprochenen Demonstranten keinen Einfluss auf ihre Motivation. „Wir brauchen keine Führung, wir organisieren uns selbst“, erklärt Weronika.

Auch im Netz wird gekämpft

Erneut kam es auch in mindestens einem Dutzend kleinerer Städte in der Provinz zu Demonstrationen. In der westbelarussischen Oppositionshochburg Grodno zogen streikende Arbeiter in ihren Blaumännern mit Demonstranten durch die Altstadt. In Brest an der polnischen Grenze wurden Wasserwerfer gegen den Protestzug eingesetzt.

Eine Gruppe, die sich die „Cyber-Partisanen“ nennt, hat unterdessen am Samstagabend angekündigt, bald Listen aller Polizisten und Innenministerium-Truppen zu veröffentlichen, die an den brutalen Einsätzen vom 9. bis 12. August beteiligt waren. Die „Cyber-Partisanen“ wollen interne Listen durch Hackerangriffe auf das Innenministerium gestohlen haben. „Das ist der letzte Moment für jeden von euch, sich auf die Seite des Volkes zu stellen“, schreibt die Gruppe. Veröffentlicht würden Fotos, Privatadressen, weitere persönliche Details und auch die Autokennzeichen. Unvollständige ähnliche Listen kursieren bereits seit über einer Woche in speziell dafür eingerichteten Telegram-Kanälen.