EditorialIm Fall Nawalny bleiben viele Fragen, doch will Europa sein Gesicht bewahren, muss es handeln

Editorial / Im Fall Nawalny bleiben viele Fragen, doch will Europa sein Gesicht bewahren, muss es handeln
Nach dem Anschlag auf Nawalny richten sich alle Augen auf Russlands Präsidenten Wladimir Putin – der lässt aber bislang kein gestiegenes Interesse an Erklärungen erkennen Foto: dpa/Alexei Nikolsky

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Während die NATO gestern über ihre Reaktionen auf den mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergifteten Alexej Nawalny konferierte, weilte Russlands Ministerpräsident Michail Mischustin in Belarus zur symbolischen Unterstützung des revolutionsgeplagten Lukaschenko-Schergenregimes. Das Timing stimmt mal wieder.

Putin-Russland und Europa, von einer Partnerschaft lässt sich nicht mehr reden. Bestenfalls ist es in all den Jahren ein Nebeneinander gewesen, meist war es ein Gegeneinander. Georgien, die Ukraine, Syrien, Libyen, Manöver-Scharmützel im Baltischen Meer, der ebenfalls mit Nowitschok verübte Anschlag von Salisbury, der Kreml-gesteuerte Propagandakrieg mittels Russia Today, Wahlbeeinflussungen auf fast schon industriellem Maßstab in Fake-News-Fabriken, russische Privatarmeen und tschetschenische Freischärler in nahezu jedem schmutzigen Konflikt. Alles kein Bewerbungsschreiben für belastbare Freundschaften, auch im internationalen Rahmen nicht.

Und jetzt der Mord an einem zwar führenden, aber doch ungefährlichen Gegner mit einer durch eine internationale Konvention verbotenen Chemiewaffe – zu deren Giftschrank, so heißt es, nur der russische Sicherheitsapparat den Schlüssel hat. Demnach: Alle Augen auf Wladimir Putin.

Russlands Präsident ist der Welt nun eine Antwort schuldig. Das Problem dabei: Der Kreml wird nur schwerlich eine liefern können. Sollten Teile des Staatsapparates nach eigenem Gutdünken und ohne Rücksprache mit dem Kreml Oppositionelle mit einem Stoff wie Nowitschok ausschalten, würde das Schwächen im System offenlegen – einem System, das darauf gründet, keine Schwächen zu zeigen. Dass man andererseits Nawalny auf Befehl von ganz oben hin vergiften will, das dann misslingt und er nach einem kurzen Spitalaufenthalt in Sibirien nach Berlin ausgeflogen wird, quasi mit dem Beweis des staatlichen Mordversuchs im Körper, wäre an verwegener Willkür kaum zu überbieten.

Die internationale Gemeinschaft erwartet von Putin, will er neue Sanktionen, wirtschaftlichen Schaden und eine weitere Isolierung vermeiden, etwas, das in seinem Russland kaum möglich sein dürfte, ohne alles zum Einsturz zu bringen: eine schnelle und transparente Aufklärung des Geschehenen. Die aufgedeckten Implikationen in den Skripal-Fall konnte der Kreml noch beiseitewischen und den Sturm vorbeiziehen lassen. Jetzt aber steht die umstrittene Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2, die mehr russisches Gas nach Westeuropa bringen soll, wieder zur Diskussion. Ein Milliardenprojekt. Es geht ans Eingemachte.

Putins geopolitische Kraftmeierei der vergangenen 20 Jahre wird gerne mit der geschundenen russischen Volksseele kleinpsychologisiert. Nach dem Zerfall der Sowjetunion sei man ungerecht zum Verlierer gemünzt und weltpolitisch übergangen worden. Putin gab das Versprechen, zu alter Größe zurückzufinden, mit einem autoritären Führungsstil als Mittel zum Zweck. Herausgekommen ist ein Staat im mafiösen Halbschatten. Von Größe keine Spur. Eine solche dürfte Moskau auch jetzt nicht zeigen. Es gebe keinen Anlass für eine Erklärung des Staatschefs, hieß es gestern aus dem Kreml.

Will Europa sein Gesicht bewahren, muss es handeln. Einfacher wäre das im Verbund mit den USA. Sollte Trump, der erklärte Putin-Fan, die Wahl im November gewinnen, zerstäubt auch diese Hoffnung. Demnach lohnt es sich auch nicht, auf dieses Datum zu warten.

Tarchamps
7. September 2020 - 18.59

Kontinente haben keine Gesichter.

Peter
7. September 2020 - 11.40

J. Scholer… Kein internes Problem? Wir haben es hier mit einem Serienmörder zu tun, der nach Lust und Laune, den Zeitpunkt und den Ort seiner Opfer aussucht. Egal ob in London, Berlin oder sonst wo, es kann jeden treffen und die Angst davor ist ein gewünschter Nebeneffekt. Irgendwann traut sich keiner mehr was zu sagen, dann hat der Herr und Meister aus dem Kreml sein Ziel erreicht.

J.Scholer
6. September 2020 - 8.53

In Zeiten wo die Wirtschaft den Vorrang hat, sollten wir uns aus den internen Problemen anderer Länder , dies nicht nur in Russland auch in den USA,heraushalten . Solange es nicht EU Länder , Interessen betrifft sind diese Probleme nicht von Bedeutung. Anders das Problem des Vorstoßes der Türkei in europäische Gewässer. Hier müsste Remedur geschaffen werden, die Wirtschaft eines EU Partners, die Interessen der EU betroffen sind ,die Türkei ausgebremst werden. Nur hier übt die Politik nur zögerlich Kritik .Wir sollten uns von der geheuchelten , humanistischen Denkweise verabschieden.Die Religionen , voran der theoretische Katholizismus , haben über Jahrhunderte versucht die Menschheit zum Humanismus zu bekehren, was Illusion bleiben wird.

Charel
5. September 2020 - 12.25

Die ukraine weil sie riskiert ihre durchgangsgebuehren fuer russisches erdgas zu verlieren oder die usa , die durch nordstream 2 ihr teures fracking-gas nicht so Loswerden wie sie sich es vorgestellt hatten

Romain Juni
4. September 2020 - 18.36

Wer war noch im Giftschrank und will Nordstream 2 stoppen?