WeißrusslandDutzende von Firmen streiken gegen Lukaschenko und die Polizeigewalt

Weißrussland / Dutzende von Firmen streiken gegen Lukaschenko und die Polizeigewalt
Freunde und Verwandte von Demonstranten, die bei den Protesten nach den Präsidentschaftswahlen in Belarus festgenommen worden sind, stehen vor einem Gefängnis in Minsk Foto: Sergei Grits/AP/dpa

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Die weißrussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja ist in der Nacht zum Dienstag nach Litauen ausgereist. Laut ihrem Wahlstab wurde sie dazu vom Geheimdienst KGB gezwungen. Im Tausch habe sie die Freilassung ihrer Wahlstabschefin Maria Moroz und auch deren Ausreisemöglichkeit erreicht.

Tichanowskaja selbst meldete sich mit einer Videobotschaft, in der sie mit niedergeschlagener und beängstigter Miene von einer souveränen Entscheidung sprach. „Ich dachte, die Wahlkampagne hätte mich abgehärtet und stark gemacht, aber wahrscheinlich bin ich immer noch einfach eine schwache Frau“, sagte sie, und fordert ihre Anhänger auf, sich an die Gesetze zu halten und sich der Polizei nicht mehr zu widersetzen.

Laut Tichanowskajas Wahlstab wurde das Video noch in Minsk aufgenommen und ebenso vom KGB erzwungen. Das soll in der Zentralen Wahlkommission geschehen sein, wo Tichanowskaja am Montag das vorläufige Wahlresultat angefochten hatte und drei Stunden festgehalten wurde. Danach war sie stundenlang spurlos verschwunden.

Das litauische Außenministerium hat inzwischen Tichanowskajas Verbleiben bestätigt und für ihre Sicherheit garantiert. Von den bestimmenden drei Oppositionspolitikerinnen befindet sich damit nur noch die am Samstag kurzzeitig festgenommene Maria Koleschnikowa in Weissrussland. Weronika Tsepalo war am Samstag nach Moskau geflüchtet.

Koleschnikowa und der verbleibende Teil von Tichanowskajas Wahlstab forderte gestern Mittag die Weißrussen indes dazu auf, weiterhin wie bisher friedlich gegen die Wahlfälschung zu protestieren. „Wir rufen die Staatsmacht zum Dialog für eine friedliche Machtübergabe ohne Gewalt und Opfer an das Volk auf“, heißt es in dem Aufruf. Laut Beobachtern in Minsk hat Tichanowskajas erzwungene oder freiwillige Ausreise keinen Einfluss auf die Protestwelle, da diese nicht von ihrem Wahlstab organisiert, sondern spontan ist. Bisher sind keine Protestführer auszumachen.

Aufruf zum Streik

Gestern trat die Protestwelle in eine neue Phase, nachdem sich Dutzende Staatsfirmen einem Streikaufruf anschlossen. In großen Firmen wie dem Minsker Traktorenwerk MTS streikten zuerst aber nur ein paar Dutzend Angestellte. Die Lage blieb unübersichtlich, auch weil das Internet erneut meist nicht funktionierte. Opposition und unabhängige, zumeist verbotene Gewerkschaften hatten am Montag zu einem Generalstreik aufgerufen. Viele Arbeiter protestierten für eine Abdankung des amtierenden Staatspräsidenten Alexander Lukaschenko, gegen die Gewalt der Sicherheitskräfte und die landesweite Blockade des Internets.

In der Nacht zum Dienstag war es – wie bereits in der Wahlnacht – erneut zu Protesten im ganzen Land gekommen. Dabei kam es laut Angaben des Innenministeriums zu einem Todesfall. Das Gesundheitsministerium sprach gestern Abend von über 200 hospitalisierten Verletzten. Rund 2.000 Demonstranten seien verhaftet worden, hieß es offiziell. Das Zentrum von Minsk war erneut völlig abgeriegelt, aber vor allem in den östlichen Außenbezirken kam es zu heftigen Auseinandersetzungen. Vor dem Kino „Aurora“ wurden Barrikaden errichtet und Molotow-Cocktails auf Sicherheitskräfte des Innenministeriums geworfen. Dabei soll sich ein Demonstrant laut offiziellen Angaben selbst tödlich verletzt haben.

Erneut kam es in Dutzenden von Provinzstädten zu Demonstrationen. Alleine in der Kleinstadt Waukawysk an der polnischen Grenze wurden 30 Demonstranten von Sondertruppen des Innenministeriums verhaftet. In der Großstadt Gomel im Osten des Landes sollen 500 Demonstranten festgenommen worden sein. „Wir betonen noch einmal, dass wir keine Destabilisierung der Situation zulassen. Wir verfügen über genügend Kräfte und Möglichkeiten“, drohte Innenminister Jurij Karajeu im Staatsfernsehen.

Armee rückt in Minsk an

Gestern Abend versammelten sich erneut landesweit tausende erboster Bürger. „Kakerlake, verschwinde!“, skandierten sie gegen Lukaschenko. SMS-Flugblätter forderten die Demonstranten auf, nicht in Gruppen zusammen zu stehen und sich wie auf einem Spaziergang zu bewegen. Damit soll Festnahmen vorgebeugt werden. In Minsk war die Innenstadt erneut völlig abgesperrt. In der im Westen Weißrusslands gelegenen Stadt Grodno kontrollierte die Polizei am Abend alle Einfahrtstraßen.

Lukaschenkos Sicherheitsdiensten scheint nach dem Ausgreifen des Protests in die Provinz das Personal auszugehen. Vereinzelt stellten sich auch Polizisten auf die Seite der Demonstranten. Der katholische Erzbischof bot gestern seine Vermittlerdienste für einen Runden Tisch zwischen Staatsmacht und Opposition an. Rund zehn Prozent der Weißrussen sind katholisch. Bürgervideos auf internetunabhängigen Telegram-Kanälen zeigten am Abend lange Kolonnen von Armeetransportern auf den Einfahrtstraßen in die Hauptstadt Minsk.