Project SyndicateWie sich die drohende Staatsschuldenkrise verhindern lässt

Project Syndicate / Wie sich die drohende Staatsschuldenkrise verhindern lässt
 Foto: AFP/Olivier Douliery

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Inmitten der COVID-19-Pandemie müssen in diesem Jahr mehr als 100 Länder niedrigen und mittleren Einkommens insgesamt 130 Milliarden Dollar für den Schuldendienst aufbringen – rund die Hälfte davon gegenüber privaten Gläubigern. Da die Wirtschaftsaktivität in vielen Bereichen zum Erliegen gekommen ist und sich die Steuereinnahmen im freien Fall befinden, werden viele Länder ihre Zahlungen zwangsläufig einstellen müssen. Andere werden knappe Ressourcen zusammenstoppeln, um ihre Gläubiger zu bezahlen, und dringend benötigte Gesundheits- und Sozialausgaben kürzen. Noch andere werden zusätzliche Kredite aufnehmen und das Problem in die Zukunft verschieben, was angesichts der von den weltweiten Notenbanken bereitgestellten Liquiditätsflut derzeit scheinbar einfacher ist.

Von Lateinamerikas verlorenem Jahrzehnt der 1980er Jahre bis zur griechischen Krise der jüngeren Zeit gibt es viele schmerzhafte Mahnungen, was passiert, wenn Länder ihre Schulden nicht bedienen können. Eine globale Schuldenkrise zum jetzigen Zeitpunkt wird Millionen von Menschen in die Arbeitslosigkeit stürzen und weltweit Instabilität und Gewalt anheizen. Viele werden sich im Ausland um Arbeit bemühen und potenziell die Grenzkontroll- und Einwanderungssysteme in Europa und Nordamerika überfordern. Eine weitere kostspielige Migrationskrise wird die Aufmerksamkeit vom dringenden Erfordernis der Bekämpfung des Klimawandels ablenken. Derartige humanitäre Notfälle entwickeln sich zur neuen Norm.

Dieses Alptraumszenario ist vermeidbar, wenn wir jetzt handeln. Die Ursprünge der drohenden Schuldenkrise sind leicht erklärlich. Bedingt durch die quantitative Lockerung hat sich die Staatsverschuldung (überwiegend in Form von Staatsanleihen) der Länder niedrigen und mittleren Einkommens seit der globalen Finanzkrise von 2008 mehr als verdreifacht. Staatsanleihen sind riskanter als „offizielle“ Schulden bei multilateralen Einrichtungen und den Hilfsagenturen entwickelter Länder, weil die Gläubiger sie beliebig abstoßen können und so eine steile Währungsabwertung und andere weitreichende wirtschaftliche Turbulenzen auslösen können.

Auf taube Ohren gestoßen

Im Juni 2013 äußerten wir die Sorge, dass „kurzsichtige Finanzmärkte gemeinsam mit kurzsichtigen Regierungen dabei [sein könnten], die Grundlagen für die nächste internationale Schuldenkrise zu legen“. Jetzt ist der Tag der Abrechnung da. Im März sprachen sich die Vereinten Nationen für Schuldenerleichterungen für die weltweit am wenigsten entwickelten Länder aus. Mehrere G20-Länder und der Internationale Währungsfonds haben den Schuldendienst für dieses Jahr ausgesetzt und die privaten Gläubiger aufgefordert, sich dem anzuschließen.

Nicht überraschend sind diese Aufforderungen auf taube Ohren gestoßen. Die neu gegründete Africa Private Creditor Working Group etwa hat die Idee bescheidener, aber breit angelegter Schuldenerleichterungen für arme Länder bereits abgelehnt. Daher werden viele, wenn nicht die meisten Vorteile des Schuldenerlasses privaten Gläubigern zugutekommen, die nicht bereit sind, irgendwelche Schuldenerleichterungen zu gewähren.

Folglich werden einmal mehr die Steuerzahler der Gläubigerländer die Zeche für die überzogene Risikobereitschaft und unvorsichtige Kreditvergabe privater Akteure zahlen. Vermeiden lässt sich dies nur durch ein umfassendes Schuldenmoratorium, das die privaten Gläubiger mit einbezieht. Doch ohne starke Maßnahmen der Länder, in denen die Schuldverträge geschlossen werden, werden die privaten Gläubiger eine derartige Übereinkunft kaum akzeptieren. Diese Regierungen müssen sich daher die Doktrinen der Notwendigkeit und der höheren Gewalt zu eigen machen, um umfassende Schuldendienst-Moratorien durchzusetzen.

Keine defintive Lösung

Doch lösen Moratorien das systemische Problem zu hoher Schulden nicht. Hierfür bedarf es dringend einer tief greifenden Schuldenumstrukturierung. Die Geschichte zeigt, dass eine zu späte und zu geringe Umstrukturierung im Falle vieler Länder lediglich den Boden für eine weitere Krise bereitet. Und Argentiniens langer Kampf um eine Umstrukturierung seiner Schulden angesichts widerspenstiger, kurzsichtiger, verbohrter und hartherziger privater Gläubiger hat gezeigt, dass Kollektivklauseln, die eine Umstrukturierung erleichtern sollen, weniger effizient sind als erhofft.

In der Mehrzahl der Fälle folgt auf eine unzureichende Umstrukturierung innerhalb von fünf Jahren eine weitere Umstrukturierung. Dies ist mit enormem Leid für die Menschen in den Schuldnerländern verbunden. Und langfristig verlieren auch die Gläubiger.

Zum Glück gibt es eine zu selten genutzte Alternative: freiwillige Rückkäufe von Staatsanleihen. Anleiherückkäufe sind in der Geschäftswelt weit verbreitet und haben sich in den 1990er Jahren in Lateinamerika und in jüngerer Zeit im griechischen Kontext als hilfreich erwiesen. Und sie haben den Vorteil, dass sie jene harschen Bedingungen vermeiden, die normalerweise mit Umschuldungen einhergehen.

Hauptzweck eines Rückkaufprogramms wäre es, die Schuldenbelastung durch deutliche Nachlässe („Haircuts“) auf den Nennwert von Staatsanleihen und durch Minimierung der von gefährlichen privaten Gläubigern ausgehenden Risiken zu reduzieren. Doch könnte ein Rückkaufprogramm auch so konzipiert werden, dass es Gesundheits- und Klimaziele unterstützt, indem es vorschreibt, dass die Begünstigten das Geld, das ansonsten in den Schuldendienst geflossen wäre, zur Erstellung öffentlicher Güter aufwenden.

Wie wir in einem jüngsten, vom Center for Economic Policy Research veröffentlichten Aufsatz erläutern, könnte eine multilaterale Rückkauffazilität vom IWF verwaltet werden, der dazu vorhandene Ressourcen, seine Funktion zur Neuvereinbarung von Krediten sowie zusätzliche Mittel eines globalen Konsortiums aus Ländern und multilateralen Institutionen nutzen könnte. Länder, die nicht alle ihnen zugeteilten Sonderziehungsrechte (die Abrechnungseinheit des IWF) benötigen, könnten diese an die neue Fazilität spenden oder ausleihen. Weitere Mittel ließen sich durch die – zwingend erforderliche – Neuausgabe von Sonderziehungsrechten bereitstellen. Um mit dem ausgegebenen Geld die größtmögliche Schuldenverringerung zu erreichen, könnte der IWF eine Auktion durchführen und ankündigen, dass er nur eine begrenzte Menge an Anleihen zurückkaufen wird.

Das Wohl der Menschen im Fokus

Langfristig bedarf es eines berechenbaren, regelgestützten Mechanismus zur Umstrukturierung von Schulden nach dem Modell des US-Gesetzes über die Insolvenz von Gemeinden („Chapter 9“). Das stünde im Einklang mit den Empfehlungen der nach 2008 eingerichteten UN-Expertenkommission zur Reform des internationalen Währungs- und Finanzsystems.

Der übliche Einwand gegen derartige Vorschläge ist, dass sie den internationalen Kapitalmarkt zerstören würden. Unsere Erfahrungen zeigen jedoch das Gegenteil. Man kann einem Stein kein Wasser abpressen. Es wird eine Umstrukturierung geben; die einzige Frage ist, ob sie geordnet ablaufen wird. Unsere Vorschläge würden zum Erreichen dieses Ziels beitragen und damit die Kapitalmärkte stärken.

Letztlich jedoch sollte unser Anliegen nicht die Gesundheit der Kapitalmärkte sein, sondern das Wohl der Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Es besteht dringender Bedarf an sofortigen Schuldenerleichterungen noch während der Pandemie. Und sie müssen umfassender Art sein – und die privaten Gläubiger einbinden – und mehr als bloß einen Zahlungsaufschub beinhalten. Wir haben die Instrumente dafür. Wir brauchen lediglich den politischen Willen.

* Aus dem Englischen von Jan Doolan.

Die hier geäußerten Ansichten sind die der Verfasser und spiegeln nicht die Sicht der Vereinten Nationen oder ihrer Mitgliedstaaten wider.

Joseph E. Stiglitz ist Wirtschaftsnobelpreisträger, Professor an der Columbia University, Chefökonom des Roosevelt Institute und ehemaliger Senior Vice President und Chefökonom der Weltbank. Zuletzt ist People, Power and Profits: Progressive Capitalism for an Age of Discontent (Penguin, 2020) von ihm erschienen. Hamid Rashid war Generaldirektor für multilaterale Wirtschaftsfragen im Außenministerium von Bangladesch und ist Leiter des Referats Überwachung der Weltwirtschaft der Abteilung für Wirtschafts- und Sozialwesen der Vereinten Nationen.

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