BulgarienZehntausende demonstrieren schon seit einem Monat gegen Korruption und Mafiamachenschaften

Bulgarien / Zehntausende demonstrieren schon seit einem Monat gegen Korruption und Mafiamachenschaften
Auch die Bulgaren wollen endlich geordnete Verhältnisse in ihrem Land und demonstrieren daher seit Wochen gegen die Regierung von Bojko Borissow Foto: AFP/Nikolay Doychinov

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Die Bulgaren haben von Korruption und Mafia-Machenschaften genug. Seit über einem Monat ziehen beim ärmsten und korruptesten EU-Mitglied Zehntausende gegen die Rechtlosigkeit im Schattenstaat auf die Straßen.

Weiß-grün-rot wogt das Fahnenmeer. Tausende drängen sich am 32. Abend in Folge auf dem Atanas-Burow-Platz in Sofia. Maskenträger sind in der Menschenmenge auf dem gelben Kopfsteinpflaster im Zentrum von Bulgariens Hauptstadt nur vereinzelt zu sehen. Dafür übertönt der ohrenbetäubende Lärm von rhythmisch geblasenen Vuvuzelas und Trillerpfeifen den unablässig wiederholten Sprechchor: „Ostawka – Abtritt!“

„Abtritt“, malt ein junger Mann mit Kreide auf die Fassade des im Zuckerbäckerstil errichteten Ex-Hauptquartiers von Bulgariens kommunistischer Partei. „Wanted“ prangt auf Fahndungsplakaten mit den Bildnissen von Regierungschef Bojko Borissow und Generalstaatsanwalt Iwan Geschew auf dem Gemäuer des heutigen Bürogebäudes des Parlaments: Der bullige Dauerpremier gilt den Demonstranten wegen seiner engen Bande zu den unberührbaren Oligarchen Bulgariens genauso als Sinnbild für einen gekaperten Staat wie der ranghöchste Justizbeamte des Landes.

In seinem schwarzen Rucksack sucht der sehnige Banker Rumen nach seiner Trillerpfeife. Seit 1989 sei er bei allen Protesten in Sofia dabei gewesen, sofern er nicht im Ausland gelebt habe: „Leider hat sich seitdem nur wenig verändert. Dieselbe Art von Leuten hat hier immer noch das Sagen. Nur sind die damaligen Geheimdienstler und Kriminelle zu Geschäftsleuten und Politikern geworden.“ Die Veränderungen seit Bulgariens Wende seien nur „oberflächlich“: „Wir entwickeln uns auch in der EU nicht weiter, sondern nur zurück.“

Seit über einem Monat ziehen beim ärmsten und korruptesten EU-Mitglied Zehntausende von Demonstranten gegen Vetternwirtschaft, Mafia-Machenschaften und die Rechtlosigkeit über die Straßen. Er demonstriere, damit Bulgarien nicht Europas „schwarzes Loch bleibt, wo EU-Gelder ohne sichtbare Ergebnisse versickern“, sagt der hochgewachsene Rechtsanwalt Emil Georgiew. Die Proteste seien keineswegs nur eine bulgarische Angelegenheit. Die EU-Fonds seien die „Machtbasis von Borissow“: „Es sind die Gelder der EU-Steuerzahler, die hier in Bulgarien die Korruption finanzieren.“

Geschäftstüchtige Politiker und Spitzenbeamte, die sich eher mächtigen Schutzherren als dem Gemeinwohl und ihren Schutzbefohlenen verpflichtet fühlen: Der in Wien aufgewachsene und studierte Jurist spricht vom „Schattenstaat“, wenn er die Zustände in seinem Heimatland beschreibt.

Seilschaften aus der Vorwendezeit

Die Bulgarien dominierenden Seilschaften stammen zum Teil noch aus der Vorwendezeit, seien weder sichtbare noch demokratisch legitimierte Strukturen, so der Aktivist der Juristeninitiative „Gerechtigkeit für alle“: „Man kann sie weder wählen noch abwählen, aber sie nutzen ihre Machtposition dazu, das politische Geschehen zu diktieren.“ Egal, welche Partei nach der Wende an der Macht gewesen sei: Im Gegensatz zu anderen ex-sozialistischen Staaten seien in Bulgarien die Geheimdienststrukturen „nie durchleuchtet“ worden: Die ausgebliebene Lustration sei „der Grund, warum deren Machenschaften immer noch existieren – und sich im Dunkel des Schattenstaats so gut orientieren.“

„Mafia“ oder „Potemkinsches Dorf“ prangt auf den selbstgefertigten Pappschildern der Demonstranten. Es ist nicht die erste Protestwelle, die seit dem EU-Beitritt von 2007 den Balkanstaat erschüttert. Bereits 2013 hatten wochenlange Armutsdemonstrationen gegen überhöhte Stromrechnungen das erste Kabinett von Borissow zu Fall gebracht. Als die sozialistische Nachfolgeregierung im Juni 2013 ausgerechnet den allmächtigen Medienmogul Dejan Peevski von der Oligarchenpartei DPS zum Geheimdienstchef kürte, erschütterten erneut monatelange Proteste das Land.

„Die Justizreformen, die wir 2013 forderten, sind nie umgesetzt worden“, klagt die dunkelhaarige Anwältin Stefanija Gitschewa. Sieben Jahre später habe Bulgarien noch immer keinen funktionierenden Rechtsstaat, „sondern nur eine hohe Kriminalität, enorme Korruption, eine sehr selektive Justiz – und einen Generalstaatsanwalt, der über allem steht. Die Leute wollen endlich Gerechtigkeit und Veränderung – und zwar eine echte.“ Viele junge Bulgarien hätten in anderen EU-Staaten studiert: „Sie wissen, wie eine normale Demokratie funktionieren kann.“ Mit der „Heilung“ der Justiz ließe sich „auch das Land heilen“, ist sie überzeugt: „Wir wissen, dass der Abtritt der Regierung keine Lösung für alle Probleme ist, aber es wäre ein erster Schritt.“

Im Gegensatz zu 2013, als sich die Demonstrationen vor allem auf Sofia konzentrierten, gingen die Menschen nun in allen Städten des Landes auf die Straßen, berichtet ihr Mitstreiter Georgiew. Gleichzeitig werde die jetzige Protestwelle im Gegensatz zu 2013 nun von Menschen aller politischen Couleur getragen: „Von Linken, Libertären, Bürgerlichen und Konservativen – alle sind dabei.“ Wirkung zeigen die Proteste seiner Meinung nach schon jetzt: „Ohne den Druck hätte Borissow nie Minister ausgetauscht.“

Borissow verteilt das Geld aus Brüssel

Tatsächlich sind es nicht nur die Proteste, sondern auch fallende Umfragewerte, die Borissow zu schaffen machen. Seit Dezember ist die Zustimmung für seine rechte Gerb-Partei laut einer jüngsten Umfrage von 21 auf 14,5 Prozent geschrumpft. Er sei „jederzeit zum Abtritt bereit“, beteuerte der in Bedrängnis geratene Hobbykicker beim Gerb-Parteitag in der vergangenen Woche. „Nein, nein!“ schallte es ihm wie auf Bestellung entgegen. Der Premier werde auf Drängen der Koalitionspartner bis zum Ende der Legislaturperiode im Amt bleiben, verkündete zwei Tage später Waleri Simeonow von den mitregierenden Vereinigten Patrioten den Rücktritt von allen Rücktrittsabsichten.

Doch seinen von ihm gerne gepflegten Nimbus als Mann des einfachen Volkes hat der Regierungschef spätestens nach einer bizarren Schlafzimmeraffäre längst verloren. Im Juni veröffentlichte das Portal afera.bg Fotos, die den Premier schlummernd in seinem Bett zeigten. Für Verwunderung sorgte der abgebildete Nachttisch. Eine Pistole lag unter der Bettlampe. Goldbarren und Bündel von 500-Euro-Scheinen lugten aus der Schublade.

„Europa, bist du blind?“, fragt ein selbstgemaltes Plakat. Er verstehe die EU und Angela Merkel nicht, „warum sie so eine kriminelle Figur wie Borissow überhaupt in die Nähe von Brüssel kommen lassen und ihm das Geld in den Hintern schieben“, wundert sich im Zentrum von Sofia der grauhaarige Demonstrationsveteran Rumen: „Der macht sich auch noch lustig über sie – und preist sich in ordinärsten Worten, wie er Brüssel hinters Licht führt.“

Keine Machtverschiebung bei Wahlen zu erwarten

Einen Grund, warum der Premier sich so verbissen gegen vorgezogene Neuwahlen stemmt, vermutet Georgiew auch hinter den Ergebnissen des jüngsten EU-Gipfels. Insgesamt 29 Milliarden Euro vermochte sich Sofia für die kommenden Jahre aus der Brüsseler Subventionsschatulle zu sichern. „Das ist kein kleiner Happen“, sagt der Anwalt. Und die derzeitige Regierung habe die Absicht, „das so weit wie möglich aufzugreifen, an der Verteilung mitzuwirken“: „Es ist nicht unwichtig, an wen was geht.“

60 Prozent der Bulgaren verspüren laut Umfragen zwar Sympathien für die Demonstranten, erdrutschartige Machtverschiebungen wären aber bei einem vorgezogenen Urnengang kaum zu erwarten. Seine Hoffnung sei, dass sich die Proteste zur „Triebfeder der Veränderung“ entwickeln, sagt Georgiew: „Sie könnten dazu führen, dass sich langfristig reformfreudige Mehrheiten bilden.“

Dumpf schallen die Vuvuzelas der heimziehenden Demonstranten durch die nächtlichen Straßenschluchten von Sofia. Politische Konkurrenz gebe es – ähnlich wie in Russland – in Bulgarien nur an der Oberfläche, blickt Banker Rumen eher illusionslos in die Zukunft. 30 Jahre habe in Bulgarien schon die Mafia das Sagen. Und er fürchte, dass nun „nur ein anderer Arm des Systems“ wie die sozialistische BSP das Ruder zu übernehmen versuche: „Aber die Zeit wird knapp. Nochmals 30 verlorene Jahre kann sich Bulgarien nicht erlauben.“

Zwei Millionen emigrierte Menschen habe das Land verloren „und mit ihnen ist das größte Potenzial für Veränderung gegangen“, so Rumen. Es seien nicht nur niedrige Löhne, die Heimkehrwillige zögern ließen: „Viele wollen ihre Kinder nicht in einem Land aufwachsen lassen, in der diejenigen mit dem meisten Geld immer Recht erhalten und die mit den dicksten Autos stets Vorfahrt haben.“