DeutschlandFDP-Chef Christian Lindner „möchte die Partei in die Regierung führen“

Deutschland / FDP-Chef Christian Lindner „möchte die Partei in die Regierung führen“
Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner während eines Interviews mit dem deutschen Fernsehsender ZDF Foto: dpa/ZDF/Marius Becker

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Für Christian Lindner ist der Urlaub schon wieder vorbei. Der Partei- und Fraktionsvorsitzende der FDP gibt in diesen Tagen viele Interviews und versucht zu erklären, warum es für die Liberalen gerade nicht so gut läuft. Unser Berliner Korrespondent Werner Kolhoff sprach mit dem 41-Jährigen.

Tageblatt: Die Corona-Demonstranten in Berlin haben „Freiheit“ gerufen. War das in Ihrem Sinne?

Christian Lindner: Die Idee von Freiheit und Bürgerrechten muss stärker sein als das Virus. Aber Freiheit entbindet nicht von Verantwortung. Wer fahrlässig oder gar vorsätzlich die Hygiene- und Abstandsregeln verletzt, setzt sich und andere großen Gefahren aus. Deshalb appelliere ich an alle, weiter umsichtig zu sein.

Im Moment steigen die Zahlen wieder. Was ist notwendig, um die Lage wieder in den Griff zu bekommen?

Wir brauchen eine systematische Teststrategie, vor allem für die Urlaubsheimkehrer. Für die Schulen brauchen wir eine digitale Unterrichtspflicht des Staates. Bund, Länder und Gemeinden müssen gemeinsam dafür sorgen, dass es auch bei steigenden Zahlen einen verantwortbaren Schulbetrieb gibt. Eine meiner größten Sorgen ist, dass wir sonst eine Chancenkrise bekommen, die die Spaltung der Gesellschaft noch verstärkt.

Ihre Partei ist in den Umfragen regelrecht abgestürzt und müsste gegenwärtig um den Wiedereinzug in den Bundestag bangen. Wie erklären Sie sich das?

Gemach. Wir lagen Anfang 2017 auch bei fünf Prozent und haben im Herbst dann 10,5 Prozent erhalten. Klar ist, dass wir wegen der Lage in Thüringen eine Irritation hatten. Das wirkt etwas nach, obwohl wir klargestellt haben, dass es keinerlei Zusammenarbeit mit der AfD geben kann. Außerdem scheinen sich viele Menschen trotz der Einschränkungen gegenwärtig mit der starken staatlichen Einflussnahme wohlzufühlen. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen.

Müssen Sie das bloß zur Kenntnis nehmen oder nicht eher Ihre Positionen hier und da korrigieren? Zum Beispiel Ihre Politik der Zurückdrängung des Staates.

Wir hatten schon immer ein differenziertes Bild vom Staat. Er muss dort, wo er wichtige hoheitliche Befugnisse hat, handlungsfähig sein. Bildung, Schule, Gesundheits- und Katastrophenschutz zum Beispiel. Aber er darf sich nicht auf Dauer in die Wirtschaft einmischen und mit ihr als Unternehmer verstricken, wie das bei der Commerzbank der Fall war. Und er darf auch nicht so versagen wie bei Wirecard.

Das Ziel eines handlungsfähigen Staates passt schlecht zu Steuersenkungen. Hat sich diese Forderung als Kernthema der FDP erledigt?

Nein. Es hat 15 Jahre lang keine Steuerreform mehr gegeben; die kleinen und mittleren Einkommen sind über Gebühr belastet. Übrigens auch die Beschäftigten im Gesundheitswesen. Und im internationalen Vergleich sind Arbeitsplätze in Deutschland gefährdet, weil unser Steuersystem nicht wettbewerbsfähig ist.

Braucht die FDP wieder mehr mitfühlenden Liberalismus, wenn jetzt viele Menschen ihren Job oder ihr Geschäft verlieren? Sie selbst haben diesen Begriff einst geprägt.

Das war und ist unser Programm. Auch wenn der Begriff oft missverstanden wird. Ich meine damit vor allem den Einsatz für sozialen Aufstieg, für Chancen.

Der Selbstständige, der sein Geschäft wegen Corona verliert, war schon aufgestiegen.

Deshalb muss die Politik jetzt für neue Arbeitsplätze sorgen. So sollte der Staat zum Beispiel dafür die Sozialbeiträge übernehmen. Das wäre ein richtiger Job-Turbo. Außerdem sollte man für Selbstständige und Soloselbstständige eine negative Gewinnsteuer einführen, sodass Verluste aus dem letzten Jahr mit Gewinnen im nächsten verrechnet werden. Um nur zwei Beispiele zu nennen.

Vorhin haben Sie die Mittelschichten steuerlich entlasten wollen, jetzt schlagen Sie massive zusätzliche Ausgaben vor. Wo sparen Sie eigentlich?

Wir hätten auf die Senkung der Mehrwertsteuer verzichtet, sie ist nicht zielgenau genug. Auch bei anderen Maßnahmen muss man nach der Treffsicherheit fragen. Die Schuldenquote des Staates sinkt im Übrigen nicht nur durch Sparen. Sondern noch viel schneller dann, wenn man es schafft, die Wirtschaft anzukurbeln. Dahin müssen wir wieder zurück.

Die Wahlplakate 2017 zeigten alle ausnahmslos: Christian Lindner. Wann beendet die FDP die One-Man-Show mit Ihnen?

Die gab es nie. Auch alle anderen Parteien haben damals ihre Spitzenkandidaten plakatiert. Allerdings fragen die Medien immer nur wenige Personen, nicht nur bei der FDP. Auch sie haben dieses Sommerinterview ja ausdrücklich nur mit dem Parteivorsitzenden führen wollen.

Nervt Sie die Frage?

Ich bin inzwischen erprobt im Umgang damit.

Warum trennen Sie nicht Fraktions- und Parteivorsitz? Dann hätten Sie gleich eine Verdopplung des politischen Spitzenpersonals und wir hätten vielleicht den Fraktionsvorsitzenden gefragt.

Die Kopplung hat sich in der Vergangenheit bewährt. Das hat auch Guido Westerwelle bis 2009 so gehalten, bis zur Übernahme der Regierungsverantwortung. Auch ich möchte meine Partei in Regierungsverantwortung führen.

Bis dahin soll die Konstellation so bleiben?

Das entscheidet am Ende natürlich meine Partei. Ich jedenfalls bin hoch motiviert, mit der FDP im kommenden Jahr in den Wahlkampf zu ziehen.