Wirecard-AffäreNowitschok-Formel in Österreich an flüchtigen Ex-Vorstand Marsalek geleakt

Wirecard-Affäre / Nowitschok-Formel in Österreich an flüchtigen Ex-Vorstand Marsalek geleakt
Markus Braun, ehemaliger Vorstandsvorsitzender bei Wirecard, war großzügiger Spender für österreichische Parteien Foto: dpa/Lino Mirgeler

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Der Wirecard-Skandal zieht auch in Österreich immer weitere Kreise. Der flüchtige Ex-Vorstand Jan Marsalek war offenbar über eine undichte Regierungsstelle in Wien an die Formel für das berüchtigte Nervengift Nowitschok gekommen.

Die während des Kalten Krieges in Moskau entwickelte Substanz war westlichen Geheimdiensten lange Zeit ein Rätsel. Wer darüber Informationen hatte, teilte sie nicht gerne. Die Formel der hochgiftigen, seit vergangenem November durch die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) geächteten Phosphorverbindung ist Verschlusssache. Dennoch kam ein Privatmann an den chemischen Bauplan: Jan Marsalek.

Im Sommer 2018 hatte der damalige Wirecard-Vorstand die brisanten Dokumente sogar Londoner Börsianern unter die Nase gehalten. Die Financial Times berichtete kürzlich über die skurrile Episode am Höhepunkt der Affäre um den zusammen mit seiner Tochter in Salisbury mit Nowitschok vergifteten russischen Ex-Doppelagenten Sergej Skripal. Die Vermutung, Marsalek könnte die Nervengift-Formel über seinen guten Draht nach Russland ergattert haben, dürfte jedoch falsch sein. Denn seit gestern steht fest: Der nach dem Auffliegen der Wirecard-Malversationen vermutlich in Russland untergetauchte Österreicher hatte ein Leak in seiner Heimat genützt.

Das österreichische Außenministerium hat bei der Staatsanwaltschaft Wien eine Sachverhaltsdarstellung wegen „möglicher Weitergabe vertraulicher Dokumente an unbeteiligte Dritte“ eingebracht. Die OPCW, als deren Mitglied Österreich über die Nowitschok-Daten verfügt, hatte die Bundesregierung zuvor über die Herkunft der von Marsalek herumgezeigten Papiere informiert. Demnach konnten diese über einen auf dem Deckblatt angebrachten Strichcode eindeutig dem österreichischen Datensatz zugeordnet werden.

Das Wiener Wirecard-Netzwerk

Wo genau in Wien sich das Datenleck befindet, wird Gegenstand von Untersuchungen sein. Fest steht jedenfalls, dass neben dem Außen- auch das Verteidigungs- und das Wirtschaftsministerium über die Nowitschok-Datei verfügen. Vor zwei Jahren war die von der FPÖ nominierte parteilose Putin-Freundin Karin Kneissl Außenministerin. Das Verteidigungsressort hatte die FPÖ inne, das Wirtschaftsministerium die ÖVP. Zu beiden Parteien pflegten Marsalek und der ebenfalls aus Österreich stammende Wirecard-Boss Markus Braun intensive Kontakte.

Dennoch versuchte die nun mit den Grünen regierende Volkspartei, aus der Wirecard-Affäre einen SPÖ-FPÖ-Skandal zu machen. Für vergangenen Dienstagabend hatte Bundeskanzler Sebastian Kurz dafür den Nationalen Sicherheitsrat einberufen. Zu dem Zeitpunkt war das Nowitschok-Leak noch kein Thema, dafür kaum weniger brisante Wiener Wirecard-Connections: Im Zuge der Ermittlungen zum Ibiza-Skandal waren auf dem beschlagnahmten Handy des früheren stellvertretenden FPÖ-Chefs Johann Gudenus Hinweise gefunden worden, wonach Marsalek die FPÖ mit Informationen aus dem im Einfluss der ÖVP stehenden Bundesamt für Verfassungsschutz (BVT) versorgt haben soll. Diese Spitzeltätigkeit hatte mit dem Wirecard-Geschäft ebenso wenig zu tun wie ein angeblicher Plan Marsaleks für eine Miliz mit 15.000 Söldnern, die in Libyen unter dem Deckmantel eines Wiederaufbauprojekts die Südgrenze gegen Migranten abschotten sollte.

Das Verteidigungsressort in Wien hat Gespräche mit einer nicht näher definierten deutschen Expertengruppe bestätigt, die 2017 unter Ex-Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil (SPÖ) begonnen haben und sich bis 2018 unter dessen Nachfolger Mario Kunasek (FPÖ) zogen. Ergebnisse gab es keine. Aber allein das Nachdenken über die Unterstützung einer ausländischen Söldnertruppe durch das stets auf seine Neutralität bedachte Österreich birgt enorme politische Sprengkraft. Doskozil und Kunasek wiesen den Vorwurf denn auch am Montag auf einer gemeinsamen Pressekonferenz als „mehr als skurril“ zurück.

Kurz kurz mal krank

Dennoch berief die ÖVP aus Sorge „um Österreichs Sicherheit und Neutralität“ den Nationalen Sicherheitsrat ein. Doch die Sitzung platzte kurz vor Beginn. Der Kanzler meldete sich nämlich kurzfristig krank (um am Morgen darauf schon wieder ganz fit eine Pressekonferenz zu geben). Ob die Beratungen tatsächlich nur aus Gesundheitsgründen gecancelt werden mussten, bezweifelt die Opposition. Der Verdacht: Kurz passte es nicht in den Kram, dass nicht nur seine Agenda besprochen werden sollte, sondern auch die Wirecard-Connection der ÖVP.

Markus Braun hatte im Wahlkampf 2017 den Türkisen 70.000 Euro gespendet und war auch gemeinsam mit Kurz aufgetreten. Braun war auch Mitglied im Thinktank „Think Austria“, den Kurz im Kanzleramt eingerichtet hat. Der Kanzler rechtfertigte dies mit dem Hinweis, dass Braun „einer der erfolgreichsten Manager im Digitalbereich“ im deutschsprachigen Raum gewesen sei. Allerdings: Ernsthafte Zweifel an der Redlichkeit der Wirecard-Geschäftsgebarung hatte es schon lange vor dem Platzen des Skandals gegeben. Braun hatte übrigens auch die oppositionellen Neos gesponsert – diese sogar mit 125.000 Euro.

Neben den innenpolitischen Turbulenzen, welche die Wiener Wirecard-Verflechtungen verursachen, droht auch außenpolitisches Ungemach. Denn das Nowitschok-Leak könnte einmal mehr das ohnehin schon angeknackste Vertrauen westlicher Geheimdienste in die Österreicher erschüttern. Schon 2018 hatte sich das BVT mehr oder weniger „freiwillig“ vorübergehend aus der sogenannten Berner Gruppe internationaler Nachrichtendienste zurückgezogen, weil nach der Übernahme des Innen- und Verteidigungsministeriums durch die intensive Beziehungen zur Putin-Partei „Geeintes Russland“ pflegende FPÖ Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit Österreichs aufgekommen waren. Diese wurden genährt durch eine vom damaligen Innenminister Herbert Kickl forcierte Hausdurchsuchung beim BVT.

Wenn in Wien offenbar geheimste Dokumente aus Ministerien an irgendwelche außenstehende „Haberer“ gehen können, hat Österreich ein gravierendes Problem, über das die Partnerdienste wohl nicht nonchalant hinwegsehen können.