RetroWie Andy Schleck die Tour 2010 gewann (6/8): „Die verflixte Kette“

Retro / Wie Andy Schleck die Tour 2010 gewann (6/8): „Die verflixte Kette“
Andy fummelt an der Kette, die anderen fahren an ihm vorbei Foto: „Goldene Zeiten“/Petz Lahure

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Vor zehn Jahren beendete Andy Schleck die Tour de France hinter Alberto Contador auf dem 2. Platz, wurde aber am 6. Februar 2012 wegen einer positiven Dopingprobe des Spaniers zum Sieger erklärt. Das „Maillot jaune“ bekam er am 29. Mai 2012 im Mondorfer Casino übergestreift. In einer achtteiligen Folge erzählt Petz Lahure, wie es zu dem historischen fünften Luxemburger Tourerfolg kam. Heute (6/8): „Die verflixte Kette“.

Gelbes Trikot, gelber Helm, gelbes Velo und weiß-schwarze Hose: In diesem „Outfit“ präsentierte sich Andy Schleck ab dem „14 juillet“ am Start. Der Leader der Tour de France 2010 hatte seine Utensilien dem „Maillot jaune“ angepasst, das ihm zwei Schönheiten jeden Abend auf dem Siegerpodest umlegten. Die Hose sollte ein Wink sein an das „Maillot blanc“, das Andy zusätzlich zum gelben Leibchen sein Eigen nennen durfte.

Erste Warnung

Weil es aber laut Reglement nicht gestattet war (und weiterhin ist), zwei Trikots auf einmal anzuziehen, fuhr der Zweite dieses Klassements, der Holländer Robert Gesink, in Weiß über die französischen Landstraßen. Besitzer des Trikots und Prämienkassierer aber war Andy Schleck.

Eine erste Warnung für den Luxemburger gab es beim kurzen Anstieg der Côte de la Croix-Neuve – Montée Laurent Jalabert in Mende, wo die beiden Tourfavoriten sich nichts schenkten. Hier nahm Alberto Contador Revanche für die in Morzine erlittene Niederlage, machte die dort eingebüßten 10 Sekunden wett und lag, genau wie vor dem Einstieg in die Alpen, nur noch 31 Sekunden hinter seinem großen Rivalen in der Gesamtwertung.

Abgehängt

Rund 2,2 km vor dem Ziel auf dem Flugfeld in Mende-Brenoux, dort, wo die Schlussszene des Films „La Grande Vadrouille“, mit Bourvil und Louis de Funès in den Hauptrollen, gedreht wurde, konterte Contador auf der linken Straßenseite einen Angriff aus dem Hauptfeld und merkte bald, dass Leader Andy Schleck nicht folgen konnte.

Schnell schloss der zweifache Toursieger mit seinem Landsmann Joaquim Rodriguez am Hinterrad zu den Ausreißern des Tages auf und ließ sie sogleich stehen. Auf der flachen Passage zum Ziel konnte Schleck wieder Terrain gutmachen. Im Ziel betrug sein Rückstand nur mehr zehn Sekunden. Contador verlor die Etappe im Sprint gegen Rodriguez.

Voreilige Schlüsse waren aus dieser Etappe nicht zu ziehen. Contador verbuchte einen moralischen Erfolg, doch blieb die Ausgangslage im Hinblick auf den Toursieg sozusagen die gleiche.

Schlüsseletappen

„Drei der vier Pyrenäen-Etappen werden die Entscheidung bringen“, hatte Andy Schleck im Vorfeld der Tour gesagt, wobei er gleich betonte, dass das Teilstück zwischen Bagnères-de-Luchon und Pau sich kaum für eine „spezielle Nummer“ eignen würde. Für ihn kamen also nur die Auffahrt zum Plateau de Bonascre in Ax 3 Domaines, die Etappe über den „Kim-Kirchen-Berg“ Port de Balès und die Ankunft auf dem Scheitel des Col du Tourmalet infrage.

Die erste dieser drei Etappen gebar eine Maus. Die beiden Haupanwärter auf den Gesamtsieg neutralisierten sich und gaben ihren direkten Verfolgern in der Gesamtwertung, Samuel Sanchez und Denis Mentschow, Gelegenheit, sich ihnen zu nähern. Mentschow (2.) und Sanchez (3.) trafen 54 Sekunden hinter dem überraschenden Sieger Christophe Riblon im Ziel ein und lagen 14 Sekunden vor Andy Schleck (4.) und Alberto Contador (7.), die mit einer kleinen Gruppe über den Strich fuhren.

Im letzten Anstieg versuchte Alberto Contador mehrere Male, Andy Schleck abzuhängen. Alle seine Versuche aber fruchteten nichts. Schleck konterte immer wieder mit Erfolg und blieb im Hinterrad des Spaniers. Selbst wollte er die Initiative nicht ergreifen, sodass man sich im Anstieg manchmal wie bei einem Sprinterrennen auf der Bahn vorkam.

Welch ein Pech!

Der Psycho-Krieg in der Steigung nach Ax 3 Domaines endete ohne Sieger. Es gab wie beim Schach eine Hängepartie, die tags darauf (Montag, den 19. Juli) zwischen Pamiers und Bagnères-de-Luchon ausgetragen werden sollte. Beim Start am Morgen strotzte Andy noch vor Selbstvertrauen. Am Abend aber war er zu Tode betrübt, denn das Gelbe Trikot gehörte nun seinem spanischen Kontrahenten.

Es war kein sportlicher Kraftakt, der das „Maillot jaune“ von den Schultern Schlecks auf diejenigen von Contador beförderte. Vielmehr musste ein sogenannter „incident de course“ herhalten, um Andy seiner Tunika zu entledigen. Der Tour-Gewinner von 2007 und 2009 bugsierte sich dadurch an die Spitze.

Im Port de Balès blieben noch rund anderthalb km zu ersteigen, als Andy Schleck attackierte und schnell 30 Meter Vorsprung herausfuhr. Als Erster folgte Alexander Winokurow, während Alberto Contador sich in dem Augenblick im Feld befand. Dann schlug Andys Kette Purzelbäume. Während der Luxemburger in seinem Elan gestoppt wurde, reagierte der Spanier blitzschnell. Er preschte heran, zog an Schleck vorbei und machte sich mit Mentschow und Sanchez auf und davon.

„Jetzt erst recht“

Andy setzte die Füße zu Boden, fummelte nervös an der Kette, drehte am rechten Pedal und stieg wieder in den Sattel. Die Apparatur aber funktionierte nicht, sodass der Träger des Gelben Trikots zum zweiten Mal absteigen musste. Als die Kette endlich drauf lag, wurde Andy von zwei Saxo-Bank-Helfern angeschoben, doch waren wertvolle Sekunden hin. Oben auf dem Balès lag Schleck 27 Sekunden zurück, im Ziel notierte man deren 39. Und weil Andy vor der Etappe nur einen Vorsprung von 31“ auf Contador hatte, musste er das „Maillot jaune“ bis auf weiteres abschreiben.

„Den Tour ass op alle Fall nach net eriwwer“, war das Erste, was Andy Schleck nach dem schwarzen Montag zwischen Pamiers und Bagnères-de-Luchon in die Mikrofone sagte. „Ech wäert méng Revanche huelen. Dat kann ech iech verspriechen.“ Andy, der sechs Tage lang das Gelbe Trikot trug, wollte das Leibchen auf den verbleibenden Etappen zurückerobern. „Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, die Rundfahrt doch noch zu gewinnen. Jetzt erst recht.“

Ins Gelbe Trikot „gemogelt“: Alberto Contador
Ins Gelbe Trikot „gemogelt“: Alberto Contador Foto: Marie-Paule Schock

Präzedenzfälle

Gewiss handelte es sich bei dem Vorfall um einen sogenannten „incident de course“ (was auch immer das sein mag), doch brachten Contador und andere sich dadurch nicht als Kandidaten für einen „Fairplay“-Preis ins Gespräch. So hinterließ die Etappe bei jedem „Suiveur“ ein mulmiges Gefühl. Irgendwie stimmte etwas nicht. Ein Unschuldiger wurde seines Guts beraubt, aber niemand traute sich so recht, mit dem Finger auf den oder die Diebe zu zeigen.

In der Sportgeschichte, auch in der Tour de France, gab es Präzedenzfälle, bei denen das „Maillot jaune“ durch Fremdeinwirkung in Gefahr geriet und der Gegner nicht probierte, daraus Nutzen zu ziehen.

„Eine Schande“

Erinnert sei an die vielleicht bekannteste Szene, als der in Gelb gekleidete Lance Armstrong im Anstieg nach Luz-Ardiden von einem Zuschauer, der am Straßenrand stand, zu Fall gebracht wurde. Jan Ullrich und seine Begleiter fuhren anfangs weiter, doch als sie merkten, was geschehen war, warteten sie auf den „Boss“, der später dann auch die Tour gewann.

Einen anderen Vorfall zwischen beiden Fahrern gab es, als Ullrich (allerdings nicht in Gelb) in eine Böschung fuhr und stürzte, Armstrong ihn aber abwartete. Nach Andys Kettenabsprung drückte Armstrong sich denn auch dementsprechend klar aus: „So das Trikot zu verlieren, ist eine Schande. Es wäre besser gewesen, wenn man auf Schleck gewartet hätte.“

Nichts dergleichen passierte. Kettenabsprünge, Stürze und dergleichen gehören zwar zu einem Radrennen, doch ist es immer wieder schade, wenn die Entscheidung durch einen außersportlichen Vorfall herbeigeführt wird. Contador hatte von Schlecks Pech profitiert. Das war sein gutes Recht, auch solches gehört (mit Vorbehalt) zum Sport.

Acht Sekunden

Weitaus weniger Verständnis aber konnte man für die Erklärung des Spaniers aufbringen, er hätte den Vorfall nicht bemerkt. Sollte das stimmen, musste Contador in besagtem Augenblick auf beiden Augen blind gewesen sein.

Der Kettenabsprung vom Port de Balès zeigte einmal mehr, dass es bei einem Radrennen nicht viel braucht, um Träume platzen zu lassen. Die Tour de France aber war durch diesen Zwischenfall noch lange nicht entschieden. Alberto Contador, der mit 39 Sekunden Vorsprung auf Andy Schleck im Ziel eingetroffen war, lag in der Gesamtwertung nur acht Sekunden vor dem Luxemburger. Auf dem Streckenplan standen noch mehrere schwere Etappen. Zweimal sollte es den Tourmalet (Dienstag, 20. und Donnerstag, 22. Juli) hoch gehen. Dazwischen war der Ruhetag in Pau eingeplant.

Serie

In einer achtteiligen Serie von Petz Lahure blickt das Tageblatt auf den Tour-Sieg von Andy Schleck aus dem Jahr 2010 zurück. Der 7. Teil, „Chef auf dem Tourmalet“, folgt am kommenden Mittwoch, 22. Juli.