EditorialDenunziantenstaat: Der Kampf gegen das Virus eröffnet neue Kontrollwelten

Editorial / Denunziantenstaat: Der Kampf gegen das Virus eröffnet neue Kontrollwelten
Sollten die Bürger die Polizei verständigen, wenn sie Verstöße gegen die Corona-Gesetze beobachten? Gesundheitsministerin Paulette Lenert und Premierminister Xavier Bettel sind sich in dieser Frage offenbar nicht ganz einig. Foto: Editpress/Julien Garroy

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Aus Angst vor einer zweiten Corona-Welle hält die Regierung an den Einschränkungen der individuellen Freiheiten fest. Ausschlaggebend sind die Infektionszahlen, die seit Ende Juni wieder leicht ansteigen. In der vergangenen Woche wurden laut Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) 289 Neuansteckungen festgestellt, fast doppelt so viele wie in der Woche davor. Das Durchschnittsalter der Infizierten liegt bei 34 Jahren, die Zahl der Menschen, die wegen Covid-19 im Krankenhaus behandelt werden, ist überschaubar. Intensivpatienten gibt es kaum noch, der letzte Todesfall wurde am 26. Mai registriert. Die meisten Menschen würden sich bei kleinen privaten Zusammenkünften im Freundes- und Familienkreis anstecken, erklärte Lenert gestern und relativierte damit die vor zehn Tagen von Staatsminister Xavier Bettel (DP) verbreitete und diese Woche im Parlament mehrmals zitierte Hypothese, große Privatpartys mit über 100 Teilnehmern seien an der Verbreitung des Coronavirus schuld.

Trotzdem wird im neuen Covid-19-Gesetzesprojekt, das am Donnerstag vom Parlament verabschiedet werden soll, die Einschränkung von Zusammenkünften noch einmal verschärft. Die Begrenzung auf maximal 20 Personen soll vom öffentlichen in den privaten Raum ausgedehnt werden. Wie schon bei den ersten beiden Covid-19-Gesetzen weist der Staatsrat in seinem Gutachten darauf hin, dass Einschränkungen im privaten Raum notwendig und verhältnismäßig sein müssen und überdies nur schwer zu kontrollieren sind. Im Unterschied zum öffentlichen Raum hat die Polizei laut Verfassung und europäischer Menschenrechtskonvention nicht das Recht, im privaten Raum Kontrollen durchzuführen, es sei denn, der Organisator oder ein Gast würde die Veranstaltung „denunzieren“, schreibt der Staatsrat.

Bettel hat bereits mehrfach bekundet, er wolle nicht in einem Denunziantenstaat leben. Ein LinkedIn-Post des CSSF-Direktors Claude Marx, der förmlich zum „Name and shame“ bei Verstößen gegen die Einschränkungen aufgerufen hatte, hat in den sozialen Netzwerken Empörung ausgelöst. Lenert drückte sich am Mittwoch im Parlament etwas vorsichtiger aus: „Wenn wir sehen, dass dort, wo Leute zusammen feiern, auf einmal nicht mehr aufgepasst wird, wäre es unverantwortlich, nicht darauf aufmerksam zu machen“, mahnte die Gesundheitsministerin. Ob es ihr nur darum ging, dass „zivilcouragierte“ Bürger die Beteiligten auf ihre Unachtsamkeit hinweisen, oder ob sie tatsächlich dazu aufrief, die Polizei zu verständigen, ließ die derzeit beliebteste Politikerin Luxemburgs offen.

Im privaten Raum stellt sich aber noch ein anderes Problem. Wie Lenert gestern berichtete, seien mehrere Neuinfektionen auf zwei Wohngemeinschaften zurückzuführen, in denen jeweils rund 20 Menschen auf engstem Raum und unter schlechten Hygienebedingungen zusammenleben. Weil viele von ihnen „schwarz“ arbeiten, gestaltet sich die Kontaktverfolgung schwierig. Diese Beispiele zeigen, dass es auch in Luxemburg die Ärmsten sind, die am meisten unter der Corona-Krise leiden. Ihr Verstoß gegen die private Versammlungsbeschränkung ist nicht ihrer Unaufmerksamkeit oder schlechtem Willen geschuldet. Sie haben einfach keine andere Wahl. Dank der Corona-„Rasterfahndung“ wurden jetzt nicht nur ihre Infektionen, sondern auch ihr soziales Elend aufgedeckt. Der Staat oder die zuständigen Gemeinden werden die Betroffenen nun hoffentlich nicht bestrafen, sondern sie bei der Suche nach einer ordentlichen Wohnung unterstützen, die ihnen die Einhaltung der Corona-Regelungen überhaupt erst ermöglicht.

J.C.Kemp
17. Juli 2020 - 9.45

@Nomi: Pescht, Cholera, Typhus, spuenesch (nord-amerikanesch!) Grippe, a fir d'lescht nach 1958 Polio.

Duschtert
13. Juli 2020 - 17.25

@Nomi: D'Pescht a Mëtteleuropa?

zillerthaal
13. Juli 2020 - 13.04

@ Nomi "Dei’ di Versammlungsfreiheit an d’Constitutio’un geschriwen hun, haten nach keng Pandemie kannt !" Dach schonn, Mä déi wossten och dass Leit, déi sech net un d'Gesetzer halen an de Klemmes kommen an do hunn se mol keng Beweegungsfräiheet.

J.Scholer
13. Juli 2020 - 8.01

Ich denunziere, jene unverantwortliche Politik , die angesichts der noch immerwährenden Bedrohung durch das Virus, im Interesse „ vun Jux an Zodi“ die Städte für Veranstaltungen , Feste geöffnet hat . Ich denunziere die Tatsachen , der Mensch unbesonnen und dumm, sich angesichts der der Sonntagsreden so manch Lokalpolitiker, die noch eminente Gefahr der Pandemie verkannt hat. Ich denunziere, jene Spassvögel , die glaubten in Party und Feierlaune, die kompetente Politik unserer Gesundheitsministerin, die Arbeit der Gesundheitsberufe, der systemrelevanten Berufe zunichte gemacht , sie mit Füßen getreten haben.Ich denunziere , die Unverantwortlichkeit so manch Gewerbetreibenden, Bürger sich über alle Bestimmung zur Eindämmung der Pandemie hinwegzusetzen und der Allgemeinheit Schaden, Krankheit zuzufügen.Man ziehe die Verantwortlichen zur Rechenschaft.

Nomi
12. Juli 2020 - 22.23

Dei' di Versammlungsfreiheit an d'Constitutio'un geschriwen hun, haten nach keng Pandemie kannt !

Claude Clemens
12. Juli 2020 - 13.53

Sorry liebes Tageblatt und viele andere (die meisten) Luxemburger Medien, resp. Leserbeiträge-Schreibende, aber in einer noch nie dagewesenen Situation (Pandemie) von einer noch nie dagewesenen Tragweite (Corona ist ziemlich weit verbreitet und ziemlich tödlich, von den 8.000 SARS-Infizierten und 800 SARS-Toten sind wir bereits Lichtjahre entfernt) im Kontext dieses Artikels immer gleich von "denunzieren" zu sprechen, ist realitätsfern. Es gibt Regeln (mittlerweile "Empfehlungen") und an die hat man sich zu halten - immer, so gut es geht, und vielleicht noch mehr wenn es um die Gesundheit ALLER geht. Ich habe Bilder von einem Hotspot in der Hauptstadt nahe des Palais gesehen am Vorabend des Nationalfeiertag ... sorry, da sind wir nicht bei denunzieren ("anzeigen aus niederen Beweggründen") sondern einfach bei gesundem Menschenverstand. Und gesund war das nicht, was da abging.... Auch der Versuch der Horesca, Lokalbetreiber aus der Verantwortung zu nehmen, ist komplett daneben: die Regeln sagen es wird nur serviert an Menschen mit Sitzplatz, das ist ziemlich klar und eindeutig und einfach einzuhalten und zu überprüfen. Natürlich sind Grund- und Menschenrechte wichtig, die Privatsphäre, Versammlungsfreiheit etc. Aber derzeit werden darüber teilweise theoretische Diskussionen geführt, die fernab jeder Realität sind. Und auch wenn das für Grundrechte nicht schön ist, wäre es besser sich dieser Realität (mittlerweile wieder ca. 600 aktive Fälle) realistischer zu nähern, als graue Theorie zu beschwören. Noch ein Wort zum "état de crise", den ja auch keiner will (ich auch nicht), der aber nun mal als Instrument wenn es wirklich schlimm kommt in der Verfassung steht. Ich habe immer gedacht, die Covid-Gesetze sollten etwas "état de crise"-Ähnliches herstellen, mit der Möglichkeit schnell zu handeln aber gleichzeitig verbessertem parlamentarischen Rahmen. Damit jeder zufrieden ist. Aber die Covid-Gesetze schreiben einfach nur einen Ist-Zustand fort. Wenn es erneut hart auf hart kommt und es schnell gehen muss, was bleibt anderes übrig als erneut den "état de crise" zu benutzen??? Dann noch ein Wort zum Parlament und Bodrys Ausspruch "Ma merde, mir sinn de Législateur!" Weder im Kontext dieser Aussage (Polizei-Datenbanken) noch im Corona-Kontext hat das Parlament dieser absolut zutreffenden Aussage Taten folgen gelassen und ist SELBST aktiv vorangegangen und hat Texte erarbeitet. Es läuft immer noch alles nach Schema X: die Regierung schlägt vor, das Parlament segnet ab, die Opposition regt sich auf. Eigeninitiative des "législateur": Fehlanzeige. Die Luxemburger Politik ist zu einem Spiel geworden, das man eigentlich nicht mehr ernst nehmen kann. Höchste Zeit, dass die VolksVERTRETER ihren Auftrag wieder eigenständig und mit Selbstbewusstsein interpretieren!

luc jung
12. Juli 2020 - 11.13

Man sollte den Unterichtsminister als ersten denunzieren. Der kennt keine Schutzmassnahmen. Der aktuelle Schulbetrieb ist ein Fiasko. Herr Böttel, gute Arbeit wurde bis jetzt geleistet. Doch bitte schauen sie genauer auf Schule und Lyzeen. Hier liegt viel krumm. Danke an Frau Minister Lenert für eine sehr gute Arbeit in schweren Zeiten.

J.Scholer
12. Juli 2020 - 9.34

Nun mag man es wenden und drehen wie man es will, das Denunziantentum ist das persönliche Richten über eine Person, man selber durch diese Handlung sich schuldig macht.Wikipedia schreibt trefflich zum Denunziantentum:“...öffentliche Beschuldigung aus nicht selten niedrigen persönlichen oder politischen Beweggründen einer Person oder Gruppe , von deren Ergebnissen der Denunziant sich selber oder den durch ihn vertretenen Interessen einen Vorteil verspricht.“Zu empfehlen das Buch des promovierten Historiker , Literaturwissenschaftler Günter Scholdt, Anatomie einer Denunzianten-Republik.

josi trotinetti alias boufermamm
11. Juli 2020 - 18.46

Recht so, wer nicht hören will muss fühlen. Es steht schliesslich unser aller Gesundheit - die Gesundheit jedes Einzelnen - auf dem Spiel. Bei Nichteinhalten der Schutzmassnahmen muss wesentlich konsequenter und strenger durchgegriffen werden.

Vakanz ade
11. Juli 2020 - 18.19

Was heißt hier Denunziantenstaat? Ist der Regierung eigentlich bewusst was sie mit ihrer laxen Haltung angerichtet hat? Anstatt dem Druck der Horesca nachzugeben hätte man die Gaststätten länger geschlossen halten sollen. Wirtschaftliche Kriterien überwogen hier offensichtlich die sanitären. Das Resultat ist die regelmässige Ansammlung von Menschentrauben sowohl in als auch vor den Lokalen. Hauptsächlich (aber nicht nur) in der Hauptstadt. Maskenpflicht und Abstand sind hier Fehlanzeige! Strenge Polizeikontrollen und hartes Durchgreifen tun Not! Das sich anbahnende Einreiseverbot in immer mehr Ländern droht in einer Katastrophe zu enden und könnte das Aus für die Reisebranche (inklusive Luxairtours) hierzulande bedeuten. Die Regierung und der Staatsrat könnten die Leute um ihre wohlverdiente Urlaubsreise gebracht haben. Vom finanziellen Verlust der Familien und dem Prestigeverlust unseres Landes gar nicht zu sprechen. Hier greift keine Reiserücktrittsversicherung. Würde die Regierung den Bürgern die Kosten erstatten? Wieso musste ausgerechnet die jetztige Koalition katholischer als der Papst sein und das Testen derart ausweiten wohlwissend dass wir dadurch einen affichierten zahlenmäßigen Nachteil haben würden. Ist doch ein Witz dass Luxemburg schlechter da stehen soll als die Corona Champions Italien, Spanien Frankreich und England etc. Hier brockt die Regierung ihren eigenen Bürgern einen Nachteil gegenüber den anderen Ländern ein. Europaweit einzigartig. Das muss man fertigbekommen. Bravo gut geschafft! Die Wiedereröffnung der Schulen war übrigens ein Fiasko und anderswo mussten schon Minister für weniger den Hut nehmen. Aber wir sind ja in Luxemburg! Trotzdem möchte ich an dieser Stelle Frau Paulette Lenert meine Hochachtung aussprechen. Sie hat einen super Job gemacht, konnte sich aber scheinbar gegen einige liberale und wirtschaftsfreundliche Puristen in Regierung und Staatsrat leider nicht durchsetzen. Ein extrem aufgebrachter Bürger (und Steuerzahler)

Tarchamps
11. Juli 2020 - 12.48

Denunziant? Hier werden Leute nicht wegen ihrer politischen oder religiösen Gesinnung 'denunziert' sondern weil sie andere Menschen krank oder tot machen. Ein kleiner aber feiner Unterschied.