SerbienKrawalle und steigende Todeszahlen setzen Präsident Vucic unter Druck

Serbien / Krawalle und steigende Todeszahlen setzen Präsident Vucic unter Druck
Die Wut auf Vucic wächst: In Belgrad kam es zu blutigen Corona-Ausschreitungen Foto: AFP/Oliver Bunic

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Nicht nur die Corona-Epidemie gerät in Serbien zunehmend außer Kontrolle. Die Wut über vertuschte Infektions- und Todeszahlen, überfüllte Kliniken und das für die Parlamentswahl fahrlässig außer Kraft gesetzte Versammlungsverbot beginnt sich gegen den allgewaltigen Präsident Vucic zu kehren.

Tränengasschwaden, Steinwürfe, Polizeisirenen und Knüppelschläge: Erst in den frühen Morgenstunden kehrte am Mittwoch nach den heftigen Krawallen im Zentrum von Serbiens Hauptstadt Belgrad wieder Ruhe ein. 60 verletzte Gesetzeshüter und Demonstranten und fünf ausgebrannte Streifenwagen vermeldete die Polizei nach den blutigen Corona-Ausschreitungen. „Gewalt! Hooligans drangen ins Parlament ein!“, titelte am Mittwochmorgen aufgebracht das regierungsnahe Boulevardblatt Kurir.

„Mörder!“, „Verhaftet Vucic!“, skandierten Tausende Demonstranten bei dem nächtlichen Spontanprotest. Es war nicht nur die Wut über die von Staatschef Aleksandar Vucic kurz zuvor erneut angedrohte Verhängung der Ausgangssperre, die empörte Bürgerrechtler, Studenten, Familienväter und rechtsextreme Skinheads gleichermaßen empört auf die Straße trieb. „Die Unverantwortlichkeit, die Serbien tötet“, titelte angesichts steil ansteigender Infektions- und Totenzahlen das regierungskritische Webportal „nova.rs“: „Der Hauptschuldige für den erneuten Lockdown ist nicht das Volk, sondern Vucic.“

Tatsächlich scheint die Coronaepidemie bei dem EU-Anwärter zunehmend außer Kontrolle zu geraten. Gleichzeitig sieht sich der autoritär gestrickte Landesvater ungewohnt harten Gegenwinden ausgesetzt. Kritiker werfen ihm vor, zur Durchführung der von seiner nationalpopulistischen SNS klar gewonnenen Parlamentswahl am 21. Juni fahrlässig das Versammlungsverbot aufgehoben, die Infektionszahlen manipuliert und das Ausmaß der Epidemie vertuscht zu haben.

Die von ihm forcierte Genehmigung von Wahlkundgebungen, des Belgrader Fußballderbys oder des Tennisspektakels der von Novak Djokovic initiierten Adria Tour fällt auf Vucic nun genauso zurück wie die Infizierten nach der Wahlparty der SNS oder seine wochenlangen Versicherungen, dass die Epidemie dank seiner Anstrengungen „unter Kontrolle“ und besiegt sei.

Die Zahl der Toten und Erkrankten wird um ein Vielfaches vermindert

Zoran Radanovic, Epidemiologe

Auch der gefühlskalte Mangel an Empathie der nach dem Vorbild ihres Vormanns bewusst gerne herrisch und selbstgerecht auftretenden SNS-Amtsträger beginnt sich zu rächen. Als Bewohner der von der Epidemie besonders hart getroffenen Provinzstadt Novi Pazar Ende Juni Regierungschefin Ana Brnabic aufgebracht die Namen ihrer verstorbenen Angehörigen zuriefen, sprach sie kühl von politisch instruierten Krawallmachern.

Dann kam das kleine Mädchen mit der Infusion

Die offizielle Zahl der täglich Neuinfizierten ist erstmals seit April wieder über die Grenze von 300 geklettert, doch die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher liegen. Vor allem die offensichtlich wochenlang nach unten manipulierten Infektions- und Totenzahlen haben Serbien im In- und Ausland Glaubwürdigkeit gekostet. Allein am 2. Juli seien statt der offiziell vermeldeten 6 insgesamt 52 Patienten am Coronavirus verstorben, berichtete kürzlich der Epidemiologe Zoran Radanovic mit Verweis auf ihm zugespielte Berichte der behandelnden Ärzte: „Die Zahl der Toten und Erkrankten wird um ein Vielfaches vermindert.“

Er demonstriere für seinen an Corona verstorbenen Vater, der keinen Platz an einem Beatmungsgerät erhalten habe, sagte in der Nacht zum Mittwoch Petar Djuric aus Majdanpek einer TV-Reporterin. Nicht zuletzt der Widerspruch zwischen den Propagandabotschaften von Vucic und der von seinen verzweifelten Landsleuten erlebten Realität des Mangels an Ärzten, Betten und Tests beginnt dessen Ruf als allmächtiger Macher zu untergraben. Während er das Krankenhaus in Novi Pazar „als besser ausgestattet als jede deutsche Klinik“ pries, gingen die Bilder eines Mädchens über den Äther, dem eine Pflegerin auf dem Balkon des völlig überfüllten Spitals im Freien eine Infusion anlegte.