RetroWie Andy Schleck die Tour 2010 gewann (2/8): Ein Prolog zum Vergessen – Cancellara als Retter

Retro / Wie Andy Schleck die Tour 2010 gewann (2/8): Ein Prolog zum Vergessen – Cancellara als Retter
"Bitte warten“: Fabian Cancellara übernimmt auf den belgischen Strassen die Rolle des Chefs der Tour Foto: „Goldene Zeiten“/Petz Lahure)

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Vor zehn Jahren beendete Andy Schleck die Tour de France hinter Alberto Contador auf dem zweiten Platz, wurde aber am 6. Februar 2012 wegen einer positiven Dopingprobe des Spaniers zum Sieger erklärt. Das „Maillot jaune“ bekam er am 29. Mai 2012 im Mondorfer Casino übergestreift. In einer achtteiligen Folge erzählt Petz Lahure, wie es zu dem historischen fünften Luxemburger Tour-Erfolg kam. Heute (2/8): „Ein Prolog zum Vergessen – Cancellara als Retter“.

„Das war der schwierigste Tour-Prolog meiner Karriere“, meinte Fabian Cancellara im Ziel. „Tony Martin war eine gute Zeit gefahren, danach regnete es, und ich besichtigte die Strecke im Auto noch einmal, um genau zu wissen, was ich in jeder Kurve machen musste. Und plötzlich kam die Sonne, ich hatte etwas Glück, machte auch keinen Fehler und zeigte, wie stark ich bin. Über dieses ’Maillot jaune’ freue ich mich besonders.“

Regen in Rotterdam

Der Prolog führte durch das Zentrum von Rotterdam, wo Hunderttausende von Leuten stundenlang im Regen ausharrten, um die Tourfahrer lautstark zu unterstützen. Sowohl die „Erasmusbrug“ als auch die „Willemsbrug“ mussten überquert werden. Vom Start bis ins Ziel am „Zuiderpark“ gab es allerdings kaum Schwierigkeiten. Auch waren nur wenige Kurven zu fahren.
Wegen der zu erwartenden Schauern bauten einige Teamchefs vor. Sie beorderten ihre Spezialisten relativ früh an den Start. Das war beispielsweise der Fall für die Columbia-Mannschaft, die Tony Martin schon um 16.25 Uhr auf den Parcours schickte. Es war denn auch verständlich, dass der Deutsche auf den nur leicht angefeuchteten Straßen Bestzeit fuhr.
Martin legte die 8,9 km in zehn Minuten und zehn Sekunden zurück, eine Zeit, die zu diesem Zeitpunkt um 25 Sekunden besser war als diejenige von Brent Bookwalter von BMC, dessen Name bis dahin ganz oben im Klassement stand.

Die richtige Taktik

Mit seiner frühen Startzeit schien der Deutsche die richtige Taktik gewählt zu haben, denn der ehemalige Weltmeister in der Disziplin, Bert Grabsch (Columbia), büßte 40 Sekunden ein. Bradley Wiggins (Sky), der als Mitfavorit auf das erste „Maillot jaune“ antrat, verlor gar 46“. Im Ziel sagte er dem Fernsehsender BBC, dass er kein Risiko eingehen wollte. „Hauptsache war, einfach gesund und ohne Sturz durch den Kurs zu kommen“, so Wiggins.
Dies schaffte der Schweizer Mathias Frank nicht. Er ging auf der glatten Fahrbahn zu Boden, brach sich den Daumen und zog sich Verletzungen am Bein zu. Für den BMC-Fahrer war die Tour demnach schon nach wenigen Kilometern vorbei. Unterdessen schob sich Geraint Thomas vom Sky-Team auf den zweiten Rang mit 13 Sekunden Rückstand. Besser machte es David Millar. Für ihn blieben die Uhren bei 10‘20“ stehen, was bedeutete, dass er 10“ langsamer war als Tony Martin.

Keine Spezialisten

Noch aber mussten rund 50 Konkurrenten durch Rotterdam kurven, so dass der Deutsche bis zum Schluss um einen möglichen Platz auf dem Podium bangte. Die schlechten Streckenverhältnisse verwehrten auch Frank und Andy Schleck eine gute Platzierung. Der ältere der beiden Schlecks war um zwölf Sekunden schneller als sein Bruder, doch lagen zwischen Frank und Tony Martin 47 sowie zwischen Andy und dem Deutschen sogar 59 Sekunden.
Die Entscheidung fiel, als die Straße wieder trockener wurde. Sowohl Lance Armstrong als auch Alberto Contador und Fabian Cancellara mischten ganz vorne mit. Lediglich Fabian Cancellara aber konnte die Richtzeit von Martin unterbieten. Der Schweizer Weltmeister im Zeitfahren lag bei Hälfte des Rennens sechs Sekunden vor dem Deutschen und baute diesen Vorsprung auf den letzten Kilometern bis auf zehn Sekunden aus. Armstrong schob sich hinter Tony Martin und David Millar auf den vierten Rang (22“ Rückstand auf Cancellara), Alberto Contador wurde Sechster hinter Geraint Thomas.

42 Sekunden hinter Contador

Der spanische Tourfavorit zählte 27 Sekunden Rückstand auf Cancellara, Frank (Platz 79) und Andy Schleck (Rang 122) dagegen verloren 57“ bzw. 1‘09“ auf ihren Teamgefährten aus Ittigen/Bern. Während die Schweizer Fans sich freuen durften, gab es für die zahlreichen Luxemburger Zuschauer keinen Grund zum Jubeln. Sie hatten sich mehr von ihren Schützlingen erwartet.
Schlechter hätte diese Tour für die Schlecks nicht beginnen können. An den Tagen danach sollte es kaum besser werden. Schon montags, auf der Straße nach Stavelot, die den meisten Luxemburgern, die Liège-Bastogne-Liège regelmäßig verfolgen, bestens bekannt ist, hatte der Regen den Staub auf dem Asphalt in Schmierseife verwandelt. Rennleiter Jean-François Pescheux sprach von Glatteis im Sommer. Dabei kamen ihm Tränen in die Augen, denn das, was sich in der Abfahrt nach Stavelot abspielte, hatte mit Sport nur noch wenig gemein.

Andy Schleck beim Prolog in Rotterdam
Andy Schleck beim Prolog in Rotterdam Foto: „Goldene Zeiten“ / Petz Lahure

Doppeltes Pech

Auf dem aalglatten Streckenabschnitt schlitterten die Favoriten und deren „Wasserträger“ über den Hosenboden, es krachten die Rennräder gegen die Bäume, und die Begleitwagen rutschten, so dass auf dem nassen Untergrund Rallye-Fahrkünste gefragt waren, um eine Katastrophe zu verhindern.
Neben Lance Armstrong („es war wie im Krieg, in Sekundenbruchteilen fielen Körper um, mehr oder weniger schwer getroffen“), Alberto Contador, Cadel Evans und Bradley Wiggins gingen auch Andy und Frank Schleck zu Boden. Andy hatte gar doppeltes Pech. Auf einer Distanz von nur 200 m stürzte er gleich zweimal. Die beiden Luxemburger gehörten mit Christian Vandevelde, Wladimir Karpets und Tyler Farrar zu den Fahrern, die es am schlimmsten traf.
Im Leben aber hat man manchmal auch Glück im Unglück. Als der Rückstand von Andy und Frank so um die fünf Minuten auf die Spitzengruppe betrug, schien die Tour 2010 definitiv für die Schlecks verloren zu sein. Wie aus heiterem Himmel bot sich die Rettung in Form einer Aktion an, wie sie nur ein ausstrahlungsstarker Sportler à la Fabian Cancellara einleiten kann.

„Canci“, der Chef

Da besondere Vorkommnisse besondere Maßnahmen erfordern, unterbreitete „Canci“, der sich dank seiner Persönlichkeit zum neuen Chef auf den Straßen der Tour mauserte, seinen Kollegen im ersten Teil des Pelotons einen Nichtangriffspakt. Alle waren einverstanden. Und als die Favoriten (bis auf Vandevelde, Farrar und Cunego) nach vorne aufgeschlossen hatten, organisierte Cancellara mit Rennleiter Jean-François Pescheux ein neutrales Finish. Die vorher gestürzten Gerald Ciolek, Mark Cavendish, Tyler Farrar und Alessandro Petacchi hätten ohnehin nicht sprinten können. Die vier Anwärter auf das „Maillot vert“ kamen mehr als zehn Minuten nach Sieger Chavanel ins Ziel.
„Es passierte auf einer Geraden – abwärts – und es war Öl oder etwas ähnliches auf der Straße. Das ganze Peloton lag am Boden“, so Cadel Evans. „Sorry an die Zuschauer, dass wir kein Rennen mehr gefahren sind. Aber das wäre gegenüber den Verletzten nicht fair gewesen.“ Und Pescheux meinte: „Weil der Radsport nun mal auf Straßen ausgetragen wird, über deren Zustand oft Ungewissheit herrscht, kann es zu unerwarteten Situationen kommen. Das, was die Fahrer gemacht haben, entspricht einem ‘accord de bonne conduite‘.“

Mit Plastiksack

Cancellara selbst verzichtete aus freien Stücken aufs „Maillot jaune“ und ließ Sylvain Chavanel vorne rennen. „Ich bin nicht gestürzt und hätte das Leadership spielend verteidigen können“, sagte der Schweizer Zeitfahrweltmeister. „Diese Fairnessgeste aber bringt mir persönlich mehr als ein weiterer Tag im Gelben Trikot.“
Cancellara gab das „Maillot jaune“ also vorübergehend ab, doch hatte er vor, es schon am Tag danach auf der gefürchteten Etappe über die Kopfsteinpflaster zurückzuerobern. „Er ist so stark, dass er nicht einmal merkt, dass sich auf der ersten Etappe (Sieger Alessandro Petacchi) 100 Kilometer vor dem Ziel ein Plastiksack eines Zuschauers in seinem Wechsel verfangen hatte“, sagte sein Landsmann Grégory Rast. „Wir pedalten nebeneinander und redeten über die Massen von Zuschauern an den Straßen in Holland und Belgien – es dürften weit über eine Million gewesen sein. Bis einer von hinten rief: ‘He, du hast einen Plastiksack im Wechsel!‘ Da schaut ‘Fäbu‘ (wie ‘Canci‘ in Bern genannt wird) hinunter zur Kette und ruft ins Mikrofon: ‘Ich habe Probleme mit dem Wechsel, ich komme zum Materialwagen.‘“

Chavanels Belohnung

Etappensieger und neuer Leader wurde nach einer Flucht von 180 km Sylvain Chavanel, der vor der Tour einen Schädelbruch auskuriert hatte. Den Erfolg wertete der Franzose als Revanche für den Monate zuvor erlittenen Schicksalsschlag. Chavanel war Ende April beim Frühjahrsklassiker Liège-Bastogne-Liège von einem Begleitwagen angestoßen und schwer verletzt in die Klinik eingeliefert worden. Er schien für den Radrennsport verloren zu sein. Dank einer fantastischen ärztlichen Betreuung, eines starken Willens und viel Trainingsfleiß aber ging es mit der Gesundheit bald wieder bergauf. Die Belohnung für die eiserne Ausdauer erhielt er bei der Tour.
„Ich wurde über ‘oreillette‘ informiert, dass in der Abfahrt eine Reihe Fahrer gestürzt waren, doch wusste ich nicht, dass das Peloton die Etappe offenbar ‘neutralisierte‘“, sagte Chavanel bei der Pressekonferenz. „Stürze gehören zum Radsport. Die ‘Neutralisierung‘ aber tut meinem Sieg keinen Abbruch, denn ich lag während des ganzen Rennens in Front.“

Serie

In acht Teilen blickt das Tageblatt auf den Tour-Sieg von Andy Schleck aus dem Jahr 2010 zurück. Der 3. Teil, „Das Aus für Frank Schleck“, folgt am Montag, den 6. Juli.