Kannercampus BelvalEin neuartiges Konzept „reizt den normalen Rahmen einer Schule aus“

Kannercampus Belval / Ein neuartiges Konzept „reizt den normalen Rahmen einer Schule aus“
Diese fünf Beteiligten erläutern, was hinter dem neuen pädagogischen Konzept des „Kannercampus Belval“ steckt: (v.l.) Serge Thill, Serge Olmo, Philippe Kloos, Delila Schroeder und Yves Steffen Foto: Editpress/Eric Rings

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Vieles wird anders sein auf dem „Kannercampus Belval“, der im September 2020 seine Türen öffnen wird. Die außergewöhnlichen Schulzeiten dieser „Grundschule“, die sich eigentlich nicht so nennen mag, sind das Ergebnis eines neuen pädagogischen Konzeptes. Fünf beteiligte Akteure berichten über ihre Träume, die sie nun mit viel Engagement verwirklichen konnten.

Der Baustellenstopp im Lockdown ließ Schlimmes befürchten. Die Arbeiten am Kindercampus auf Belval waren zu dem Zeitpunkt in vollem Gange und mussten eine Zeit lang ausgesetzt werden. Der Campus wird für September 2020 fertig sein, versichern uns die beteiligten Akteure bei einem Gespräch. „Zumindest so weit, dass wir das Konzept an sich umsetzen können“, sagt Serge Olmo, Verantwortlicher für die „Maison relais“ in der Gemeinde Sanem. Die Kinder können eingeschult und in die „Maison relais“/SEA aufgenommen werden.

Neben Serge Olmo standen weitere Beteiligte dem Tageblatt Rede und Antwort: Philippe Kloos, Regionaldirektor der Region Sanem, Delila Schroeder, Koordinatorin der Arbeitsgruppe Lehrer und Erzieher, Yves Steffen, „Instituteur spécialisé pour le développement scolaire“, der dem Projekt vom Script zur Verfügung gestellt wurde, sowie Serge Thill, externer Begleiter, der sich um die Prozessbegleitung kümmert und ebenfalls vom Script geschickt wurde.

Es ist uns wichtig, zu betonen, dass – unabhängig von Kleinigkeiten auf dem Bau – die Einrichtung mit ihren Ideen und ihrem Konzept so funktionieren wird, wie es gedacht war

Philippe Kloos, Regionaldirektor Region Sanem

„Es werden lediglich einige Details noch nicht richtig funktionsfähig sein“, sagt Olmo. Er nennt die Küche als Beispiel. Diese werde bis dahin noch nicht funktionieren und in der Übergangszeit von einer anderen Küche beliefert, die sich zwei Kilometer entfernt befindet. „Es ist uns wichtig, zu betonen, dass – unabhängig von Kleinigkeiten auf dem Bau – die Einrichtung mit ihren Ideen und ihrem Konzept so funktionieren wird, wie es gedacht war“, sagt Philippe Kloos. Und Serge Thill fügt hinzu: „Das ist der Stand heute. Es sind ja noch drei Monate. Wenn morgen eine zweite Welle kommt, dann wird es wahrscheinlich nicht fertig sein.“

Wenn keine zweite Welle kommt, wird der Kindercampus Belval im September 2020 die ersten Schüler empfangen
Wenn keine zweite Welle kommt, wird der Kindercampus Belval im September 2020 die ersten Schüler empfangen Foto: Editpress/Julien Garroy

Das „Kannercampus“ soll in seiner definitiven Form rund 600 Schüler aufnehmen können. In der Anfangsphase wird er nur mit der Hälfte, also mit 300 Kindern, belegt werden. „Das Ganze muss sich mit der neuen Infrastruktur und den neuen Teams noch einspielen“, erklärt Kloos. Wenn Leute auf Belval dazuziehen, dann wird die Kapazität nach und nach erweitert. Da der „Kannercampus“ auf dem Gebiet der Gemeinde Sanem steht, werden Schüler von Beles und Belval dort eingeschult. Dazu kommen noch etwa 20 Kinder, die auf der Escher Seite von Belval wohnen. Für sie sei es sehr umständlich, eine Schule in Esch zu erreichen.

Zusammenführen von Schule und „Maison relais“

Worin besteht denn eigentlich das neue pädagogische Konzept des „Kannercampus“? „Das Hauptanliegen war stets die Zusammenführung der formalen – also der schulischen – Bildung mit der non-formalen, also der ‚Maison relais’“, erklärt Delila Schroeder. Das Konzept bestehe darin, alle Ressourcen, die zur Verfügung stehen, zusammenzubringen und im Alltag eine rote Linie zu bekommen. Morgens in der Schule seien die gleichen Kinder wie nachmittags in der „Maison relais“. Deshalb versuche man zusammenzuarbeiten. Nachmittags sollen die gleichen Themen, die morgens in der Schule gelehrt wurden, fortgesetzt werden. „Wir wollen den Kindern nicht zu viel zumuten und keine zehn Themen an einem Tag ansprechen“, sagt Schroeder. Kontinuität wird demnach großgeschrieben.

Dabei sollen die Perspektiven aus Schule und „Maison relais“ zusammenfließen. „Lehrer kennen vieles aus der non-formalen Bildung nicht und umgedreht gilt das Gleiche für die Erzieher aus der ‚Maison relais’.“ In den Arbeitsgruppen sei dies ein sehr wichtiger Austausch gewesen, der sich durch die konkrete Zusammenarbeit ab September weiter intensivieren werde, sagt Schroeder. Olmo ergänzt: „Wir legen Wert darauf, dass man nicht nur ‚Schule’ sagt, sondern ‚Kannercampus’.“ Dies unterstreiche die von Schroeder genannte Zusammenarbeit.

Noch ist nicht alles fertig auf dem „Kannercampus Belval“
Noch ist nicht alles fertig auf dem „Kannercampus Belval“ Foto: Editpress/Julien Garroy

Olmo nennt das Konzept der Stammgruppen, bei dem Lehrer und Erzieher zusammenarbeiten. Schroeder erklärt, wie es funktioniert: „Wir haben im Zyklus 2 die Stufen 2.1 und 2.2 gemischt. In den Klassenräumen, die sich nebeneinander befinden, werden die Gruppen enger zusammenarbeiten. Die jeweiligen Lehrer und ‚’surnuméraires’ tauschen sich aus und sind im Bilde darüber, was in den jeweiligen Klassen passiert. Auf Belval soll zudem ein Mitglied des non-formalen Unterrichts dazukommen. Zusammen werden auch Pläne über die anstehenden Wochen erstellt. Es wird geschaut, wer was dazu in seinem Bereich machen kann.“

Wir schauen, wo die Talente der Kinder sind und wie wir diese im Alltag fördern können

Delila Schroeder, Koordinatorin der Arbeitsgruppe Lehrer und Erzieher

In diesem Sinne solle später auch eine Art Talentförderung stattfinden. „Wir schauen, wo die Talente der Kinder sind und wie wir diese im Alltag fördern können“, sagt Schroeder. Deshalb sei der Austausch auch so wichtig, damit jeder wisse, wer die Referenzperson des Schülers sei, mit der man sprechen könne. Dies bedeute jedoch nicht, dass der ganze Zyklus miteinander arbeite, sondern dass Lehrer und Erzieher aus diesen zwei Gruppen alle Kinder kennen. So sei es einfacher, Workshops anzubieten, in denen man ein wenig mehr mischen könne, damit sich Kinder auch untereinander besser kennenlernen. „Oft haben Kinder Freunde, die in anderen Klassen sind.“ Viele Teile dieses neuen Konzeptes habe man sich an verschiedenen Stellen angeschaut, darüber gelesen und sich überall ein wenig davon herausgepickt, sagt Olmo.

Keine Revolution, aber legalen Rahmen ausgereizt

Für Kloos ist es wichtig, nicht von Revolution zu sprechen. Er sagt, dass man das Rad nicht neu erfunden habe, sondern nur verschiedene Gegebenheiten, die bereits existieren und die sich stets im legalen Rahmen befinden, neu zusammengestellt. Schließlich sei der Kindercampus eine sogenannte „Quartiersschoul“. „Dort gehen die Kinder aus dem Viertel hin“, sagt Kloos. Es sei kein Experiment. „Ein Viertel soll zusammenleben. Und auf dem Campus verbringen die Kinder einen großen Teil ihres Tages. Morgens Schule, nachmittags der non-formale Teil.“ Kloos weist darauf hin, dass der Bedarf an Kinderbetreuung im Laufe der Jahre stets gestiegen sei. Auf dem Campus könne man sich, statt den Bedarf punktuell immer wieder anzupassen, von Anfang an auf einen einzigen Ort konzentrieren.

Natürlich bestehe keine Verpflichtung darin, die Kinder den ganzen Tag über dort zu lassen. Eltern können ihre Kinder auch wie gewohnt bei Schulschluss – also nach Ende des formalen Teils – abholen und zu Hause betreuen, sagt Kloos. Statt der klassischen Schulstunden, die jeden zweiten Tag auch Nachmittagsunterricht vorsehen, wurde auf Belval auf das Prinzip einheitlicher Zeiten gesetzt. So findet der Unterricht von Montag bis Freitag stets von 8.00 bis 14.30 Uhr statt. In der Mittagsstunde ist eine Pause von 100 Minuten für den Zyklus 1 und von 75 Minuten für die älteren Klassen vorgesehen. Ob diese Zeit ausreicht, soll im Laufe des Jahres ausgewertet werden.

 Foto: Editpress/Julien Garroy

Schroeder erzählt, dass die Kinder immer wieder fragen würden, ob nun einmal oder zweimal Schule ist. „Den Kindern geht dieser ständige Wechsel sehr nahe. Das wollten wir ändern.“ Zudem seien die neuen Zeiten ein Ergebnis des neuen Konzeptes der Zusammenarbeit von Schule und „Maison relais“. „Wäre das klassische Modell beibehalten worden, wäre die Zusammenarbeit mit der ‚Maison relais’ sehr schwierig geworden“, sagt Olmo.

Die Herausforderung besteht darin, jene Kinder, die zu Hause kein Luxemburgisch oder Deutsch sprechen, nicht zu benachteiligen

Serge Thill, externer Begleiter des Projekts und Script-Mitarbeiter

Auf dem Campus sind vier Gebäude vorgesehen: eines für die „Crèche“ und Kinder des Zyklus 1, eines für die Schüler der Zyklen 2 bis 4, eine Sporthalle sowie ein Kompetenzzentrum für intellektuelle Entwicklung (früher „Ediff“ genannt). Im September werden allerdings die Zyklen 1 bis 4 in dem gleichen Gebäude unterrichtet. „Später werden durch die Aufteilung auf zwei Gebäude mehr Räumlichkeiten für Aktivitäten zur Verfügung stehen“, erklärt Olmo. Dennoch würden auch am Anfang ausreichend Säle zur Verfügung stehen, um das Konzept umzusetzen. Später sollen dann ein Musik- und ein Theaterraum eingerichtet werden.

Eine etwas andere Alphabetisierung auf Deutsch

Zum neuen Konzept setzt auf insgesamt vier Schwerpunkte. Neben der Zusammenarbeit zwischen Schule und „Maison relais“ gehört dazu auch die Alphabetisierung auf Deutsch. Der „Kannercampus“ will verstärkt auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Kinder eingehen und bietet zwei verschiedene Modelle der Alphabetisierung an: Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache. „Wir wollen nicht für alle Kinder nur ein Programm haben, sondern spezifisch auf jeden Schüler eingehen können“, sagt Schroeder. So könne man der großen Vielsprachigkeit an der Schule gerecht werden. „Um das hinzukriegen, nehmen wir an Weiterbildungen teil und können dadurch das Material anpassen.“ Eine Alphabetisierung auf Französisch sei ausgeschlossen, fügt Kloos hinzu. Dies lasse das Gesetz nicht zu. Thill bringt auf den Punkt, worin die Herausforderung: „Jene Kinder, die zu Hause kein Luxemburgisch oder Deutsch sprechen, nicht zu benachteiligen.“

Der dritte Pfeiler sind die neuen Medien. Ab September steht das Fach „Coding“ auf dem Lehrplan des Zyklus 4. Darüber hinaus will der „Kannercampus“ das Codieren fächerübergreifend und in allen Zyklen anbieten. Andere Schulen würden das auch tun, meint Kloos – nur eventuell mit anderen Schwerpunkten. „Uns ist es wichtig, dass wir das Material, was wir anfragen, auch sinnvoll in den Lernprozess einbinden können“, bekräftigt Schroeder. Thill erklärt es folgendermaßen: „Zuerst wird festgelegt, was man mit den Kindern arbeiten möchte. Dabei stellt sich heraus, welches Material man benötigt. Dann erst wird eine Anfrage gestellt, um dieses zu bekommen.“ Auch zum Umgang damit wird es Weiterbildungen geben.

 Foto: Editpress/Julien Garroy

Den vierten Schwerpunkt setzt der Campus auf die Bewegung. „Das ist zu einem großen Teil der Sportunterricht“, sagt Schroeder. Der Kindercampus steht in engem Kontakt zur Uni.lu. Studenten der Universität Luxemburg sollen dort empfangen werden, um gemeinsam mit den Lehrkräften und Erziehern neue Projekte zu entwickeln. Es soll ein Plan ausgearbeitet werden, der festlegt, wie lange eine Sportart oder ein Thema in diesem Bereich durchgeführt wird, gibt Schroeder bekannt. Daneben wird viel Wert auf die Bewegung im Schulalltag gelegt. „Wir wollen vermeiden, dass die Kinder die ganze Zeit nur sitzen.“ Die Devise lautet: „Lernen durch die Bewegung, lernen in der Bewegung und lernen mit der Bewegung.“ In Bewegungsräumen neben der Sporthalle sollen Aktivitäten angeboten werden, die die Kinder im Laufe des Vormittags nutzen können, wenn Lehrer der Meinung sind, dass die Schüler eine Pause vom Lernen brauchen oder einfach nicht mehr sitzen können.

„Die Leute, die an diesem Projekt arbeiten, haben viel Herzblut reingesteckt“, unterstreicht Kloos. Delila Schroeder, die die Arbeitsgruppe der Lehrer und Erzieher koordiniert, ist vor gut zwei Jahren dazugestoßen. Zu dem Zeitpunkt wurden die Arbeitsgruppen neu aufgesetzt. Dann kam auch Serge Thill hinzu. Seine Aufgabe bestand darin, der neuen Gruppe dabei zu helfen, sich zu strukturieren und ein Konzept zu entwickeln.

Die ersten Monate in der definitiven Arbeitsgruppe wurde viel geträumt. Das ist wichtig bei einem solchen Projekt. Die beiden Script-Mitarbeiter haben unseren Träumen einen Rahmen gegeben.

Serge Olmo, Verantwortlicher für die Maison relais in der Gemeinde Sanem

Da sehr viele Leute großes Interesse hatten, am Projekt mitzuarbeiten, und es zu Dutzenden Personen an einem Tisch schwierig ist, weiterzukommen, hat sich eine Kerngruppe mit wenigen Personen herausgeschält. Die Kerngruppe und die ausgeweitete Gruppe haben dann Komitees gegründet, in denen unterschiedliche Themen erarbeitet wurden. Im Juli 2018 kam Yves Steffen hinzu und war dafür zuständig, den Bedingungen, Regelungen und Stolpersteinen auf nationaler Ebene Rechnung zu tragen. Im Dezember 2018 stand die erste Fassung des Konzepts.

„In den ersten Monaten in der definitiven Arbeitsgruppe wurde viel geträumt“, sagt Olmo. „Das ist wichtig bei einem solchen Projekt. Die beiden Script-Mitarbeiter haben unseren Träumen einen Rahmen gegeben. Sie haben sie in umgesetzt, weil sie die Gesetze besser kennen als wir ‚um Terrain’. Es wurde versucht, alles, was per Gesetz möglich war, reinzubekommen. Alles andere wurde fallengelassen.“ Thill bringt es auf den Punkt: „Wir haben den normalen Rahmen einer Schule ausgereizt.“

 Foto: Editpress/Julien Garroy

Steffen präzisiert, dass die Leute, die sich auf ein solches Projekt einlassen, von vornherein Klarheit brauchen, dass das Engagement „nicht für die Katze“ ist. Denn es sei eine enorme Arbeit. „Diese Leute zählen die Stunden nicht, sie wollen sich einfach nur verwirklichen“, meint Steffen.

Als die Idee des Projektes aufkam, habe ein Lehrer, der nichts mit dem Projekt zu tun hatte, Thill darauf angesprochen und gesagt: „Das kannst du gleich vergessen. Eine Zusammenarbeit zwischen formalen und nicht nicht-formalen Bildungen klappt nicht.“ Er sieht es jedoch anders: „Das sind Vorurteile“, sagt Thill. „Ich kann nichts davon hier feststellen. Die Vorurteile sind aber da. Auch daran sollte man arbeiten.“