„100 Jahre Russen in Luxemburg“Ein Buch zur Geschichte Luxemburgs als Einwanderungsland

„100 Jahre Russen in Luxemburg“ / Ein Buch zur Geschichte Luxemburgs als Einwanderungsland
Arbed-Ostarbeiterinnen-Baracken in Esch-Raemerich um 1943  Foto: Centre de documentation et de recherche sur la résistance

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Es gab eine starke polnische und italienische Immigration vor dem Ersten Weltkrieg, als Arbeitskräfte in den Bergwerken und der Eisenindustrie Luxemburgs benötigt wurden. Ab den 1960er Jahren folgte die Zuwanderung portugiesischer Bürger. Wenig bis nichts ist über die russische Migration bekannt. Wenn, dann hauptsächlich über jene, die nach der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ und dem Zerfall der UdSSR Anfang der 1990er Jahre einsetzte. Dabei erreichten russische Migranten auch Luxemburg bereits vor dem Ersten Weltkrieg.

Das geht aus der Studie „100 Jahre Russen in Luxemburg: Geschichte einer atomisierten Diaspora“ von Dr. Inna Ganschow hervor. Das Ende April erschienene Werk, Ergebnis einer mehrjährigen Forschungsarbeit, wurde von der Fondation Lydie Schmit in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für zeitgenössische und Digital-Geschichte (C2DH) der Uni Luxemburg herausgegeben.

Mehrere Migrationsperioden und -typen werden unterschieden. Erste Russen und Russinnen oder genauer gesagt Einwohner und Einwohnerinnen der Territorien des russischen Imperiums verschlug es vor dem Ersten Weltkrieg nach Luxemburg, weil sie Arbeit und ein besseres Leben suchten, weil sie nicht in der Armee dienen wollten oder wegen ihrer Religion Nachteile erlitten. Die „Arbeitsmigration aus Russland“ war eine „heterogene Gemeinschaft“. Ganschow spricht von Kriegsgefangenen aus Georgien, desertierten Soldaten aus den ukrainischen Gebieten, von jüdischen Handwerkern und polnischen ArbeiterInnen.

Zur Migration gezwungen

Während des Ersten Weltkriegs gelangten dann russische Kriegsgefangene nach Luxemburg. Sie waren aus deutscher Kriegsgefangenschaft entflohen und schlugen sich meist als Landarbeiter durch. Sie hatten im russischen Expeditionskorps der französischen Armee an der Westfront gekämpft. Hier waren die sozusagen an Frankreich geliehenen Soldaten in deutsche Gefangenschaft geraten.

Anders war die nachfolgende Migration, auch wenn es sich dabei ebenfalls vornehmlich um Militärangehörige handelte. Sie hatten zuvor in der Zarenarmee gedient und in den Rängen der Weißen Garde während des Bürgerkrieges nach der Oktoberrevolution die Bolschewiken bekämpft. Knapp eine Million Menschen, meist Militärs, flüchteten nach dem Sieg der Roten Armee aus dem Land. Die in Luxemburg Gestrandeten gehörten den Einheiten des Schwarzen Barons, Pjotr Wrangel, an, der sich in Belgien niederließ. Von der Krim aus waren die Wrangel-Soldaten in die Türkei über den Balkan nach Westeuropa gekommen. „Etwa dreihundert von ihnen würden nach Luxemburg gelangen“, schreibt Ganschow. Sie ließen sich vornehmlich in Wiltz und Mertert nieder, wo sie in der damaligen Lederfabrik Ideal bzw. in der Keramikplattenfabrik Cerabati arbeiteten. Statt Befehle zu brüllen, mussten sie nun Befehlen folgen.

Tausende Russen, Weißrussen und Ukrainer wurden zwanzig Jahre später aus anderen Gründen zur Migration gezwungen. Die während des Zweiten Weltkriegs aus den von den Nazis besetzten sowjetischen Gebieten verschleppten Ostarbeiter, meist Ostarbeiterinnen, mussten in den Luxemburger Werken der Arbed und in der Landwirtschaft für den Endsieg der Nazi-Besatzer arbeiten. Hinzu kamen sowjetische Kriegsgefangene aus deutschen Stalags. Während diese neuen Migranten unter quasi sklavenähnlichen Bedingungen leben und arbeiten mussten, dienten ehemalige Weißgardisten den deutschen Besatzern als Übersetzer und Aufseher. Nach Kriegsende kehrten die meisten Zwangsarbeiter in die UdSSR zurück, nicht immer freiwillig. Nur wenigen gelang es, allen bürokratischen und politischen Widrigkeiten zum Trotz in Luxemburg zu bleiben.

Erst mit der Perestroika von Michail Gorbatschow setzte eine neue Wanderung aus Russland und den Nachfolgestaaten der zerbrochenen UdSSR ein. Die Zahl der Einwanderer und Einwanderinnen aus Russland ist 2019 auf 1.782 gestiegen, wobei auf einen Russen zwei Russinnen kommen, hebt Ganschow hervor. Die neuen Russen in Luxemburg sind hauptsächlich in den Bereichen Finanzen und Versicherungen, Technik und Wissenschaft, Handel und Kommunikation beschäftigt.

Jede Gemeinschaft baut sich ihr Russland auf

Aus dem eben Gesagten geht hervor, dass es verschiedene russische Wanderungen nach Luxemburg gab. Verallgemeinernd von russischer Immigration zu sprechen, ist demnach falsch. Ganschow weist nach, dass jedes Mal eine andersartige Migration stattfand, eng gekoppelt an große historische Umwälzungen in Europa und im Ursprungsland selbst. Die unterschiedlichen sozioökonomischen und kulturellen Hintergründe erklären die oftmals fehlenden Kontakte zwischen den einzelnen russischen Gemeinschaften in Luxemburg, früher und heute noch. Jede baute sich ihr eigenes Russland auf. „Das Buch beantwortet die grundsätzliche Frage der Untersuchung, wiese es den AuswanderInnen aus Russland in einem Jahrhundert nicht gelungen ist, eine kohärente Diaspora mit allen Minderheitenmerkmalen zu bilden“, heißt es dazu in der Schlussfolgerung der Untersuchung.

Detailliert geschilderte Einzelschicksale erleichtern das Lesen dieser wissenschaftlichen Arbeit ungemein. Sie zeigen, unter welchen Bedingungen die Migranten hier lebten und arbeiteten, wie sie sich in Luxemburg einlebten, welche Kontakte sie zu den Einheimischen suchten und wie deren Reaktionen waren. Der interessierte Leser wird dabei nicht nur die Beweggründe einzelner Migranten erfahren. Ihm wird auch der historische Kontext in Erinnerung gerufen, die diese Menschen zu ihrem Schritt veranlasste oder zwang. Ganschows Buch ist demnach auch ein Abriss von hundert Jahren Geschichte Russlands. Gleichzeitig werden die Beziehungen von Luxemburger Industriellen, Ingenieuren und Geschäftsleuten zum Zarenreich und später zur Sowjetunion geschildert.

Besonders spannend ist das Kapitel über die „Weiße Emigration“. Europa erlebte damals eine Migrationswelle ungekannten Ausmaßes. Sie erinnert uns, was den Umfang anbelangt, an die Flüchtlingsströme von heute. Mit dem Unterschied, dass unsere Gesellschaften heute weitaus reicher sind als damals. Anders als ihre migrierenden Landsleute vor ihnen waren die Weißgardisten keine Arbeitsmigranten. Sie hofften, schnell nach Russland zurückkehren zu können, hatten außer ihrem militärischen Wissen keine anderen Berufskenntnisse, was auch ihre Integration im Aufenthaltsland erschwerte. Als die Nazis Luxemburg überfielen, stellten sich viele von ihnen in deren Diensten. Sie setzten auf den deutschen Sieg über die UdSSR und damit auf eine Rückkehr in die alte Heimat.

Die vergessenen Opfer der Nazis

Nicht nach Hause zurück wollten hingegen etliche der Russen, Ukrainer und Weißrussen, die als Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen während des Zweiten Weltkrieges in Luxemburg gearbeitet hatten. Während Luxemburger in die Wehrmacht zwangsrekrutiert wurden, mussten die Ostarbeiter in Luxemburg an die „Arbeitsfront“. Nach der Niederlage Nazi-Deutschlands sollten sie gegen die in sowjetischer Gefangenschaft befindlichen Luxemburger ausgetauscht werden. Das Buch geht eingehend auf dieses Kapitel Luxemburger Kriegs- und Nachkriegsgeschichte ein, legt offen, wie die Luxemburger Behörden den sowjetischen Vertretern zur Hand gingen, um auch jene zur Rückführung in die UdSSR zu finden, die in Luxemburg bleiben wollten, weil sie in der alten Heimat Repressionen befürchteten oder einfach hier jemanden kennengelernt hatten.

Wichtig war den hiesigen Behörden die Rückkehr der Zwangsrekrutierten. „Man schloss die Augen und ließ eine fremde Armee nach ihren Landesregeln vorgehen, in der Hoffnung, ‚ons Jongen‘ nach Hause zu bekommen“, stellt Inna Ganschow fest. Man habe keine Stimme gehört, „dass SowjetbürgerInnen nicht zu diesem ‚humanitären Akt‘ der Repatriierung gezwungen werden dürften“. Man spürt einen leichten Anflug von Bitterkeit, wenn die Autorin schreibt, dass es in der „speziellen Erinnerungskultur Luxemburgs“ keinen gemeinsamen Gedenktag für alle Opfer des Zweiten Weltkrieges gebe, der die OstarbeiterInnen einschließen würde. Eine Entschädigung für die zwei Jahre Zwangsarbeit sei in Luxemburg bisher nicht geführt worden. Tausende von ihnen hatten in den Werken der damaligen Arbed gearbeitet. Die aktuelle Leitung von ArcelorMittal äußere sich nicht zum Thema ZwangsarbeiterInnen.

„100 Jahre Russen in Luxemburg“ eignet sich sicherlich nicht als Freizeitlektüre. Allen, die mehr über Luxemburg als Einwanderungsland wissen möchten, ist sie jedoch zu empfehlen. Denn obwohl russische Migranten oftmals dasselbe Schicksal wie ihre polnischen und italienischen Migranten in den 1930er Jahren erlitten, unter anderem entlassen wurden, um Einheimischen die Arbeitsstelle zu überlassen, unterscheiden sich diese Wanderungsbewegungen in einem wesentlichen Punkt: Sie waren meist das Ergebnis tief greifender Umwälzungen in Russland bzw. der Sowjetunion. Insofern ist die Geschichte der russischen Migrationen auch ein bisschen die Europas.