EditorialPandemisches Ausmaß: Überwachung und Disziplinierung in der „Krise“

Editorial / Pandemisches Ausmaß: Überwachung und Disziplinierung in der „Krise“
Wenn Lohnabhängige sich nicht mehr gegenseitig über ihre Arbeitsbedingungen austauschen können, stellt die räumliche Trennung bei der Telearbeit ein erhebliches Hindernis für die gewerkschaftliche Organisation dar Foto: AFP/Loïc Venance

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Während am Freitagnachmittag rund 2.000 maskierte Menschen vor der amerikanischen Botschaft in Luxemburg gegen institutionalisierten Rassismus und staatliche Gewalt demonstrierten, diskutierten die Abgeordneten im parlamentarischen Gesundheitsausschuss über die beiden Covid-19-Gesetze, die dem Staat weitreichende Befugnisse zur Einschränkung der individuellen Freiheiten auch nach Ablauf des „état de crise“ in zwei Wochen erteilen. Ein Widerspruch? Auf den ersten Blick gewiss! Doch eines der Gesetze sieht ausdrücklich vor, dass das Demonstrationsrecht von den meisten Einschränkungen nicht betroffen ist.

Diese Ausnahme, so wichtig sie auch ist, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass der „état de crise“ nach seinem eigentlichen Ablauf durch die Covid-19-Gesetze de facto verlängert wird. Sicher, die rechtliche Grundlage wird eine andere sein. Die Allmacht der Regierung wird nach dem Nationalfeiertag beendet sein und das Parlament wird wieder aktiv in die Entscheidungen eingebunden. Aus rechtsstaatlicher Sicht ist dieser Übergang zweifelsohne zu begrüßen.

Für eine Demokratie erschreckend ist jedoch die parlamentarische Einstimmigkeit über die weitere Notwendigkeit der von Virologen und Epidemiologen empfohlenen sanitären Maßnahmen. Bis auf die Schließung der Spielplätze wird die Verhältnismäßigkeit der Einschränkungen von keiner Partei grundsätzlich infrage gestellt. Kontroversen sind lediglich in Detailfragen wie juristischen Formulierungen oder bestimmten Fristen zu beobachten. Maßnahmen wie Zwangshospitalisierung oder -quarantäne werden vom Parlament quasi widerspruchslos hingenommen. Doch auch andere, scheinbar weniger zwanghafte Maßnahmen dringen tief in die Persönlichkeitsrechte der Bürger ein. Dass die Texte mehr auf Selbstdisziplinierung denn auf hohe Strafen setzen, hilft offenbar bei ihrer demokratischen Legitimierung.

Foucaults Panopticon erhält dank der Digitalisierung eine neue Dimension. Die Telearbeit, die als größte Errungenschaft der Corona-Krise gefeiert wird, hat es Teilen der Wirtschaft erlaubt, trotz Ausgangssperre weiter zu funktionieren, und sich als wirksames Mittel gegen die Überlastung der Verkehrsnetze erwiesen. Bei allen Vorteilen, die diese neue Arbeitsform mit sich bringen mag, sollten die negativen Auswirkungen nicht vergessen werden. Wenn Lohnabhängige sich nicht mehr gegenseitig über ihre Arbeitsbedingungen austauschen können, stellt die räumliche Trennung durch Home-Office ein erhebliches Hindernis für die gewerkschaftliche Organisation dar. Wenn Zuhause und Arbeitsplatz verschmelzen, eröffnen sich bislang ungeahnte Welten der Kontrolle und Überwachung, die – um es mit Foucault zu sagen – „ohne Unterbrechung bis in die elementarsten und feinsten Bestandteile der Gesellschaft eindringen“. Ausgerechnet der nationale Ethikrat hat nun unter bestimmten Auflagen den Einsatz einer Überwachungsapp empfohlen.

Alle diese Maßnahmen dienen dazu, die Wirtschaft am Laufen zu halten und die Produktivität zu steigern. Selbstdisziplinierung ist nicht nur effizient, sondern auch kostengünstig. Die Befürchtung, dass sich bestimmte Überwachungsmaßnahmen dauerhaft und strukturell etablieren, ist durchaus berechtigt. Alleine die neue Begrifflichkeit lässt aufhorchen. Es besteht die Gefahr, dass künftig jedes Problem „pandemisches Ausmaß“ annehmen kann und es neuer, weitreichenderer Formen der Überwachung und Disziplinierung benötigt, um die „Krise“ zu bewältigen.

TNT
9. Juni 2020 - 8.22

"und es neuer, weitreichenderer Formen der Überwachung und Disziplinierung benötigt," Nun, da hat die Regierung ja schon den Fuss in der Tür, dank Überwachungsapp, aaaber, was in puncto Disziplinierung noch so auf uns zukommt, da können wir gespannt sein. Unsere täglich Dosis Angst gebt Uns Heute!