LiteraturStadt, Land, Fluss

Literatur / Stadt, Land, Fluss
Leif Randt Foto: © Zuzanna Kałużna

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Unterschiedlicher könnten zwei Bücher kaum sein: Während Verena Güntners „Power“ von der Einsamkeit in einem verlassenen Dorf erzählt und dabei das Fantasy- und Horrorgenre zitiert, ist Leif Randts „Allegro Pastell“ ein Porträt einer hippen, selbstbezogenen Smartphone-Generation, das formal seinen joggenden, Selfies-besessenen Figuren in nichts nachsteht. Ingo Schulzes „rechtschaffenden Mörder“ erzählt in drei Anläufen die Geschichte eines weltfremden Antiquars, der nach der Wende zum ersten Mal merkt, dass man vor dem Weltgeschehen nicht flüchten kann – und die falschen Konsequenzen aus dieser Erkenntnis zieht.

Laut Slavoj Zizek leben wir zunehmend in einer entkoffeinierten Gesellschaft. Mit „Allegro Pastell“ liefert Leif Randt die perfekte Bedienungsanleitung für eine abgestumpfte Welt, in der jede Erfahrung zum Simulakrum geworden ist.

Tanja Arnheim ist eine junge Autorin, die mit ihrem kultigen Debütroman „PanoptikumNeu“ das Leben einiger Fans verändert hat, Jerome Daimler ist ein erfolgreicher Web-Designer. Beide sind hip und hyperreflektiert, zerlegen jeden Gedanken in seine Einzelteile, analysieren aufkeimende Emotionen so lange, bis sie todgeredet sind.

Jerome und Tanja, deren Beziehung wir über 280 Seiten folgen, sind zugleich selbstverliebt und unsicher, ergötzen sich daran, klare Ideen zu jedem noch so belanglosen Thema zu haben – seitenlang folgt der Leser Tanjas und Jeromes Überlegungen zu Produkten der Sportartikel-Kette Decathlon, zur Qualität verschiedener Mietwagen oder zu Luca Guadagninos „Call Me By Your Name“.

So entwickelt Jerome, nachdem er feststellt, dass er häufig Affären mit Frauen hat, die sich anschließend gegen ihn und für ihre alte Beziehung entscheiden, „die Theorie, dass ein Energiefeld des Love Interests über Europa lag, in dem jedem Protagonisten eine Aufgabe zufiel. Jeromes Aufgabe in diesem Energiefeld bestand offenbar darin, anderer Leute Paarbeziehungen zu retten, indem der die Verheißungen eines neuen Lebens an der Seite eines liberaleren Partners als leeres Versprechen entlarvte.“

Leere Hüllen

Zwischen Affären, Hochzeiten, Neujahrsfeten, Familienbesuchen erzählt Leif Randt davon, wie die Belanglosigkeit des urbanen Alltags durch die Ästhetisierung des Selbstbildes auf sozialen Netzwerken transzendiert wird. Jeder im Buch abgedruckte Gedanke soll gleichzeitig austauschbar wie auch absolut notwendig erscheinen. Kontrollverlust ist stets nur simuliert, für Tanja und Jerome sind Drogen und Jogging fast dasselbe – beides sind Mittel zum Zweck, ein Vorwand für noch mehr sinnlose Selbstanalyse. Das neue Panoptikum: Damit bezeichnet Randt die ständige technologische Überwachung, die ununterbrochene Selbstinszenierung, das Selbstbild, das aus der Überlagerung tausend identischer Selfies entsteht. Randts Roman ist dabei ein textgewordenes Selfie.

Wäre ich Kulturpessimist, würde ich behaupten, die Begeisterung so mancher Rezensenten für Leif Randts „Allegro Pastell“ wäre nicht etwa das Symptom einer kulturellen und gesellschaftlichen Wende, sondern das sichere Zeichen dafür, dass deutsche Gegenwartsliteratur jeden Biss verloren hat. Anstatt wie etwa David Foster Wallace gegen etwas anzuschreiben – gegen den Verlust des Selbstbilds in den leeren Spiralen der Metareflektion, gegen das Ende jeder Subversion – porträtiert Leif Randt oberflächliche Figuren, bei denen jeder Anflug von Tiefgründigkeit lediglich einer ununterbrochenen Nabelschau dient.

Schaut her, schreien diese Figuren, hinter der Fassade meiner souveränen Selbstinszenierung versteckt sich ein verletzlicher, sensibler Mensch. Aber auch diese Dünnhäutigkeit ist nichts als die nächste Etappe im Spiegelkabinett der Selbstdarstellung. Randts nüchterner, emotionsloser Ton, seine Art, das zeitgenössische Leben kommentarlos darzustellen, ist vielleicht irgendwie mutig, sein Romanprojekt leidet aber, wie auch schon Tao Lins „Taipei“, darunter, dass hinter der platten Gedankenwelt seiner Figuren ein ebenso platter Roman steht, der wahllos Gedankenfetzen zu einer unförmigen, stilistisch missratenen Erzählung konstruiert.

Leif Randt erzählt eine „Lovestory aus den späten Zehnerjahren“ – und scheut dabei weder die Aneinanderreihung von Anglizismen noch die ärgsten Binsenwahrheiten. Randt rekonstruiert die Gedankenwelt seiner Figuren zwar sehr sorgfältig – aber den dadurch gewonnenen Psychorealismus bezahlt er mit einer formalen Belanglosigkeit, die nach spätestens 20 Seiten ermüdet.

Info

Leif Randt, Allegro Pastell, 2020 Kiepenheuer & Witsch, 280 Seiten

Der Zusammenfall des Leviathan

Wo Leif Randts Roman die Leere des urbanen Lebens einfängt, führt uns „Power“ von Verena Güntner in ein rurales, menschenleeres Deutschland. Zu Beginn des Romans verschwindet der titelgebende Power, der Hund der Nachbarin. Kerze verspricht der Hitschke, ihren entlaufenen Hund wiederzufinden – wobei Hitschke sich den strengen Spielregeln der elfjährigen Hauptfigur beugen muss. Im Laufe der ersten Kapitel schließen sich immer mehr Klassenkameraden dieser Suche an. Kerzes Vorgehensweise erinnert dabei an die eines Method Actors: Um den Hund zu finden, nimmt sie nicht nur Notizen, sondern verlangt von sich selbst und den anderen Kindern, dass sie sich in die Instinktwelt von Power hineinversetzen – folglich beginnen die Kinder, sich auf allen vieren zu bewegen, und setzen der Verwunderung der Eltern ein lautes Bellen entgegen.

Als die Spur in den naheliegenden Wald führt, verschwinden die Kinder – und beginnen ein unzivilisiertes, wildes Leben in der Natur, durch die sie wie ein Wolfsrudel streifen. „Am Ende wird keines übrig bleiben, kein Kind. Und die Häuser der Familien werden leer gefischt, die Kinderzimmer ausgetrocknet sein, auch wenn Kerze in diesem Moment noch nichts davon weiß.“

Verena Güntner 
Verena Güntner  Foto: (C) Stefan Klüter

Laut Donald Winnicott spielen Kinder, weil der Spielplatz ein sogenannter Zwischenraum ist – hier können Handlungen, Verhaltensmuster und Persönlichkeiten ausgelebt werden, das spielende Kind bleibt aber von den Folgen seiner Handlungen verschont. Der Spielplatz ist eine Experimentierfläche für spätere, reale Erfahrungen. Bei Güntner ist diese Spielfläche porös. Die melancholische Leere des Dorfes, die brutale, vereinsamte Erwachsenenwelt erlaubt es den Kindern nicht, sich unbeschwerten „Make-Believe“-Rollenspielchen hinzugeben – diese vermischen sich mit den Ansprüchen der Wirklichkeit, weswegen im Mikrokosmos der Kinder, der an Goldings Klassiker „Lord of the Flies“ erinnert, schnell neue Machtstrukturen, Ausgrenzungen und Hierarchien entstehen. 

Im Laufe des Romans belichtet Verena Güntner das einsame, von Gewalt durchdrungene Leben der verbliebenen Dorfbewohner: Die Hitschke, deren gewalttätiger Ehemann sie eines Tages verlassen hat, und der schwule Hubersohn, dessen rassistischer, aggressiver Vater einen Bauernhof betreibt und damit der einzige Dorfbewohner ist, der viel Geld erwirtschaftet, sind dabei die zentralen Figuren, die einen tristen Konterpart zur Gemeinschaft der Kinder darstellen.

Da, wo bei den Kindern der – hierarchisch erzwungene, undemokratische – Zusammenhalt im Zentrum steht, erzählt das fast menschenleere Dorf nur noch Geschichten vom Verlassen und Verlassenwerden. Stilistisch jongliert Güntner dabei zwischen einer unterkühlten Poesie, die sich an märchenhafteren Aspekten des Fantasy- oder des Horrorgenres bedient und einer naturalistischen, schnörkellosen und präzisen Sprache – so hätte Zola im 21. Jahrhundert schreiben können. Schade nur, dass die Allegorie, auf der die Erzählung basiert, etwas zu durchschaubar und konstruiert wirkt.

Letztlich lassen Güntner und Randt ihren Leser vor zwei Alternativen stehen: Wer vor dem einsamen Dorfleben flieht, muss sich der schillernden Leere des urbanen Lebens, wo sich das Selbstbild in einer Spirale der Selbstinszenierung verliert, stellen.

Info

Verena Güntner, Power, 2020 Dumont Buchverlag, 250 Seiten 

Paradise Lost

Die Geschichte der Literatur und der Philosophie ist gespickt von intelligenten, talentierten Menschen, die irgendwann auf dem ideologischen Holzweg landeten. Aber wie wurden Autoren und Denker wie Céline oder Brasillach zu rechtsradikalen Denkern? In seinen „rechtschaffenen Mördern“ sucht Ingo Schulze nach einer möglichen Antwort in der Fiktion. Der Roman erzählt in drei Anläufen die Geschichte von Nobert Paulini, einem Antiquar, dessen Bücherliebe ihn dazu verleitet, abseits jeder politischen Gegebenheiten in einem Elfenbein der Gelehrtheit zu verweilen – um nach der Wende zu merken, dass, wie Althusser es bereits formulierte, man stets die Konsequenzen der Ideologie, in die man hineingeboren wurde, tragen muss.

Die Figur Paulinis wird dabei im ersten, längsten Buchteil in einer bewusst schwülstigen, allegorischen und märchenhaften Sprache gezeichnet: „Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar, der wegen seiner Bücher, seiner Kenntnisse und seiner geringen Neigung, sich von den Erwartungen seiner Zeit beeindrucken zu lassen, einen unvergleichbaren Ruf genoss.“ Paulinis Laden ist ein Paradies für Intellektuelle – in dem obersten Stock der Villa Kate finden sich erst die Restbestände des Antiquariats seiner zu früh verstorbenen Mutter, nach und nach gesellen sich seltene Erstausgaben und andere Raritäten zu der Sammlung.

Paulinis Buchhandlung wird schnell zum Zentrum einer kleinen intellektuellen Elite – fast jede von Paulinis Aussagen ist mit Referenzen gespickt, der Antiquar schenkt dem treuen Besucher auch schon mal ein Buch, im Laden werden kleine Lesungen organisiert und leidenschaftliche Diskussionen ausgetragen. Das Antiquariat von „Prinz Vogelfrei“, wie Paulini sich selbst nennt, wird zur Drehscheibe von kritischen, rebellischen DDR-Bürgern. Dass Paulini selbst unpolitisch ist, wird ihm zum Verhängnis werden.

Der namenlose Ich-Erzähler, der sich im ersten Buchteil in Anlehnung an Flauberts „Madame Bovary“ hinter einer figuralen Erzählung versteckt und folglich unbemerkbar bleibt, pflegt in diesen 200 Seiten einen bewusst überladenen Erzählstil, der Paulinis Leben fast hagiografisch erfasst – weshalb der naive Leser aus allen Wolken fällt, als Paulini in den letzten Seiten dieses ersten erzählerischen Anlaufs von der Polizei befragt wird, wo sein Sohn und er selbst sich am 20. April – Hitlers Geburtstag – aufgehalten haben und Paulinis Antwort alle Klischees rechtsradikalen Denkens beinhaltet: „Kümmert sie das nicht, dass ich hier oben hausen muss, während sich Tausende, Zehntausende frisch zugereister junger Männer aussuchen dürfen, in welcher Stadt sie sich auf unser aller Sozialhilfepolster niederzulassen die Güte haben, um fleißig weiter Kinder zu zeugen und zwischendurch ihre Stirn auf dem Moscheeteppich zu wetzen?“

Letztlich wird Paulini bestraft, weil er glaubte, er könne apolitisch sein in einer durch und durch politisierten Welt: Nach dem Mauerfall bleiben die Kunden nicht nur aus, weil sie in den Westen einkaufen gehen können und der Wert gebrauchter DDR-Bücher sinkt, sondern auch, weil sich herumspricht, dass seine Ehefrau ein Stasi-Spitzel war. Paulinis Laden erwirtschaftet kein Geld mehr, er arbeitet als Supermarktkassierer und Nachtportier. Die heile Welt des Antiquariats war nie das erträumte Refugium – und Schulze erzählt immer nüchterner vom Fall dieser Legende (in einer fast epischen Szene lässt das Elbwasser fast all seine Bücher, und mit ihnen Paulinis Bildungsanker, im schlammigen Fluss versinken), weshalb er auch den hagiografischen Erzählton der ersten 200 Seiten mitten im Satz abbricht, um im zweiten Teil die Figur des Erzählers zu umreißen. Schultze (nicht zu verwechseln mit dem realen Autor Schulze) ist Schriftsteller und wollte das Leben des Buchfreaks Paulini erzählen, um seiner Herkunft und dieser kauzigen Figur zu huldigen. Als Paulini sich radikalisiert, verzweifelt der Autor: Seine Vorlage hält sich nicht an das, was ihm für sein fiktionales Porträt vorschwebte, sein Projekt scheint ruiniert.

Schulzes Roman gibt sich schlauer, als er eigentlich ist: Der erzählerische Überbau funktioniert durchaus, der Perspektivenwechsel wirkt aber teilweise überkonstruiert. Die Erzählungen von Schriftsteller Schultze und seiner Lektorin Theresa, in denen jeweils die Mängel und subjektiven Färbungen der vorherigen Erzählungen entlarvt werden, führen zu teilweise überraschenden Handlungswendungen, hätten aber durchaus subtiler ausfallen dürfen. Die Verschachtelungen verweisen zwar sehr wohl auf die unausweichliche Verstrickung des Autors mit dem Subjekt seiner Erzählung, trotzdem wirkt der Roman im dritten Anlauf stellenweise auserzählt – in Theresas Ermittlungen wird die Frage nach der Wahrheit in der Fiktion eines Autors etwas überdeutlich und klischeehaft thematisiert (irgendwo steht der schon tausendmal gehörte Satz, dass Autoren in ihren Büchern lügen dürfen), die angedeutete Auflösung des Romans lässt die komplexere Konstruktion der ersten Teile vermissen und lenkt letztlich vom Hauptthema ab – aber vielleicht hatte Schulze, wie seine Erzählerin Theresa, einfach Angst vor der „Fallhöhe“, die ihn und den Leser am Ende dieser schwindelerregenden erzählerischen Verstrickungen erwartet.

Info

Ingo Schulze, Die rechtschaffenen Mörder, 2020 S. Fischer,  320 Seiten