Interview mit KonfliktforscherÜber die Gewalt bei Protesten in den USA: „Das schaukelt sich hoch – bis es explodiert“

Interview mit Konfliktforscher / Über die Gewalt bei Protesten in den USA: „Das schaukelt sich hoch – bis es explodiert“
„Die Polizei verliert an Ansehen und Respekt“: Wenn der Staat nur als strafender Staat auftritt und nicht als Partner, wird es brenzlig, sagt Konfliktforscher Zurawski Foto: AFP/Olivier Douliery

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Nils Zurawski ist Soziologe und Ethnologe, lehrt an der Uni Hamburg und beschäftigt sich vornehmlich mit Konfliktforschung. Im Gespräch mit dem Tageblatt erklärt Zurawski die Zusammenhänge zwischen Ausschreitungen bei Demonstrationen und Polizeigewalt – und ab welchem Punkt eine Polizei sich lächerlich machen kann und jeden Respekt zu verlieren droht.
Nils Zurawski ist Soziologe und Ethnologe, lehrt an der Uni Hamburg und beschäftigt sich vornehmlich mit Konfliktforschung. Im Gespräch mit dem Tageblatt erklärt Zurawski die Zusammenhänge zwischen Ausschreitungen bei Demonstrationen und Polizeigewalt – und ab welchem Punkt eine Polizei sich lächerlich machen kann und jeden Respekt zu verlieren droht. Foto: privat/Christoph Rau

Tageblatt: Welche Rolle spielt die Gruppe und damit eine gewisse Anonymität bei Protesten – sowohl bei den Demonstranten wie bei der Polizei?

Nils Zurawski: Das hilft der Polizei, das zu tun, was sie eben tut – gut ausgerüstet mit Gewalt gegen Proteste vorzugehen. Das sehen wir jetzt in Hongkong, in den USA und haben das auch in Europa bereits gesehen, etwa bei den „Gilets jaunes“-Protesten in Frankreich. Aber für die andere Seite gilt das genauso. Demonstrationen sind kollektive Ansammlungen. Wenn jemand einen Stein schmeißt, drumherum tausend Leute stehen, und keiner was tut, wird das wegen mangelnden Rückhalts sofort im Keim erstickt. Wenn die Gruppe aber mitzieht, ist ein weiteres Aufbegehren gegen die Polizei viel leichter durchzuführen.

Wieso kommt es am Rand von Protesten so oft zu Plünderungen?

Solche Plünderungen kennen wir auch aus Frankreich. Bei den Protesten rund um den G20-Gipfel 2017 in Hamburg gab es die auch. Ich habe das damals als eine fast karnevaleske Stimmung beschrieben – nicht, weil es lustig ist, sondern weil alle Regeln, weil die ganze Ordnung auf dem Kopf steht und sich dann alle Ketten leichter sprengen lassen. Dann kann sich aus einer Gruppe an Menschen heraus eine Eigendynamik entwickeln, die fast nicht zu stoppen ist und immer zu dieser Form von Gewalt und Konfrontation führt, wie wir sie jetzt auch in den USA sehen.

Damit offenbart die Polizei in den USA, keine Kontrolle zu haben – und die Menschen unterjochen, sie demütigen und unterwerfen zu müssen wie ein wildes Tier

Lässt sich eine solche Dynamik gar nicht mehr einfangen?

In den USA kommen eine jahrelang aufgestaute Wut und das antagonistische Verhältnis zwischen Polizei und insbesondere der afroamerikanischen Bevölkerung hinzu. Trotzdem wäre auch dort das Entstehen einer solchen Dynamik vermeidbar. Das ließe sich kontrollieren, aber so wie die Polizei in den USA das jedes Mal macht, lässt sich bereits im Vorfeld ein Drehbuch anlegen, was als Nächstes passieren wird. Wir sehen es ja: Dort, wo in den USA Polizisten Helme ablegen oder Sheriffs den Dialog suchen, läuft es friedlich ab. Aber kommt zuerst Gewalt vonseiten der Polizei, ist eine Reaktion nicht mehr rückgängig zu machen. Dann ist – auch wegen der aufgestauten Wut – der Kipppunkt zu schnell überschritten.

Je mehr Gegenwind die Polizei hat, desto heftiger scheint sie zurückzuschlagen. Wieso ist das so?

Weil sie glaubt, das wäre der einzige Weg: Gegendruck ausüben, zurückpressen. Das schaukelt sich dann hoch – bis es explodiert. Damit offenbart sie jedoch, keine Kontrolle zu haben – und die Menschen unterjochen, sie demütigen und unterwerfen zu müssen wie ein wildes Tier.

Aber setzt die Polizei damit nicht ihre Autorität aufs Spiel?

Mit jedem einzelnen derartigen Auftritt verliert die Polizei an Ansehen und Respekt. Das Motto der US-Polizei heißt „to protect and to serve“ – aber viele in Amerika schützt die Polizei nicht und dient ihnen auch nicht, sondern Polizisten verbreiten Angst und machen sich so auch ein Stück weit lächerlich. Wenn Menschen eine grundsätzliche Angst vor der Polizei haben, gibt es den natürlichen Respekt nicht mehr, sondern nurmehr einen Respekt aus Angst. Und das ist schlecht. Das Verhältnis zwischen Polizei und Bevölkerung ist immer angespannt, die Polizei gilt immer als Spaßverderber. Aber das kann man auch gut machen. In Deutschland und auch in Luxemburg genießt die Polizei hohes Ansehen. Bei allem, was man kritisieren kann, und da gibt es ja genug, bleibt die Polizei dort eine Vertrauensinstitution.

In den USA ist das nicht der Fall?

Weil die US-Polizei ungleich vorgeht, hängt das dort stark davon ab, welcher Bevölkerungsgruppe jemand angehört. Hinzu kommt, wofür die Polizei vom Staat eingesetzt wird. Probleme an Schulen, Probleme mit sozialen Verwerfungen, Probleme mit Drogen – das regelt alles die Polizei. Aber wenn die Polizei das Mittel für alles ist und selber wiederum nur auf Stärke oder Gewalt zurückgreifen kann, produziert sie ihre eigenen Probleme. Alex Vitale, ein amerikanischer Kollege, fordert in seinem Buch „The End of Policing“ die Abschaffung der Polizei in Amerika. Um sie zu reformieren, sagt er, sei es zu spät – sie gehöre abgeschafft und neu erfunden. Das ist eine harsche Kritik, aber legt den Finger in die Wunde, da der Staat nur als strafender Staat auftritt und nicht als Partner.

Wie sollten sich friedliche Demonstranten gegenüber Gewaltausbrüchen am Rand von Protesten verhalten?

Vom Epizentrum der Gewalt bei einer Demonstration kann man nur noch weggehen. Allerhöchstens zu Beginn ließe sich vielleicht aus einer breiten Gruppe friedlicher Demonstranten heraus beschwichtigend einwirken. Wenn Verständnis für die Anliegen des gewaltbereiten Teils der Mitdemonstranten gezeigt und erklärt wird, was sie verlieren, wenn sie gewalttätig werden und die Polizei dann eingreift. Aber sobald das kippt, können die friedlich Gesinnten nur noch weggehen.

Viele Bilder aus den USA muten an, als wäre der Bürger der Feind, gegen den der Staat in die Schlacht ziehen muss.

Die Auftritte der amerikanischen Polizei entsprechen dem, wie der amerikanische Staat, wie die US-Regierung funktioniert. Die Politiker sehen die Polizei als ihre Polizei an. Der Staat ist ein strafender Staat – und die Polizei ist ein Teil davon. Die Polizei gilt als Machtmittel, um Kohäsion herzustellen.

Wann kippt die Stimmung in der Bevölkerung gegen Proteste, die zu Beginn oft von einer breiten Welle der Sympathie begleitet werden, dann irgendwann aber auf eine steigende Ablehnung stoßen?

Es ist ein bisschen wie bei Streiks. Die finden immer alle okay – aber nicht an dem Tag, an dem sie ein Flugzeug oder einen Zug nehmen wollen. Vor allem aber haben die meisten Menschen enorme Angst vor Gewalt. Menschen fürchten sich davor, in Gewalt hineingezogen zu werden. Sie wollen nicht, dass die Ordnung zu sehr gestört wird. Auch wenn mit den Gründen eines Protestes sympathisiert wird, ist Gewalt der Grund, bei dem ganz viele abspringen.

Kann eine Polizei, kann ein Staat demzufolge Gewalt eskalieren lassen, um die Sympathie des Protestes in der Bevölkerung zu brechen?

Wenn sie es geschickt macht, ja.

Jean Muller
5. Juni 2020 - 17.26

Das ganze Internet ist voll von Beweisen, dass die ProtestE *sich* nicht hochschaukeln, sondern dass sie hochgeschaukelt *werden*! Man braucht sich bloss die neusten Videos von Project Veritas anzuschauen um zu erkennen was da wirklich abläuft. Die US-Polizei ist inzwischen voll durchmilitarisiert, wird militärisch ausgebildet und setzt sich zum Grossteil aus ex-Militärs zusammen. Die Folge ist, dass sie die Bürger nicht mehr als Schutzbedürftige, sondern als Feind betrachtet den es zu bekämpfen und zu zerstören gilt!