Interview„Was sich hier abspielt, ist unglaublich“: Eine Politologin über die Proteste in den USA

Interview / „Was sich hier abspielt, ist unglaublich“: Eine Politologin über die Proteste in den USA
Und trotzdem, die Unterschiede bleiben eklatant: Die USA stürzen gerade in eine ungekannte Arbeitslosigkeit – doch die wird besonders die Minderheiten treffen, sagt Politikwissenschaftlerin Cathryn Clüver Ashbrook Foto: AFP/Apu Gomes

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Cathryn Clüver Ashbrook leitet an der Harvard Kennedy School in Cambridge, USA, das „Future of Diplomacy Project“, ein außenpolitisches Forschungsprogramm. Die Politikwissenschaftlerin arbeitete zuvor als Journalistin für den US-Sender CNN und unter dem New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg entwickelte sie ein Programm, das 1,8 Millionen Migranten einen einfacheren Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen ermöglichte. Im Tageblatt-Interview spricht Cathryn Clüver Ashbrook über die Proteste, die seit einer Woche die USA erschüttern.
Cathryn Clüver Ashbrook leitet an der Harvard Kennedy School in Cambridge, USA, das „Future of Diplomacy Project“, ein außenpolitisches Forschungsprogramm. Die Politikwissenschaftlerin arbeitete zuvor als Journalistin für den US-Sender CNN und unter dem New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg entwickelte sie ein Programm, das 1,8 Millionen Migranten einen einfacheren Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen ermöglichte. Im Tageblatt-Interview spricht Cathryn Clüver Ashbrook über die Proteste, die seit einer Woche die USA erschüttern.

Tageblatt: Rassismus ist in den USA ein alltägliches Problem. Wieso fallen die Proteste jetzt so gewaltig aus?

Cathryn Clüver Ashbrook: Wir erleben ein Amerika, das aufgeladen ist wie ein Pulverfass. Es sind ähnliche Bilder wie bei den Protesten der 1960er Jahre, als es um die politische Beteiligung der afroamerikanischen Minderheiten am politischen System ging. An einem politischen System, das das Wahlrecht für Schwarze gerade im Süden systematisch zu unterdrücken verstand – bis es durch den Druck der Straße 1965 zum Voting Rights Act kam.

Aber hier eskaliert gerade eine Situation, weil verschiedene Faktoren zusammenkommen. Einerseits der seit Jahrhunderten existierende systemische Rassismus, der mangelnde Umgang der USA mit der Vergangenheit der Sklaverei, die lange rechtliche Ungleichstellung von Minoritäten in diesem Land. Und dann diese speziellen Fälle, die wir jetzt zuhauf hatten, wie zuletzt eben George Floyd. Aber ich könnte stundenlang Namen aufzählen. Das ist ein Replay jetzt. Aber eines, das in der Corona-Krise kommt – das darf man nicht aus den Augen verlieren.

Was hat die Corona-Krise damit zu tun?

In dieser Krise wird noch einmal deutlich, wie dieses System nicht dafür ausgelegt ist, Minderheiten zu schützen. In New York sterben afroamerikanische Mitbürger in doppelt so hoher Zahl an Corona als Weiße – sogar unter Nachbarn passiert das –, weil Krankenhäuser in Minderheiten-starken Stadtteilen schlechter ausgestattet sind, weil nachweislich die Schmerzen afroamerikanischer Menschen weniger ernst genommen werden, weil Afroamerikaner generell schlechteren Zugang zum Gesundheits- und Versicherungssystem haben. Die Ungerechtigkeit zeigt sich auch in der Anklage dieses Polizisten, der wegen Totschlags und nicht wegen Mordes vor Gericht gestellt wird. Die Menschen haben das Gefühl, dass das ganze System ungleich ausgerichtet ist und sich dabei gegen sie wendet.

Was für eine Rolle spielen Videos von Polizeiübergriffen?

Solche Videos gibt es bereits länger: Schon 1991 wurden die Prügelattacken durch Polizisten auf Rodney King aufgezeichnet. Der Freispruch für die Polizisten, die ihn damals auf offener Straße auf brutalste Art und Weise zusammengeschlagen haben, war der Auslöser der damaligen Straßenschlachten in Los Angeles, die den jetzigen Bildern ähneln. Offensichtlicher wurde der alltägliche Rassismus jetzt in einem viel geteilten Facebook-Video über die Konfrontation einer weißen Frau mit einem afroamerikanischen Vogelbeobachter im Central Park in New York. Da wird klar, wie die verschiedenen Hautfarben in den USA unterschiedliche Beziehungen zur Polizei haben. Die Frau wusste: Wenn sie die Polizei anruft und sagt, sie würde von einem afroamerikanischen Mann an Leib und Seele bedroht, würde diese Polizei mit ihr anders umgehen als mit ihm – unabhängig von der Faktenlage. Dieses Video legt die Machtverhältnisse in diesem Land bloß und zeigt, wie unterschiedlich wir als Nachbarn durchs Leben gehen. Wir sind in keiner Art und Weise gleich, weil wir von Teilen des Staatsapparates unterschiedlich behandelt werden.

Proteste gab es bereits öfter, doch dieses Mal scheinen viele Weiße mit auf die Straße zu gehen.

Solidaritätsbekundungen mit den Minderheiten gibt es überall – und gab es natürlich auch in den sechziger Jahren. E pluribus unum, das Credo Amerikas, bleibt für viele das Ziel – da können Minderheiten nicht systematisch ausgegrenzt werden. Trotzdem bleiben die eklatanten Unterschiede. Die USA stürzen gerade in eine ungekannte Arbeitslosigkeit – und die wird besonders die Minderheiten treffen: Latinos und Afroamerikaner, auf denen dieses ganze ungleiche Wirtschaftssystem aufbaut.

Während der Proteste gegen Polizeigewalt kommt es wieder zu viel Polizeigewalt. Andere Polizisten knien nieder und zeigen sich so solidarisch. Lässt sich die amerikanische Polizei über einen Kamm scheren?

Es ist schwierig, das uniform zu bewerten. Das ganze Polizeisystem ist – wie so viel in den USA – föderal geregelt. Die meisten Polizisten stehen unter lokaler Kontrolle. Auf der ersten Ebene kommt es zu Solidaritätsbekundungen, weil sich Polizisten insgesamt missverstanden fühlen. Wir sehen auch hervorragende Reaktionen von Polizisten. Der Druck entlädt sich an der Institution der Polizei. Dass wir ein langes Video sehen müssen, in dem ein Polizist einem unschuldigen Mann den Hals abdrückt, das ist eine unglaublich starke Symbolik – und da stehen individuelle Polizisten zuerst einmal für die Institution.

Diese Proteste treffen Amerika in einer empfindlichen Phase, sie stecken in der Corona-Krise und in wenigen Monaten sind Wahlen. Was macht Trump, um die Lage zu beruhigen?

Das ist nicht seine Intention. Gestern gab es Berichte, seine Berater hätten ihm empfohlen, eine Rede an die Nation zu halten. Das ist für diesen Präsidenten nicht von Interesse. Trump hat wohl gemeint, er wisse nicht, was er sagen wollen würde und er wolle sich dieser Herausforderung nicht stellen. Dieser Präsident tritt von jeglicher Verantwortung zurück, schafft es nicht, Führungskapazität, die ein Präsident leisten muss, zu demonstrieren. Er hat gar nicht vor, dieses Land zu einen.

Hätten Sie sich eine andere Reaktion erwartet?

Nein, die Verunglimpfungen, die der Präsident über Twitter über verschiedene Bevölkerungsgruppen von sich gibt, treiben diese Spaltung voran. Vergangene Woche twitterte Trump „when the looting starts, the shooting starts“ (wenn geplündert wird, wird geschossen), was sich auf afroamerikanische Minderheiten bezogen hat. Jetzt sehen wir die Menschen, die Scheiben von Geschäften einschlagen – und es sind vornehmlich Weiße, die dieses Chaos nutzen, um noch mehr Wellen zu schlagen. Wir sehen eine komplett kopflose Führung der USA. Auch in der Corona-Krise haben die USA keine internationale Führungskapazität gezeigt, keinen Willen zur Vereinigung, was sich auch an der Abkehr von der Weltgesundheitsorganisation zeigt. Es ist eine Verabschiedung vom Multilateralismus. In einer Pandemie, die vor keiner Grenze und keiner Bevölkerungsgruppe haltmacht, kann das nicht funktionieren und reißt in den USA Menschen hunderttausendfach in den Tod. Was sich hier abspielt, ist unglaublich – es ist die Perversion von „America First“ – America alone.

Aus dem Mangel an Unterstützung aus dem Weißen Haus könnte man ableiten, dass diese polizeilichen Angriffe auf die Presse im Sinne des Präsidenten sind – und das ist für die Integrität der Vereinigten Staaten als westliche Leitdemokratie in der Welt historisch schädlich

Die USA gelten historisch als Vorbild in Sachen Presse- und Meinungsfreiheit. Jetzt schießen Polizisten gezielt mit Tränengas und Gummigeschossen auf Journalisten – hat es Ähnliches schon mal gegeben?

Das ist zutiefst besorgniserregend und gab es in der Form noch nicht. Die Frage ist, ob einzelne Polizisten auf die Presse angesetzt werden. Das scheint eine neue Dimension zu sein. Dem Problem wird eben nicht in aller Stärke und Klarheit Einhalt geboten. Das wäre genau der Punkt, wo ein Präsident ein Machtwort sprechen müsste. Die vierte Macht im Staat muss frei sein und bleiben.

Trump aber beschimpft die Presse seit Jahren und erklärt sie zum „Feind des Volkes“ …

Seit drei Jahren führt Trump ein Krieg gegen die Presse. Er will sie nicht als vierte Macht im Staat akzeptieren. Aus dem Mangel an Unterstützung aus dem Weißen Haus könnte man ableiten, dass diese polizeilichen Angriffe auf die Presse im Sinne des Präsidenten sind. Und das ist für die Integrität der Vereinigten Staaten als westliche Leitdemokratie in der Welt historisch schädlich – hier geht es um nichts anderes als die Integrität der amerikanischen Demokratie.

Trump macht die Antifa verantwortlich für die Proteste und will sie als terroristische Organisation einordnen. Was ist von diesen Vorwürfen zu halten?

Sie sind nichts anderes als das Ablenkungsmanöver eines verzweifelten Präsidenten, der nicht mehr weiß, wie er der Lage Herr werden will. Trump will sich im Sinne eines Richard Nixon als „Law and Order“-Präsident inszenieren, der es mit harter Hand zum Wahlsieg geschafft hat. Das wird ihm meiner Meinung nach nicht gelingen. Aber er wird es probieren. Verschiedene Gruppen nutzen die Dynamik auf der Straße, um sich in bestimmter Weise Gehör zu verschaffen. Doch das ist mit Sicherheit nicht der Ursprung dieser Proteste. Ablenken zu wollen, indem man eine Randgruppe heranzieht, ist gefährlich – aber fast auch lächerlich, weil es zeigt, wie wenig dieser Präsident davon versteht, was sich im Land gerade abspielt. Das ist fast schon peinlich. Denn wer auf die Straßen blickt, sieht, was für Menschen dort unterwegs sind.

Wie geht das jetzt weiter?

Auf die USA kommen schwere Wochen zu. Die Corona-Krise ist in keiner Weise ausgestanden. Menschen, die jetzt dicht an dicht in Straßenprotesten marschieren, die ihnen nach der amerikanischen Verfassung zustehen, werden die Kraft dieses Virus potenzieren. Dem Präsidenten gibt das die Vorlage, die Verantwortung einer zweiten großen Todeswelle in den USA von sich zu schieben. Trump wird alle Schuld auf andere abwälzen, das wird weiter seine Taktik sein.

Und wie könnte sich die Stimmung trotzdem beruhigen?

Wir müssen ein Justizministerium sehen, das den Fall George Floyd und die drei Fälle zuvor lückenlos aufklärt und als faire Institution wahrgenommen wird. Aber gerade dieser Präsident hat mit den Institutionen gespielt und die Glaubwürdigkeit insbesondere amerikanischer Justizinstitutionen systematisch aufs Spiel gesetzt und zum Teil auseinandergenommen. Unter Trump wurden konservative, oft nicht qualifizierte Richter auf verschiedenen Ebenen in die Bundesgerichtsysteme hineingespült. Da drängt sich schon der Gedanke auf, ob das amerikanische Justizsystem diesen Herausforderungen überhaupt beikommen kann und faire Urteile fällen kann.

Die Proteste, anders als in den 1960er Jahren, folgen keiner charismatischen Führungsfigur, wie Martin Luther King eine war. Würde das einen Dialog erleichtern?

Wohl kaum eine afroamerikanische Führungspersönlichkeit wollte sich an einen Tisch setzen mit einem Präsidenten, der sich oft an die Seite „White Supremacists“ stellt. Ich weiß nicht, ob wir bis November in einer positiven Weise in Dialogform wieder aus dieser Krise herauskommen. Jetzt wäre der Moment – und das wurde bereits vorgeschlagen –, an dem die vier noch lebenden Ex-Präsidenten, Jimmy Carter, Bill Clinton, George W. Bush und Barack Obama, eine Ansprache an die Nation halten könnten. Weil der aktive Präsident das nicht leisten kann. Die Führung, das Land aus diesen sich überlappenden Krisen hinaus zu bewegen, kann nicht aus dem Weißen Haus kommen.

Was sollen die Europäer jetzt tun?

Auch in Europa gibt es einen Druck auf der Straße. Das ist spannend zu sehen. Wir sind alles große westliche Demokratien, die in einem liberal-kapitalistischen System funktionieren. Für eine deutsche Kanzlerin wird es schwer, sich nicht zu äußern, wenn in Berlin tausende Menschen auf die Straße gehen und die Gefährdung demokratischer Grundrechte anprangern. Es gilt oft die Norm, sich nicht in innenpolitische Belange Verbündeter einzumischen. Dennoch muss Kritik möglich sein. Es gilt hier – und bei den Verletzungen von demokratischen Freiheitsrechten in Hongkong –, z.B. die richtige Formulierung zu finden und trotzdem die Grundfreiheiten zu unterstützen, die auch unsere Grundgesetze und Verfassungen garantieren. Hier die diplomatische Nuancierung zu finden, dazu müssen europäische Staats- und Regierungschefs fähig sein. Da muss etwas kommen und es muss schnell kommen. Sonst steht auch die europäische Glaubwürdigkeit auf dem Spiel.

Sepp
3. Juni 2020 - 9.57

Sollen die Franzosen und Amerikaner doch ihren liberalen freien gesetzlosen sozialdarwinistischen Staat bekommen. Mir ist ein geregelter Staat lieber. Leider zieht diese ultraliberale französische Politik auch immer mehr in Luxemburg ein.

Methusalem
2. Juni 2020 - 16.27

Die Tatsache, dass der alte Hassprediger sich in seinen Bunker verkroch als ein paar Demonstranten vor dem Weissen Haus auftraten sagt so einiges über den aktuellen Zustand der Vereinigten Staaten.

Laird Glenmore
2. Juni 2020 - 12.24

Ich denke das auch ein Teil der Aussagen von D. Trump an diesem Desaster schuld sind, denn er hat ja ein Wahlversprechen abgegeben das er bis heute nicht einmal ansatzweise eingehalten hat " AMERICA GREAT, AMERICA FIRST ". Dann noch der Wahn eine 18 Meter hohe Mauer ( Mexico ) zu bauen, erinnert irgendwie an Walter Ulbricht " Keiner will eine Mauer bauen " und plötzlich war sie da, die Mauer. Das einzige was aus seinem Mund kommt sind Beschuldigungen, Beleidigungen, Drohungen und Selbstbeweihräucherung was er alles gemacht hat, er ist der größte und beste Präsident de die USA jemals hatten. Er ist das schlimmste und der größte Alptraum der je in den USA an der Macht war. Hoffentlich ist seine Zeit bald abgelaufen.