Alain spannt den BogenDirigent Roland Kluttig: „Die für mich größte Musik kann ich leider nicht dirigieren“

Alain spannt den Bogen / Dirigent Roland Kluttig: „Die für mich größte Musik kann ich leider nicht dirigieren“
 Foto: Marco Borggreve

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Roland Kluttig heißt der neue Chefdirigent der Grazer Oper. Im Tageblatt-Interview spricht der 52-Jährige über seinen neuen Job, was ihn an der Grazer Oper reizt und welche Herausforderungen anstehen.

Tageblatt: Herr Kluttig, nach zehn Jahren als Generalmusikdirektor am Landestheater Coburg wechseln Sie nun nach Graz. Sie halten sich demnach an die Regel von Lorin Maazel, niemals länger als zehn Jahre bei einem Klangkörper zu bleiben.

Roland Kluttig: (lacht) Ich weiß nicht, ob man das so pauschalisieren kann und ob es eine richtige Jahreszahl gibt. Solange die Zusammenarbeit fruchtbar ist und Musiker und Dirigent sich gefordert fühlen, kann man künstlerisch weiterkommen. Braucht das Orchester oder der Dirigent jedoch ein neues Input, dann ist es Zeit, über einen Wechsel nachzudenken – unabhängig davon, ob das jetzt nach fünf, sieben oder zehn Jahren ist. Wichtig ist, dass man sich etwas zu sagen hat und dass keine ungesunde Routine eintritt. Für mich ist jetzt die Zeit gekommen, zu einem anderen Haus zu wechseln, das mir mehr Möglichkeiten bietet.

Was reizt Sie denn besonders an Graz?

Graz ist – nach der Wiener Staatsoper – das zweitgrößte Opernhaus in Österreich. Was für mich unter anderem ausschlaggebend ist, ist das groß besetzte Orchester. In Coburg hatten wir nicht so viele Musiker und zahlreiche Opern, die wir aufführten, mussten mit einem reduzierten Klangkörper gespielt werden. Das geht, ist aber auf Dauer nicht optimal, insbesondere wenn man Strauss oder Wagner aufführen will. Zudem ist Graz ein sehr weltoffenes Haus – ich habe hier schon 2018 Dukas’ Ariane et Barbe-bleue und 2019 Szymanowskis König Roger dirigiert. Und es gibt auch hier eine große Operntradition, die viele internationale Gastsänger anzieht. 

Graz ist ja auch ein Mehrspartenhaus mit Konzerten, Oper, Musical und Theater. Wo werden Ihre Aufgaben als GMD denn genau liegen?

Mein Titel wird nicht GMD sein, in Österreich gibt es den nicht, sondern Chefdirigent des Philharmonischen Orchesters. Ich werde zuständig für den gesamten musikalischen Bereich sein, also für Oper, Operette und Musical. Das Philharmonische Orchester gibt zudem regelmäßig Konzerte in der Oper oder im Grazer Musikverein. Da steht dann auch das gesamte Repertoire auf dem Programm. Ich werde allerdings keine Operetten und Musicals dirigieren, die liegen in den Händen der Kapellmeister.

Ihr Wechsel fällt ja nun in die Zeit der Corona-Krise. Wie gehen Sie damit um und wie bereiten Sie denn jetzt die erste Spielzeit in Graz vor?

Das ist momentan tatsächlich schwierig. Ich selbst bin noch nicht im Haus, doch unsere Planung steht eigentlich für die nächsten drei Jahre. Wegen der Krise gerät alles momentan komplett durcheinander und wir wissen auch nicht, wo wir gerade stehen, denn es gibt keine Weisungen für September. Dann haben wir ja noch die Produktionen, die jetzt ausfallen, und wir müssen dann schauen, ob und wann wir sie in den nächsten Spielzeiten einplanen können. 

Während sich Festivals wie Bayreuth und Salzburg oder andere große Opernhäuser, die mit fest verplanten Sängerstars arbeiten, nun komplett umorganisieren müssen, scheint das in dieser Hinsicht bei einem festen Ensemble einfacher zu sein.

In Coburg haben wir ein festes Ensemble. Da ist es dann tatsächlich einfacher, weil die Sänger im Haus fest engagiert sind. Aber in Graz haben wir viele bekannte Gäste. Und die, das wissen Sie, sind auf Jahre ausgebucht. All die großen Häuser und Festivals müssen nun ganz neu planen oder umbesetzen. Schwierig ist es auch mit den Regieteams, wo Regisseur, Bühnenbildner und Kostümbildner für ein spezielles Projekt gebucht sind. Das Projekt dann so zu verschieben, dass auch alle Beteiligten zur selben Zeit frei sind, ist nicht einfach. Und jetzt stellen Sie sich mal vor, wie kompliziert das bei hundert angesetzten Projekten mit bereits engagierten Teams sein wird.

Ihr Großvater war Kirchenmusik-Direktor in Dresden, und Ihr Vater, ebenfalls Dirigent, war Leiter des Händelfestspielorchesters und einer der ersten Verfechter der historischen Aufführungspraxis in der damaligen DDR – allerdings besaß er wie Sie auch eine große Affinität zur zeitgenössischen Musik. Die Vielseitigkeit des Repertoires scheint Ihnen demnach in die Wiege gelegt worden zu sein.

Also sicher ist mir die Musik in die Wiege gelegt worden. Mein Vater hat mich schon als Kleinkind mit in die Proben genommen und als Schulkind habe ich schon etliche Generalproben gehört. Mein Vater war tatsächlich Spezialist für Händel und Barockmusik, aber nicht nur. Er dirigierte auch die Symphonien von Schostakowitsch und Gustav Mahler. Später wollte ich mich natürlich von meinem Vater abgrenzen und orientierte meine Suche in Richtung zeitgenössische Musik. Ich fand und finde es immer noch sehr spannend, mit lebenden Komponisten zu arbeiten und die Musik quasi aus erster Hand zu erfahren. Gerade heute ist es als ausführende Musiker unsere Pflicht, auch die Komponisten der Gegenwart in unseren Programmen zu berücksichtigen. 

Als Dirigent wagen Sie sich auch gerne an ein ausgefallenes Repertoire wie die Symphonien von Louise Farrenc und die Orchesterwerke des mexikanischen Komponisten Silvestre Revueltas, denen Sie ja ganz eng verbunden zu sein scheinen. 

Die Musik von Louise Farrenc war eine wirkliche Überraschung für mich. Sie ist äußerst spannend und spielenswert und besitzt die Leichtigkeit und Schönheit Mendelssohns. Also gar keine zweitklassige Musik und sicher ein schönes Beispiel dafür, welch talentierte Komponistinnen es doch im 19. Jahrhundert gab. Und ich bin sicher, da gibt es noch andere zu entdecken, wie beispielsweise die total verkannte Emilie Mayer. Silvestre Revueltas ist eine Herzensangelegenheit. Ich liebe seine Musik und habe auch viel recherchiert. Sein bekanntestes Stück, Sensemaya, ist ja quasi ein Mini-Sacre du printemps. Revueltas hat darüber hinaus eine unglaubliche Fülle an Meisterwerken für klein besetzte Orchester geschrieben. Leider steht er immer noch im Schatten des populäreren und politisch korrekten Carlos Chavez, dessen Musik in Mexiko sehr viel gespielt wird, aber weitaus weniger interessant ist. 

Wenig bekannt und gespielt wird auch Martinus Oper Die Griechische Passion, die ja leider in Coburg wegen der Corona-Krise nicht aufgeführt werden konnte. Gerade bei der Annullierung einer nicht alltäglichen Produktion wie der Martinu-Oper ärgert man sich dann doch sicher richtig, oder?

Ja, für mich ist es besonders schmerzlich, dass ich diesen Martinu nicht mehr dirigieren kann. Der Proben-Prozess hatte gerade angefangen, als wegen der Krise alles abgebrochen wurde. Man versucht jetzt trotzdem, die Produktion nachzuholen und sie an das Ende der nächsten Spielzeit zu setzen. Aber leider nicht mehr mit mir, dann wird wohl mein Nachfolger am Pult stehen.

Wie vorhin angesprochen, sind Sie ein Dirigent, der sich mit Leichtigkeit durch die verschiedenen Musikepochen bewegt. Gibt es aber dann trotzdem ein Lieblingsrepertoire oder Lieblingswerke, die Ihnen besonders am Herzen liegen?

Meistens ist es gerade die Oper oder das Orchesterwerk, an der/dem ich gerade arbeite. Ich liebe die Messa da Requiem von Verdi und die Musik von Mahler, Janacek und Debussy. Nach langen Kämpfen ist auch Wagner zu einem meiner Favoriten geworden und hier in allererster Linie Tristan und Isolde. Dem Tristan bin ich wirklich verfallen. Ja, und dann eine Oper, die ich unbedingt machen will: Alban Bergs Wozzeck. Die für mich größte Musik kann ich leider nicht dirigieren. Es ist die Kammermusik von Beethoven und Schubert und natürlich die Lieder von Schubert. Das sind für mich die allergrößten Meisterwerke der Musikgeschichte.