UkraineWolodymyr Selenski ist beliebter als alle Vorgänger nach einem Jahr Amtszeit

Ukraine / Wolodymyr Selenski ist beliebter als alle Vorgänger nach einem Jahr Amtszeit
Wolodymyr Selenski hat nach einem Jahr im Amt Gefallen am Regieren gefunden Foto: Sergey Dolzhenko/POOL EPA/AP/dpa

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Er wollte es allen recht machen und hatte für jeden ein Wahlgeschenk. Den Ostukrainern gelobte Wolodymyr Selenski eine Aufwertung der russischen Sprache, den Westukrainern eine noch stärkere Anlehnung an die EU und dem kriegsgeschüttelten Donbass nicht weniger als Frieden. Ein Jahr nach Amtsantritt des zum Staatspräsidenten gewählten ehemaligen Komikers ist in der Ukraine vor allem klar, dass eben auch ein TV-Star nur mit Wasser kocht.

„Eine Amtszeit reicht nicht“, sagte Selenski angesprochen auf den Augiasstall von Korruption, Oligarchen und Reformstau, dessen radikale Ausmistung er im Wahlkampf versprochen hatte. Versprochen hatte er damals auch, nach fünf Jahren nicht mehr erneut antreten zu wollen. Nun klingt es anders: „Wenn das Volk mich weiterhin will, schließe ich nichts aus“, sagte Selenski Mitte der Woche in Kiew.

Bestimmt gelungen ist Selenski und seiner völlig neuen Partei der „Volksdiener“, neue Köpfe in die ukrainische Politik einzuführen. Auch ist seine Partei entgegen vielen Auguren nicht bereits nach ein paar Monaten in mehrere Teile zerbrochen. Natürlich gibt es auch bei den Volksdienern Fraktionen, doch wenn es wichtig ist, am gleichen Strang zu ziehen, dann gelingt das auch. So geschehen vor zehn Tagen, als es galt, ein neues Bankengesetz zu verabschieden, um sich einen neuen Fünf-Milliarden-Dollar-Kredit des IWF zu sichern. Das Bankengesetz richtet sich dabei implizit vor allem gegen Selenskis Mentor, den umstrittenen Oligarchen Ihor Kolomojski. Der Oligarch hatte immer darauf gehofft, nach der Abwahl seines Erzfeindes Petro Poroschenko seine 2016 zwangsweise nationalisierte „Privatbank“ zurückzubekommen. Selenskis Volksdiener haben dem einen Riegel vorgeschoben, und damit der Staatskasse Milliardenfehlbeträge erspart. Alleine die „Privatbank“ soll fast so viel wert sein wie der neue IWF-Kredit.

Der Umgang mit den Oligarchen

Ob sich Selenski damit wirklich von Kolomojski emanzipiert hat, ist allerdings immer noch fraglich. Beobachter in Kiew sprechen von einer weiterhin großen Nähe beim gleichzeitigen Versuch, sich mit anderen großen Oligarchen zu arrangieren. So soll sich Selenski mittlerweile regelmäßig auch mit Rinat Achmetow, dem reichsten Mann der Ukraine, treffen, der während der Maidan-Revolution noch klar die pro-russischen Kräfte und später auch die Donbass-Separatisten unterstützt hatte. Doch dies ist lange her, und Achmetow ist inzwischen auf Brüssel umgeschwenkt. Selenski strebe eine Art Schiedsrichterrolle unter den Oligarchen an, so wie es einst Staatspräsident Leonid Kutschma (2000-2004) gelungen sei, heißt es in Kiew.

Kutschmas Regierungszeit wird leider nicht mit Reformen und dem seit der Unabhängigkeit von 1991 dringend nötigen Kampf gegen die Korruption verbunden, ganz im Gegenteil. Kutschma hat sein Wesentliches zu einer weiteren Oligarchisierung von Wirtschaft und Politik beigetragen. Am schwächsten fallen denn auch Selenskis Anti-Korruptionserfolge aus. So wurde etwa gerade der als eher unabhängig geltende Oberstaatsanwalt Ruslan Rjaboschapka gegen die enge Selenski-Vertraute Irina Wenediktowa ausgetauscht. Auch die Menschenrechtslage in der Ukraine hat sich trotz Erfolgen wie der Freilassung des Regisseurs Oleh Sentsow aus russischer Gefangenschaft kaum merklich verbessert. Noch immer grassieren Ultra-Nationalisten, werden Homosexuelle und Frauenrechtlerinnen weitgehend straflos angegriffen. Noch immer nimmt die häusliche Gewalt eher zu als ab. Es sind Bereiche, die sich eben nicht so gut medial vermarkten lassen wie erfolgreiche Gefangenenaustausche zwischen Kiew und den Donbass-Separatisten.

Ähnlich ernüchternd steht es um den im Wahlkampf versprochenen Frieden im Donbass. Allerdings sieht sich Selenski hier zweifellos einem starken Gegner gegenüber, und weit erfahrenere Politiker als er sind mit dem Russen Wladimir Putin überfordert.

Im Donbass wird zwar deutlich weniger geschossen, doch ist dies eher Russlands anderen Problemen, nicht zuletzt der Corona-Krise etwa, zu verdanken. Noch immer unterstützt der Kreml seine beiden Vasallen-Armeen im Donbass mit Kriegsgerät und auch Kämpfern.

Vertrauen in Washington hat gelitten

Geschafft hat Selenski allerdings drei große Gefangenenaustausche mit den pro-russischen Separatisten. Das ist bestimmt ein Erfolg, ebenso wie die Tatsache, dass alle Beteiligten zumindest wieder miteinander sprechen. Letztmals haben sich Selenski und Putin im Dezember in Paris getroffen. Ihre Beamten indes halten fast wöchentlich Corona-bedingte Videokonferenzen, in denen sie versuchen, Alltagsprobleme der von den Kampfhandlungen betroffenen Zivilbevölkerung zu lösen. Es geht dabei um die Reparatur von Strom- und Wasserleitungen, zerschossene Frontlinien-Übergänge, die Auszahlung von Renten, aber auch die Lieferung von Gesichtsmasken, Respiratoren usw.

Für einen Politneuling sehr gut geschlagen hat sich Selenski im Trudel des amerikanischen Impeachment-Verfahrens gegen Donald Trump, das sich unter anderem auf dem Vorwurf der Amtsverletzung bei der Zurückhaltung von bereits vom US-Kongress bewilligten Waffenlieferungen an Kiew stützte. Selenski hielt sich so gut es ging raus, versuchte das seit der pro-westlichen Maidan-Revolution von 2014 gute bilaterale Verhältnis zu retten. Kiews Vertrauen in Washington hat sicher gelitten, genauso wie auch umgekehrt, doch die Verluste hätten weit größer sein können. Außenpolitisch schließlich hat sich Selenski nicht wie von seinen Gegnern im Wahlkampf vor Jahresfrist gefürchtet, enger an Moskau angelehnt, eher im Gegenteil. Gelungen ist ihm vielmehr die Lösung kleiner regionaler, teils alter historischer Konflikte, etwa auf der Linie Kiew-Budapest und Kiew-Warschau.

Ein Jahr nach der Amtseinführung hat der erst 42-Jährige keine märchenhaften Zustimmungsraten von über 70 Prozent mehr, doch noch immer ist Selenski viel beliebter, als es seine Vorgänger Poroschenko (2014-19) und der pro-russische Wiktor Janukwitsch (2010-14) nach Jahresfrist waren. Am Freitag jedenfalls hat der IWF die nächste Kreditlinie über fünf Milliarden Dollar über eine Laufzeit von 18 Monaten freigegeben. Das verschafft den Ukrainern mitten in der Corona-Krise und vor dem dadurch ausgelösten Wirtschaftseinbruch erst einmal Luft. Und damit auch Wolodymyr Selenski.