ForumDie Kraft des Ungewollten: Philosophen deuten die Welt, Epidemien schaffen Fakten

Forum / Die Kraft des Ungewollten: Philosophen deuten die Welt, Epidemien schaffen Fakten
Im Gegensatz zu China haben die Europäer zu viele Berührungsängste mit Industrie, Chemie, Elektronik und Datenverarbeitung, so der Autor des Beitrags Foto: AFP/STR

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Das Presse- und Informations-Amt der Regierung veröffentlicht täglich für die Minister eine „Presse-Revue“ mit den wichtigsten Artikeln der nationalen Printmedien. Hier eine willkürliche Auswahl einiger Titel vom 9. April 2020: „Pâques: Les Catholiques souffrent“ – „Frauen dürfen nicht die Verliererinnen dieser Krise sein“ – „Hohe Verluste für die Reisebranche“ – „Harte Zeiten an der Mosel“ – „Nichts geht mehr auf dem Wohnungsmarkt“ – „Viele Lieferketten sind durchbrochen“ – „Vertrauen in die Kulturhauptstadt schwindet weiter“ – „Les éditeurs luxembourgeois, entre confinement et crise sanitaire, attendent des jours meilleurs“ – „Es geht ans Eingemachte im Handwerk“.

Die Liste der Hiobsbotschaften ist verlängerbar. Es gibt kaum eine Branche, ausgenommen Krankenhäuser und Apotheken, die nicht im Gefolge von Covid-19 massive Einbrüche erleidet. Letzter Titel: „Vers une chute de 5% du PIB“.

Ob das wohl die Politiker und Verlangsamungs-Apostel erfreut, die noch vor Kurzem für „sanftes“, „selektives“, „nachhaltiges“ Wachstum plädierten? Die erwünschte „Décroissance“ ist da. Der Autoverkauf ist auf null abgestürzt. Tankstellen haben 80% weniger Umsatz. Mit der Schließung des Flughafens auf Findel für Passagiere hat sich die „Flugscham“ erledigt. Selbst Fräulein Thunberg hört man nicht mehr. Bloß, dass die Berater der Minderjährigen beim Weltmarken-Amt die Registrierung von „Greta Thunberg“ und „Fridays for Future“ als „Registered Trademark“ beantragt haben. Wie „Coca-Cola“, „Nike“ oder „McDonald’s“.

Hochkonjunktur haben Philosophen und andere Wahrsager beim Fabulieren über „die Zeit danach“. Die von einer weltweiten „Solidaritätswelle“ träumen. Die durch penible Kontrollen an den wiederentdeckten Grenzen nicht gerade vordemonstriert wird. Sich weder auf die Flüchtlingslager noch auf die medizinisch total unterentwickelten Einrichtungen in vielen Teilen der Welt appliziert.

In Luxemburg entdeckt die breite Öffentlichkeit die Sonnenseiten eines recht gut funktionierenden Gesundheitssystems. Auch wenn es hier und dort an Beatmungsgeräten und Gesichtsmasken fehlt. Selbst jene, die noch vor Kurzem kritisierten, in unseren Kliniken würde zu viel „Ausländisch“ gesprochen, sind nunmehr heilfroh über die Ärzte und Krankenpfleger aus der Großregion. Bei einem Anteil von nur rund einem Drittel Luxemburger in diesen schweren Berufen fühlen sich nicht viele „gutt Lëtzebuerger“ für den Dienst an Kranken berufen.

Ethische Lotterie?

Dann gibt es noch die Ethiker, die mit gehobenen Sprüchen Sorge tragen, dass die an der Corona-Front aktiven Ärzte im Einklang mit den „großen Prinzipien“ handeln. Im Tageblatt vom 9. April konstruierte ein deutscher Rechtsphilosoph diverse Hypothesen, mit denen Ärzte während der Pandemie konfrontiert werden könnten. Etwa: Es gibt nur ein Beatmungsgerät, aber fünf Patienten sind zu beatmen. Für wen sollen sich die behandelnden Ärzte entscheiden? Zur Auswahl stehen ein „83-jähriger Schwerkranker“, eine „30-jährige Mutter mit drei Kindern“, ein „zu lebenslanger Haft verurteilter dreifacher Mörder“, ein „geistig und neurologisch Schwerst-Behinderter“ und ein „Wachkoma-Patient“.

Die nationalen Richtlinien sehen im Prinzip die „Gleichheit aller Patienten“ vor. Doch sei „leider“, so der Professor, ein „wesentliches Kriterium“ für eine therapeutische Entscheidung die „individuelle Prognose für das Überleben und die Gesundheit auf kurze bis mittlere Sicht“. Juristisch „inakzeptabel“ für den Ethiker.

Das Abwiegen der Überlebenschancen führe zu einer „konsequentialistischen Ethik“, die auf das Ergebnis achte. Was mit „fundamentalen Rechtsprinzipien“ kollidiere, die „normativ homogen“ sein müssten. Als Ausweg schlagen „renommierte Ethiker“ die Organisation einer „Lotterie“ zwischen den zu beatmenden Patienten vor. „Das fairste, nämlich am sichersten unparteiische Mittel“!

Göttin Fortuna als Alibi für Ärzte und Staatsanwälte? Konklusion des Ethik-Professors: „Eine moralisch schuldlose Lösung gibt es nicht.“ Wie sagte Karl Kraus: „Es genügt nicht, keinen Gedanken zu haben. Man muss ihn auch ausdrücken können!“

Wider die großen Vereinfacher

In Krisenzeiten schlägt die Stunde der großen Vereinfacher. Alle, die nie „La Peste“ von Albert Camus lasen, wussten noch immer, dass die Menschheit sich dem Abgrund zubewegt. Eine Konferenz von 2015, bei der Bill Gates warnte, die Menschheit sei völlig unvorbereitet auf eine Pandemie, wurde wiederentdeckt als Beweis für die Unfähigkeit der Staaten, ihre Bevölkerungen wirksam zu schützen.

Die derzeitige Entwicklung scheint Gates recht zu geben. Doch wie kann man sich auf einen unbekannten Virus vorbereiten? Bill Gates nahm 2015 Bezug auf die Ebola-Krise. Das bleibende Problem ist bloß, dass niemand voraussehen kann, wann ein Virus mutiert, wie dessen Verbreitung erfolgt, ob und mit welchen Wirkstoffen es zu bekämpfen ist. Ebola, wie vorher schon HIV, verbreitet sich durch körperliche Kontakte.  Bei Covid-19 infiziert man sich vornehmlich über den Luftweg.

So wie die Militärs sich immer auf den letzten Krieg vorbereiten und deshalb meistens durch neue Techniken überrascht werden, riskiert die Staatengemeinschaft, nach Covid-19 falsche Schlüsse zu ziehen. Ist die derzeitige sanitäre Krise erst einmal überstanden, werden alle Länder gewaltige Stocks an Gesichtsmasken, Beatmungsgeräten und anderen fehlenden Materialien anlegen, die bei der nächsten Krise möglicherweise obsolet sein werden – anstatt dafür zu sorgen, dass man auf eine unbekannte Gefahr möglichst flexibel reagiert.

So haben beispielsweise die Chinesen binnen wenigen Tagen mehrere Tausend Industriebetriebe umgerüstet, um schnellstens fehlende Hilfsgüter herzustellen. In Frankreich benötigte es die ganze Überzeugungskraft von Präsident Macron, um vier Betriebe des Automobilsektors zur gemeinsamen Produktion von Beatmungsgeräten anzuhalten.

Die „Globalisierung“ steht nunmehr am Pranger. Sicher wäre es besser, wenn überall in Europa noch Heilmittel produziert würden, anstatt dass Indien und vor allem China zur Medikamenten-Werkstatt der Welt avancierten. Auch muss hinterfragt werden, ob „Just in time“-Belieferung statt Stocks kein zu großes Risiko sind für die Fertigung vieler Güter. Dennoch wird es nicht gelingen, die internationale Arbeitsteilung schnell auszubalancieren. Besonders die Europäer haben zu viele Berührungsängste mit Industrie, mit Chemie, selbst mit Elektronik und Datenverarbeitung. Wie hierzulande der Zinnober um die Einpflanzung eines Google-Datazentrums beweist.

Ende der Globalisierung wird warten

Dabei zeigt die derzeitige Krise, dass ohne vermehrte Datenflüsse auch in Luxemburg nichts mehr laufen würde. Unser Leben wird dominiert durch Anglizismen: Online-Shopping, Online-Banking, Home-Office … Den „Lockdown“ versüßt man sich hinter den eigenen vier Wänden mit „Streaming“, mit „Netflix“, mit „Pornhub“, mit elektronischen Spielen.

Übrigens steigt der globale Handel in Dienstleistungen schneller als der Handel mit Waren. Der Wert der Dienstleistungen stellt bereits ein Drittel der globalen Wertschöpfung dar. Die Hälfte aller Kapazitäten für die Herstellung elektronischer Güter steht in China. Chinas „Pearl River Delta“ bringt in Zwischenzeit mehr Hard- und Software-Innovationen heraus als Silicon Valley. Selbst wenn es weiterhin bei Apple heißt: „Designed in California, Assembled in China“.

Gerade im Bereich der Elektronik sind die Europäer weit im Hintertreffen. Unter den weltweit führenden Firmen gibt es bloß Amerikaner und Chinesen. Nur beim Porno kann eine in Luxemburg beheimatete Firma mithalten.

Covid-19 wird die Welt verändern. Wie, lässt sich aktuell nicht abschätzen. Unumkehrbar sein wird nur der Trend zu immer mehr Digitalisierung. Um zwischenmenschliche Risiken zu minimisieren, wird immer mehr elektronisch eingekauft. Seit Ausbruch der Krise heuerte allein Amazon in den USA über 100.000 neue Mitarbeiter für Versandzwecke an. Elektronische Zahlmittel werden verstärkt eingesetzt, was zur Schließung von weiteren Bankschaltern führt. Streaming wird zunehmen, wird Theater, Konzerte und Kinos bedrängen. Kurz: Die Welt geht auf digitale Distanz.

* Robert Goebbels ist ein ehemaliger Minister (LSAP) und Europaabgeordneter.

J.Scholer
15. April 2020 - 8.32

Vieles was Sie schreiben Herr Goebbels kann ich bejahen, allerdings in einem Punkte werden wir uns wohl streiten, die EU. Gerade in Corona Zeiten haben Sie einen Hochgesang auf das Schengen Abkommen geschrieben, nicht ich das ablehne , aber gerade wo zu diesem Zeitpunkt Deutschland schon die Grenzen geschlossen hatte, fokussieren Sie Europa nur auf die Reisefreiheit, den Warenverkehr. Nun mag das in den Köpfen vieler Bürger von Wichtigkeit sein, allerdings mein Europa ist Solidarität, Humanismus, Soziales, die Gleichheit aller Ethnien, Kulturen , Religionen. Gerade in diesen Punkten, das ist wichtigste Erkenntnis dieser Pandemie, hat der europäische Kontinent versagt, das Nord-, Südgefälle noch tiefere Gräben hinterlassen , die unsolidarische Politik von Deutschland, Österreich, den Niederlanden tiefe Gräben gerissen hat.Wollen wir auch die undemokratischen , autoritären Entscheidungen mancher Staaten nicht vergessen, die halbherzig kritisiert , ihren diktatorischen Weg weitergehen. Auch der langsam reagierende Aparatschik in Brüssel hat den Anfang der Pandemie Krise verschlafen, zögerlich das unverschämt , unsolidarische Handeln mancher Staaten angeprangert, das Nicht-Einhalten desSchengen Abkommen nicht verurteilt . Diese Pandemie hat die Grundfeste Europas erschüttert, manch ein sonst so überzeugter Europastaat, hat Nationalisten, Populisten die Trümpfe in die Hand gespielt . Sie Herr Goebbels sind überzeugter Europäer, ich auch , aber für mich überwiegt der soziale, humanistische, solidarische Aspekt, ich will kein Europa derer ,die Eigenwohl und Wirtschaft zum Credo erhoben haben.