DokumentarfilmToda la historia del rio: „River Tales“ von Julie Schroell 

Dokumentarfilm / Toda la historia del rio: „River Tales“ von Julie Schroell 
Magisch-verwunschene Welt: Der Fluss San Juan fließt über 199 Kilometer und mündet ins karibische Meer

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Die blutige Geschichte Lateinamerikas läuft am Fluss San Juan in Nicaragua zusammen. Ein neuer Dokumentarfilm der luxemburgischen Filmemacherin Julie Schroell folgt den Spuren, die die Conquista dort hinterlassen hat, und fängt Alltag und Träume der Bewohner einer Kleinstadt am Ufer des San Juan in eindrucksvollen Aufnahmen ein.

Die Kamera streift über den trüben Fluss, man hört nur das monotone Knattern der Bootsbatterie. Es folgt ein Zoom in den Urwald, und das Auge blickt mitten auf das satte Grün des Dschungels: „La selva“. Die blutige Geschichte der Conquista, der gewaltsamen Eroberung Lateinamerikas durch die spanischen und portugiesischen Kolonialherren, läuft am Fluss San Juan zusammen, so der Glaube der (Ur-)Einwohner diesseits und jenseits des großen Flusses. Er hat schon deshalb starke Symbolkraft, weil er bereits in den frühesten von den Spaniern überlieferten Erzählungen vorkommt.

Zu Beginn des Dokumentarfilms wird ein solcher Text eingeblendet, aus dem der Zuschauer erfährt, dass bereits 1524 der Konquistador Hernán Cortés einen Brief an den Herrscher Karl V. verschickt haben soll; in diesem war die Rede von einem Fluss, der den pazifischen mit dem atlantischen Ozean verbinde und damit den ersehnten Seeweg nach Indien freilegte, den Christoph Kolumbus einst suchte. „Wer diesen Weg zwischen beiden Ozeanen kennt, dürfe von sich behaupten, dass ihm die Welt gehöre …“

Der Drehort, den die luxemburgische Filmemacherin Julie Schroell ausgewählt hat, ist ein ebenso mythischer Ort: „El Castillo“ (rund 20.000 Einwohner), am rechten Ufer des San Juan. Eine Festung, die die spanischen Konquistadoren im Jahr 1672 dort errichteten, überragt die Stadt.

Harmonischer Ort

Der Großteil der Einwohner von „El Castillo“ lebt in ärmlichen Verhältnissen von Landwirtschaft, Viehzucht oder Fischerei. Viele zieht es von dort früher oder später in die Hauptstadt Managua oder nach Costa Rica. Es ist ein unbefleckter Ort, der in seiner Unschuld wirkt wie einem Roman von Gabriel García Márquez entsprungen. Man denkt an seinen verwunschenen Ort „Macondo“ aus „Hundert Jahre Einsamkeit“ (Cien años de soledad, 1967). Auch hier leben die Einwohner ein ruhiges Leben in einer Harmonie, die anscheinend allein durch die internationalen Export-Firmen zerstört wird. Ausländer brachten von jeher Gewalt, Kapitalismus, die christliche Religion und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen mit sich. So war es vor über 500 Jahren und so ist es bis heute geblieben …

Immer wieder versuchten ausländische Investoren, mit megalomanen Kanalprojekten den Atlantik mit dem Pazifik zu verbinden. Rund 72 Großprojekte rund um den Fluss sind geplatzt, zuletzt das eines chinesischen Investors – ein Deal des einstigen Hoffnungsträgers der nicaraguanischen Revolution und Langzeitpräsidenten Daniel Ortega.

Schroell zeigt in dem vom luxemburgischen Film Fund finanzierten Filmprojekt (der im Rahmen des 10. Luxembourg City Film Festival hätte gezeigt werden sollen, dessen Premiere jedoch wegen der Corona-Epidemie gecancelt wurde) aber weniger die politische Dimension, die hier nur die Klammer inmitten des historischen Rahmens bildet, als vielmehr den Alltag der Dorfbewohner. Die Dokumentation liefert Einblicke in das Dorfleben: Man sieht Frauen am Waschstein, Bananen und Reis kochen oder die Stuben ihrer kargen Holzhütten putzen. Man sieht die Kinder bei Theaterproben, wie sie durch den Ort tollen und sich ihre Zukunft ausmalen. Die Kamera ruht immer wieder auf den verträumten Gesichtern der Kinder. Es ist auch in den Bildern ein etwas zu harmonischer Blick auf den nicaraguanischen Ort und seine Idylle, in der Machismo, damit verbundene Ehrenmorde und Kriminalität keinen Platz finden. Das Böse kommt von außen.

2014 bereiste die Filmemacherin erstmals Nicaragua und blieb dort ein Jahr. Als sie nach „El Castillo“ kam, wusste sie sofort, dass ihr Dokumentarfilm hier spielen würde. Ihre Faszination spiegelt sich in den Bildern wider.

Gescheiterte Revolution

Die Rahmenhandlung, über ein Theaterprojekt Kreativität und Selbstständigkeit bei Kindern zu fördern, funktioniert gut. Die Kamera folgt über eine Stunde (80 Minuten) dem idealistischen Lehrer und Schauspieler Yemn Jordan, der über das Theaterspiel junge Menschen zum kritischen Denken bringen will und dort seinerzeit Workshops für Kinder anbot. Gemeinsam mit ihm hatte Schroell das Theaterprojekt ins Leben gerufen. Ihr Vorhaben: ein Stück über die Geschichte des Flusses und den Kanal. Während der Proben erschlossen sich die Kinder die Geschichte ihres Landes im Kontext der Conquista, die sie auf der Bühne nachspielten. „Ich glaube, wir sind beides, ein bisschen Spanier und ein bisschen Indianer“, antwortet ein Junge auf die von Yemn bei den Proben in den Raum geworfene Frage, was ihre wahre Identität sei. Es sei ihr wichtig gewesen, einen Film zu drehen, der einen Einfluss auf die lokale Bevölkerung hat und dieser zugleich die Möglichkeit bietet, etwas über ihre Geschichte zu lernen, so das Statement der Filmemacherin im begleitenden Presseheft.

Entstanden ist ein eindrucksvoller Dokumentarfilm, der es schafft, ein Stück weit den magischen Realismus Lateinamerikas zu transportieren. Es sind intime Aufnahmen, die den Dorfalltag der Bewohner von „El Castillo“ einfangen. Wie offen die Adern Lateinamerikas bis heute sind und dass die Gesellschaften in den meisten Ländern Mittel- und Südamerikas bis heute auf einem brüchigen Fundament ruhen, davon zeugen die jüngsten Entwicklungen: Im April 2018 fiel Nicaragua in eine tiefe Krise. Eine der Ursachen war die Unzufriedenheit der Einwohner mit den Plänen des chinesischen Investors, erfährt man im Film. Der Theatermacher Yemn erhielt Morddrohungen und musste das Land verlassen.

„Cuentos del rio“ schafft es, Menschen, die noch nie in Lateinamerika waren, die mythische Realität und die Faszination des exotischen Ortes nahezubringen, streift die politische Lage Nicaraguas jedoch nur sporadisch. Gerade für (Alt-)Linke ist Nicaragua ein Sinnbild einer letztlich misslungenen Revolution, die nicht nur – wenn auch manch linke Erzählung dies will – durch den Einfluss von außen (USA) gescheitert ist. In den 1970er und 80er Jahren hatte eine ganze Generation die Sandinisten unterstützt. Der Befreiungsruf „Nicaragua sin Somoza!“ wurde zum Schlagwort für Nicaragua-Solidarität. Heute ist davon in Nicaragua fast nur noch Vetternwirtschaft und Desillusion übrig. Selbst die nicaraguanische Dichterin Gioconda Belli (Feministin und einst glühende Anhängerin der Sandinisten) beschrieb Nicaragua im Jahr 2018 als von Daniel Ortega geführte Klientelwirtschaft. Ortega und seine Familie kontrollierten das ganze Land, von den Medien über die Polizei bis hin zur Justiz. Die Propaganda-Reden von Ortegas Frau Rosario Murillo seien laut Gioconda Belli „eher mit Goebbels als mit Orwell“ vergleichbar.

„Cuentos del rio“ ist damit ein Gesang auf die magische Realität Lateinamerikas und ein stiller Abgesang auf die gescheiterten Revolution(en).

Seit dem 31. März können Interessierte eine Auswahl der Filme des LuxFilmFest auf Video on Demand abrufen. Der Schwerpunkt dieser Home Edition liegt zunächst auf den luxemburgischen Koproduktionen und Kurzfilmen. Neben „Dreamland“, „Jumbo“, „Norie“, „Tune into the Future“ wird auch der hier besprochene Dokumentarfilm „Cuentos del rio“ im Stream gezeigt. In den kommenden Wochen folgen Besprechungen der restlichen Filme.   

Info

Cuentos del rio (2019), Original: Spanisch mit engl./franz. Untertiteln; 82 Minuten; Regie & Drehbuch: Julie Schroell; Produzenten: Jesus Gonzalez; Julie Schroell. Eine Produktion des Film Fund Luxembourg und Calach Films. Informationen zum Film unter: http://www.julieschroell.com/cuentosdelrio.