Häusliche GewaltEingesperrt mit dem Peiniger: Wenn Quarantäne zum Risikofaktor wird

Häusliche Gewalt / Eingesperrt mit dem Peiniger: Wenn Quarantäne zum Risikofaktor wird
Strafrechtlich verfolgt werden meist nur physische Formen der häuslichen Gewalt, doch auch verletzende Worte, psychischer Druck und aufgezwungene sexuelle Handlungen sind für die Opfer eine extreme Belastung Foto: Editpress-Archiv

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24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche: Für zahlreiche Familien ist die aktuelle Quarantäne eine Dauerbelastung, denn wo Menschen auf engem Raum eingesperrt sind, wird die Luft schnell dick. Die aktuelle Ausgangssperre fördert dabei besonders Formen der häuslichen und innerfamiliären Gewalt, auch wenn diese meist nicht als solche erkannt wird. Fabienne Juncker-Quainon, eine ausgebildete Beraterin für Menschen, die zu Hause unter den Handlungen ihres Partners leiden, warnt vor den Risiken in Krisenzeiten.

„Was hast du denn jetzt wieder getan? Du bist aber auch wirklich zu nichts zu gebrauchen, einfach nur dumm!“ Eine Aussage, die wehtut, vor allem, wenn sie von einem geliebten Menschen stammt, der einen eigentlich mit Respekt behandeln sollte. Verbale Gewalt hat wohl fast jeder schon einmal zu Hause erfahren, den wenigsten ist sie jedoch als solche bewusst. Tritte, Ohrfeigen, Prügel vom Partner oder Elternteil – all dies wird in der Gesellschaft als inakzeptabel empfunden, doch häusliche und innerfamiliäre Gewalt hat weitaus mehr Gesichter als nur reine körperliche Brutalität. Seit fünf Jahren betreut Fabienne Juncker-Quainon Paare und Familien im Brennpunkt und hat in ihrer Karriere schon so manches Grauen gesehen. Als gelernte Krankenschwester ist die 56-Jährige in ihren zahlreichen Jobs in Pariser und Luxemburger Krankenhäusern früh in Kontakt mit dem Thema Gewalt gekommen. Irgendwann entschied sie dann, aktiv zu werden und Betroffenen auf psychologischem Level helfen zu wollen.

Nur drei Therapeuten in Luxemburg haben die spezifische Ausbildung zum Berater für häusliche und innerfamiliäre Gewalt absolviert, Juncker-Quainon ist eine von ihnen. Aktuell begleitet sie jene, die sie um Rat ansuchen, über Telefon oder Videokonferenz, denn Face-to-face-Betreuung gibt es in Zeiten der Ausgangssperre nicht. Doch genau jetzt wird Hilfe auf dem Terrain dringend benötigt, denn mehr Zeit in Quarantäne bedeutet auch mehr Potenzial für Gewalt. „In vielen Familien existiert diese ohne den bewussten Willen, dem anderen zu schaden und ohne dass sie als solche wahrgenommen wird. Dennoch ist sie real und während der Corona-Krise in gesteigerter Form vorhanden“, erklärt die Beraterin. Gewalt kann dabei in fünf unterschiedlichen Ausrichtungen auftreten: verbale Gewalt durch Wörter und Aussagen, die erniedrigen und verletzen, die daraus resultierende psychologische Gewalt, welche sich durch Unverständnis, Angst oder dem Gefühl von Verzweiflung ausdrückt, körperliche Gewalt, sexuelle Gewalt und ökonomische Gewalt, also beispielsweise das Arbeitsverbot durch den Partner oder die Macht über die Finanzen der Familie.

Kinder und Sexualität als Streitthema

„Besonders auf psychologischem Niveau sind die Folgen gravierend, denn das Opfer versteht nicht, wie die Person, die man eigentlich liebt, einem das antun kann“, so Juncker-Quainon. Schon Kleinigkeiten können Ausdruck von Gewalt sein, so ist der unaufgeforderte Klaps auf den Hintern beim Abspülen oder das dauerhafte Bemängeln der Qualitäten des anderen für viele eine Belastung, die auf Zeit unerträglich wird. „Ein bisschen davon existiert in jedem Haushalt, doch meist werden die negativen Momente durch positive Dinge wie ein Dankeschön oder Komplimente ausbalanciert. Ist dies allerdings nicht der Fall und das Negative überwiegt, so findet die Gewalt ihr Crescendo.“ Dinge, die im Normalfall durch mehrere Stunden der getrennten Aktivität an Gewicht verlieren, sind während der Quarantäne dauerpräsent und sorgen für Spannungen im Heim. „Sonst wird man während acht Stunden am Tag nicht mit dem anderen konfrontiert. Während der Ausgangssperre ändert allerdings der Lebensrhythmus und auch Vergnügen erfahren nun einen Wandel“, erklärt die 56-Jährige.

Sei es die Aufteilung der häuslichen Aufgaben, die Wahl des Programms im Fernsehen oder Entscheidungen über die Erziehung der Kinder – in der Quarantäne muss alles koordiniert werden. Es muss also ein Rahmen her, in dem sich beide Partner zurechtfinden können, ansonsten riskiert die Atmosphäre zu kippen und das Potenzial für Konflikte steigt. „Kinder nehmen dabei eine zentrale Rolle ein. Aber auch die Sexualität kann für Paare ein Streitthema sein. Während Männer über Berührungen wieder zum emotionalen Gleichgewicht finden, müssen Frauen sich erst vom Partner im Alltag verstanden fühlen, um überhaupt Lust auf Intimität zu haben. Wenn dies nicht der Fall ist, entsteht auf beiden Seiten Frustration und über längere Zeit steigt so das Risiko von Gewalt“, so die Expertin. Es müssen neue Gewohnheiten etabliert werden, im Coaching versucht die Beraterin deshalb, genau da anzusetzen, wo der Schuh drückt: „Ich arbeite sehr praxisorientiert und mit konkreten Ratschlägen für Veränderung. Wenn es um die Erziehung der Kinder geht, müssen die Eltern ihre Komplizität wiederfinden und eine Allianz formen, durch die die Kinder erneut Respekt lernen. Vor allem aber muss sich ausgetauscht werden, damit jeder genau weiß, wo sein Platz ist.“

Mehr Intoleranz und Impulsivität

Doch für viele ist die aktuelle Situation dann doch nicht ganz so einfach, wie die Beraterin erklärt: „Ein Faktor ist die Größe der Fläche, auf der man eingeschlossen ist. Wenn man nur wenig Wohnfläche zur Verfügung hat und sich so nicht in einem separaten Raum vom Partner isolieren kann, ist es auch extrem schwierig, sich in prekären Situationen Hilfe zu holen.“ Wer mit der Beraterin telefonieren möchte, ist gezwungen, ins Freie zu gehen, um der ständigen Anwesenheit des Partners zu entkommen, die Polizei im Notfall zu rufen wird noch riskanter, als dies im Normalen schon der Fall wäre, und auch das Erstatten einer Anzeige gestaltet sich als Spießrutenlauf. „Alles gewinnt während der Quarantäne an Intensität und das macht die aktuelle Situation so destabilisierend. Der Kontext begünstigt Intoleranz und Impulsivität und irgendwann gelangt man an dem Punkt der Überlastung an und dann kann es kritisch werden“, warnt Juncker-Quainon. Auch die bereits komplizierte rechtliche Lage in Bezug auf häusliche Gewalt wird durch die Krise nicht einfacher, bei Anschuldigungen steht es Aussage gegen Aussage, blaue Augen bleiben hinter geschlossenen Türen verborgen.

Opfer sind dabei allerdings nicht nur Frauen oder Kinder, auf die sich die Frustration der Eltern überträgt. „Weibliche Täter üben Gewalt meist über verbale Erniedrigungen in Form von negativen Kommentaren zur Sexualität des Mannes aus. Diese sind für das Opfer vernichtend, die Männlichkeit wird dadurch komplett angegriffen und der Mann verliert jegliches Selbstbewusstsein.“ Alkohol, Drogen oder das Vorhandensein von Gewalt in der Kindheit kann das Verhalten der Peiniger verstärken, doch auch das Fehlen gewohnter Aktivitäten der Druckentlastung spitzen die Lage im Haushalt zu. „Externe Stressfaktoren sind nun im Innern eingesperrt, das fördert die Entwicklung von Gewalthandlungen“, so die Expertin. Um dem entgegenzuwirken, setzt Fabienne Juncker-Quainon auf drei Dinge: Kommunikation, die Definition einer Struktur im Alltag und das Runterschrauben persönlicher Ansprüche. „Wenn es abends auch mal Pfannkuchen gibt oder der Haushalt nicht so perfekt erledigt wurde, dann ist das auch kein Drama.“

Hilfemöglichkeiten für Opfer

Um Betroffenen allerdings auch weiterhin Beistand leisten zu können, haben sich im französischsprachigen Raum Psychologen und Therapeuten zusammengeschlossen, um Hilfe-Hotlines zu bilden. „In Frankreich können Frauen sich daneben auch unter dem Vorwand, Medikamente zu besorgen, an Apotheker wenden, die sie dann an die richtigen Beratungsstellen weiterleiten“, erklärt die Expertin. Hierzulande gibt es solche Maßnahmen bisweilen noch nicht, doch bestehende Strukturen wie die „Femmes en détresse Asbl.“, das „Planning familial“ oder Unterkünfte für Opfer bleiben auch weiterhin geöffnet. Alles in allem heißt es für jeden die Augen und Ohren aufhalten, denn auch in Zeiten der Quarantäne und sozialen Distanz muss und darf häusliche und innerfamiliäre Gewalt nicht im Verborgenen bleiben.  

Fabienne Juncker-Quainon arbeitete über 20 Jahre als Krankenschwester und ist seit fünf Jahren als Beraterin für häusliche und innerfamiliäre Gewalt im Einsatz
Fabienne Juncker-Quainon arbeitete über 20 Jahre als Krankenschwester und ist seit fünf Jahren als Beraterin für häusliche und innerfamiliäre Gewalt im Einsatz Foto: privat
sbis
5. April 2020 - 15.29

Tageblatt respektéiert mat dëssem Artikel net dass d Gewalt och vun enger Fra kann ausgeliewt gin. Sou soll Tageblatt zum Respekt vum geschloen Mann den Artikel sou geschriwwen gin dass et verständlech as dass et sech em een männlechen oder weiblechen "Peiniger" kann handelen.