Interview mit Arzt aus Bergamo„Wir haben alle die Gefährlichkeit des Virus unterschätzt“

Interview mit Arzt aus Bergamo / „Wir haben alle die Gefährlichkeit des Virus unterschätzt“
Wohnungsbesuch bei einem Covid-19-Patienten in Bergamo: Der Arzt Mirco Nacoti will im Gesundheitswesen völlig neue Wege beschreiten – anders gehe es nicht im Kampf gegen die Pandemie Foto: AFP/Piero Cruciatti

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Italien zählt zu den Staaten mit den meisten Coronainfektionen und hat bislang mehr als 13.000 Tote zu verzeichnen. Ein Brennpunkt ist die Provinz Bergamo im Nordwesten des Landes. Dramatische Krankheitsverläufe und viele Todesfälle, das Gesundheitswesen am Limit. Ärzte lassen einen Notruf erschallen, zeigen auf, wo und wie die Pandemie unterschätzt wurde. Zu den Unterzeichnern des Brandbriefes gehört Dr. Mirco Nacoti, Anästhesist am Krankenhaus Papst Johannes XXIII.

Tageblatt: Vor einer Woche publizierten Sie einen offenen Brief, in dem Sie auf die dramatische Lage in Bergamo hinwiesen. Was hat sich seither verändert?

Mirco Nacoti: Die Lage im Krankenhaus hat sich minimal beruhigt. Wir haben unsere Intensivbetten von 48 auf 100 aufstocken können, aber derzeit haben wir 500 Patienten, die eine solche Therapie brauchen. Jeden Tag müssen wir aufs Neue entscheiden, wen wir an die Beatmungsgeräte, manchmal nur für Stunden, anschließen können. Derzeit bekommen nur Patienten, die absolut nicht selbst atmen können, diese Leistungen. Die schwersten Fälle werden in andere Regionen transportiert, auch andere EU-Staaten haben bereits Patienten aus Italien übernommen.

Restriktive Maßnahmen wie Ausgangs- und Kontakteinschränkungen, so vermuten einige Experten, zeigen erste Anzeichen einer Verlangsamung von Neuinfektionen. Könnte dies ein Weg sein, die Pandemie einzuschränken?

Noch haben wir dazu keine verlässlichen Zahlen. Aber wir müssen jetzt alle – Mediziner, Politiker und die Menschen in der Gesellschaft – eine neue Strategie im Umgang mit dem Virus entwickeln. Von den derzeit in Italien infizierten Menschen – und das sind alleine in der Lombardei 25.765 – wird gegenwärtig die Hälfte in Krankenhäusern behandelt. Hinzu kommen alle anderen Fälle, die mit „normalen“ Krankheitsbildern stationär aufgenommen werden müssen. Für alle Patienten müssen wir unsere Krankenhauskapazitäten so organisieren, dass sie bestmöglich versorgt werden können. Um dies zu erreichen, müssen wir die Entwicklung bei den Neuinfektionen genauer einschätzen, ja voraussehen können. Kontakteinschränkungen mögen da helfen, doch vor allem müssen wir erfahren, in welchem Grad sich das Virus bereits verbreitet hat. Dies können wir nur, wenn wir große Menschengruppen testen können. Ein wichtiger Weg zur Bekämpfung der Epidemie ist also, neue Testmethoden und möglichst viele Testkits bereitzustellen.

Italien und Spanien verzeichnen in Europa sehr hohe Infektionsraten, andere Länder der EU dagegen deutlich weniger. Ist dies eine Frage des unterschiedlichen Gesundheitswesens?

Was das Gesundheitswesen anbetrifft, so denken wir, dass im Zuge einer Pandemie völlig neue Wege beschritten werden müssen. Bislang hatten wir in den europäischen Gesundheitssystemen eine patientenbezogene Gesundheitspolitik, wir brauchen aber eine aber gesellschaftsbezogene. Die Entwicklung gerade hier in Bergamo zeigt, dass das Gesundheitswesen im Falle einer Pandemie sehr schnell an den Rand des Kollapses gerät. Die übliche Krankenhausbehandlung reicht nicht aus, zumal wir erkennen mussten, dass gerade Krankenhäuser zum Multiplikator der Infektion werden können: Patienten übertragen das Virus, aber auch Ärzte und Pfleger werden – ohne selbst zu erkranken – zu passiven Überträgern. Was wir brauchen, sind dezentrale Lösungen: Krankenpflege zu Hause mit Beatmungsgeräten und Oximetern, die die Sauerstoffsättigung messen, mobile Testzentren und auch Kliniken, Hotels, öffentliche Einrichtungen, die in kurzer Zeit zu Behandlungszentren umfunktioniert werden können. Auf all diese Fragen, das haben wir jetzt schmerzlich gelernt, waren wir nicht vorbereitet. Und auf diese Fragen sind auch die Länder, die uns im Abstand von etwa zwei Wochen folgen, nicht ausreichend vorbereitet. Ich kann an Staaten wie Luxemburg nur appellieren, möglichst große Testreihen zu starten, um den wirklichen Durchseuchungsgrad mit dem neuen Virus festzustellen.

Wenn die Kapazitäten an ihre Grenzen kommen, ist es dann nicht auch ein großes ethisches Problem, welchen Patienten eine Intensivtherapie zugutekommt?

Das ist eine Frage, vor der wir bis zum heutigen Tag glücklicherweise noch nicht standen. Aber das Problem ist da: Sie haben 200 Patienten, die an Covid-19 erkrankt sind und eine Beatmungstherapie benötigen. Es stehen aber nur 100 Betten zur Verfügung – wem geben Sie eins? Den 80-Jährigen, einer 30-Jährigen, die noch drei Kinder großzuziehen hat, oder einem Behinderten, der selbst nicht abhusten kann? Wer entscheidet das?

Was also sind die kommenden Schritte, um die Pandemie einzudämmen?

Wir haben alle die Gefährlichkeit des Virus unterschätzt und aus den ersten Signalen aus China nur wenig gelernt. Die einzige Möglichkeit, die wir jetzt haben, ist, möglichst viele Diagnosen zu stellen und leider auch mit restriktiven Mitteln eine Weiterverbreitung der Infektion einzustellen. Dazu gehört auch, ich wiederhole mich, der Ausbau vieler dezentraler Stationen, wie es Wuhan mit dem Krankenhausneubau oder New York mit Sanitätszelten im Central Park exerziert haben. Dies braucht die Zusammenarbeit vieler Experten: Mediziner, Psychologen, Logistiker. Die Behandlung vieler Patienten zu Hause muss stabilisiert werden. Dann können wir uns im Krankenhaus auf die wirklich schweren und ernsten Fälle konzentrieren.