Weltautismustag in Coronazeiten / Die Welt der Menschen im Autismus-Spektrum steht Kopf
Der 2. April ist Weltautismus-Tag. Viele Menschen im Spektrum tun sich mit Kommunikation und Veränderungen besonders schwer. Somit haben Covid-19 und die einhergehenden Einschränkungen den Alltag der Betroffenen komplett auf den Kopf gestellt.
Weltgedenktage sind für Hilfsorganisationen und Interessenvereinigungen von enormer Bedeutung. Arbeiten sie ansonsten das ganze Jahr über im Schatten der Gesellschaft, bietet sich an diesem einen Datum die Möglichkeit, ein Thema ganz besonders ins Scheinwerferlicht zu rücken. Damit auch eine breite Öffentlichkeit auf ihr Anliegen aufmerksam wird. Während der aktuellen Krise aber ist fast alles der dominierenden Tagesaktualität untergeordnet. Es hat fast den Anschein, als wären andere Krankheiten, Missstände und Behinderungen von der Bildfläche verschwunden. Was natürlich nicht der Fall ist.
Wie schwer es derzeit aber ist, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf andere Themen zu lenken, wissen unter anderem die Mitarbeiter der „Fondation Autisme Luxembourg“ (FAL). Heute nämlich ist Weltautismus-Tag. Seit 2008 wird dieser von den Vereinten Nationen anerkannte Gedenktag jedes Jahr am 2. April organisiert, um das weltweite Bewusstsein für diese Krankheit zu erhöhen und die Öffentlichkeit mit unterschiedlichen Aktionen und Maßnahmen für das Thema zu sensibilisieren.
In Luxemburg beteiligt sich die FAL aktiv an diesen Veranstaltungen mit einem Programm, das aufgrund der aktuellen Krise kräftig durcheinander gerüttelt wurde. „Natürlich schwebt Corona auch über unseren Köpfen. So mussten wir unser Fest auf der hauptstädtischen Place d’Armes am 2. April ganz absagen. Auch die Konferenz mit Dr. Christine Preißmann, einer renommierten deutschen Expertin im Bereich der Psychotherapie und Autismus, am 4. April fiel dem Virus nun zum Opfer“, betont FAL-Sprecherin Jodie Schmit im Gespräch mit dem Tageblatt. „Somit ist es ein gutes Stück schwieriger geworden, die Öffentlichkeit dieses Jahr zu diesem Thema zu sensibilisieren.“
Dabei ist Autismus auch in Luxemburg verbreitet: So geht die FAL von mehr als 6.000 Menschen aus, die im Großherzogtum an dieser Krankheit leiden, die in vielen Fällen eine Art unsichtbare Behinderung darstellt. In ganz Europa sei quasi jede 100. Person von der neurologischen Störung betroffen, die die Funktion des Gehirns ab der frühen Kindheit beeinträchtigen kann. Insgesamt tritt Autismus bei Männern viermal häufiger auf als bei Frauen. Betroffene Kinder und Erwachsene haben häufig Schwierigkeiten in der verbalen und nonverbalen Kommunikation, in der sozialen Interaktion und in der Entwicklung von Spiel und Fantasie.
Es ist schwierig für sie, mit anderen zu kommunizieren und sich angemessen auf die Außenwelt zu konzentrieren. In einigen Fällen kann es zu aggressivem oder selbstverletzendem Verhalten kommen. Betroffene neigen zu repetitiven Körperbewegungen und ungewöhnlichen Reaktionen gegenüber Personen, Gegenständen und Veränderungen im Alltag. Experten sprechen in der Regel von einer „Autismus-Spektrum-Störung“ (ASS), da oft gleich mehrere Verhaltensweisen gleichzeitig auftreten. Tatsächlich können zwei Menschen mit der gleichen Diagnose ein sehr unterschiedliches Benehmen an den Tag legen und ganz verschiedene Fähigkeiten haben. Aus diesem Grund ist es auch nicht möglich, einen „typischen“ Autismus-Patienten zu beschreiben.
Stress statt Stabilität
Während manche Betroffene durchaus in der Lage sind, einem geregelten Alltag nachzugehen, sind andere auf ständige Betreuung angewiesen. Aus diesem Grund betreibt die FAL gleich mehrere Tagesstätten und Wohnheime in Munshausen und Rambruch, die in der aktuellen Situation mit neuen Herausforderungen konfrontiert werden. „Es ist zum Beispiel recht schwierig, verschiedenen Bewohnern die Vorsichtsmaßnahmen zu erklären, oder wieso es so wichtig ist, dass auch sie eine Minute lang ihre Hände waschen sollen, Gegenstände regelmäßig desinfiziert werden und sie alle eine Maske tragen sollen“, erklärt Jodie Schmit. Zudem habe sich in den letzten Wochen auch ihr Alltag verändert, und das in einer Umgebung, in der ansonsten Routine und Stabilität von größter Bedeutung sind.
Tatsächlich dürfen die Bewohner der Wohnheime derzeit keinen Besuch mehr empfangen. Auch wurden sämtliche Ausflüge und Ausgänge abgesagt, die ansonsten aber mit großer Regelmäßigkeit durchgeführt wurden. „All diese Maßnahmen sind natürlich Stressfaktoren für Personen mit einer Autismus-Spektrum-Störung“, so Schmit. „Eine klare Struktur im Alltag ist für unsere Bewohner extrem wichtig. Viele von ihnen tun sich schwer mit Veränderungen. Durch die Krise aber wird ihr ganzer Alltag auf den Kopf gestellt. Allein die Personaländerungen bringen Betroffene durcheinander, die an bestimmte Bezugspersonen gewohnt waren“, sagt die junge Frau.
Angeboten werden auch weiterhin die Dienste der Tagesstätten. Allerdings mit Einschränkungen: „Leider können wir keine Spaziergänge mehr unternehmen. Auch wurden die Restaurantbesuche abgesagt. Kolonien im Ausland wurden annulliert und auch die Ausflüge in Luxemburg wurden umgebucht, respektive werden sie nun intern durchgeführt“, erklärt der Verantwortliche des Tageszentrums, Luc Vliegen.
Auch die Kindergruppe der Tagesstätte soll weiter aufrechterhalten bleiben: „Auch wenn einige Eltern ihre Kindern nun zu Hause betreuen, versuchen wir im Rahmen unserer Möglichkeiten, den Familien weiterhin beizustehen“, so Vliegen. Währenddessen wurden die Angehörigen der „externen“ Besucher kontaktiert, um auch sie auf die Risiken des Virus und die Wirksamkeit der Ausgangsbeschränkungen aufmerksam zu machen. „Ansonsten versuchen wir, die Lebensqualität so gut es geht aufrechtzuerhalten, indem wir unseren Leuten auch weiterhin Ateliers und Beschäftigungen anbieten“, so der Verantwortliche.
Eine Antwort auf alle Fragen
Stolz ist Vliegen auf seine Mitarbeiter: Viele davon hätten sich spontan bereit erklärt, ihren Urlaub abzusagen, damit die Tagesstätten und Wohnheime auch in diesen Zeiten weiter funktionieren können. „Überhaupt sind die Absprachen auch unter den Verantwortlichen noch harmonischer und wirksamer geworden“, freut sich der Leiter der Tagesstätte. So wüssten angesichts der Ausgangssperren viele Mitarbeiter den sozialen Austausch zu schätzen. „Kurzum: Alle rücken ein bisschen näher zusammen“, lacht Vliegen kurz auf. Natürlich im übertragenen Sinne. In den Einrichtungen der Vereinigung werde jeder negative Corona-Test nämlich gefeiert. „Das schweißt zusammen“, betont Vliegen.
Was anfangs belächelt wurde, werde jetzt ernst genommen. Die Mannschaft der FAL gehe äußerst professionell zu Werke, in der Hoffnung, weitestgehend verschont zu bleiben: „Auch wenn Notfallpläne vorgesehen sind, wäre der Ernstfall bei uns umso schwieriger durchzuziehen“, gibt der Leiter der Tagesstätte zu bedenken. „Selbstverständlich sorgen wir uns um die Zukunft unserer Leute“, sagt auch Jodie Schmit. „Was passiert, wenn einer der Bewohner wegen Covid-19 in ein Krankenhaus muss? Sind Ärzte und Pflegepersonal auf ASS-Patienten eingestellt? Und wie sollen wir in dem Fall im Wohnheim selbst vorgehen? Etwa jeden Bewohner unter Quarantäne stellen?“ Die FAL sei dabei, eine Antwort auf all diese Fragen zu finden.
„Bis jetzt aber scheint alles gut zu verlaufen“, erklärt Schmit. Die Betreuer tun ihr Bestes, den Bewohnern und externen Besuchern die Situation so einfach und verständlich wie nur möglich zu erklären. Zu diesem Zweck wurden einfache Leitfaden ausgearbeitet, die den Betroffenen die Vorsichtsmaßnahmen mithilfe einfacher Bilder näherbringen. „Sicher ist, dass wir gerade jetzt Präsenz zeigen müssen, um die Betroffenen und ihre Angehörigen in diesen schwierigen Zeiten zu unterstützen.
Leider sei es aktuell gerade etwas schwierig, die Öffentlichkeit um Unterstützung zu bitten. „Das ist auch zu verstehen. Die Krise hat den Alltag vieler Menschen auf den Kopf gestellt. Dennoch sind wir gerade in diesen Zeiten auf Hilfe angewiesen. Die Bedürfnisse unserer ASS-Patienten sind mit Corona ja auch nicht einfach von heute auf morgen verschwunden“, erklärt Jodie Schmit. Aus familiären oder krankheitsbedingten Gründen sei auch Personal ausgefallen, das jetzt durch Freiwillige ersetzt werde. „Wir freuen uns aber über jede Hilfe!“, betont die junge Frau. So hätten sich ganz viele Menschen etwa bereit erklärt, Schutzmasken für die Bewohner der FAL-Stätten zu nähen. „Jede Unterstützung ist willkommen!“
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