Alain spannt den Bogen / „Beethoven wird in 250 Jahren genauso populär sein wie heute“
Bisher blieb der große Beethoven-Rush im Bereich der CD aus. Viele kleinere Labels versuchen, interessante und außergewöhnliche Programme zusammenzustellen, anstatt immer wieder die gleichen Renner aufzunehmen. So auch diese CD „Beethoven unknown“ mit dem Pianisten Matthias Kirschnereit.
Die negativen Punkte dieser CD sind schnell aufgezählt. Berlin Classics verpasst es, Aufnahmedatum, Gesamtdauer und die Spielzeit der einzelnen Werke im Booklet dieser ansonsten wertvollen Beethoven-CD anzugeben. Diese Nachlässigkeit wird dann durch die kurze, übersichtliche Beschreibung der einzelnen Stücke wieder etwas wettgemacht. Vor allem ist es aber Matthias Kirschnereits Spiel, das die CD zu einem Ereignis werden lässt. Und natürlich die quasi tagebuchartig zusammengestellte Auswahl von 20 Miniaturen, die einen sehr persönlichen, humorvollen, alltäglichen Beethoven zeigen. Aber auch einen sehr intimen, wie wir ihn in dem wunderbaren Präludium in F-Moll entdecken.
Kirschnereit hat hier Werke aus den verschiedensten Gattungen zusammengestellt, zu denen Beethoven in seinem Gesamtschaffen immer wieder zurückgekehrt ist: Tanz, Variation, Sonate, Bagatelle, Klavierstück, Variation, Rondo. Matthias Kirschnereit versteht es, jedes dieser kleinen, kaum gespielten Werke mit dem Hauch des Besonderen zu spielen. Man spürt in jedem Moment, wie sehr sich der Interpret dieser Musik verbunden fühlt. Da stört es auch nicht, dass wir hier einen leichteren Beethoven erleben, weniger streng, martialisch oder innovativ, dafür aber charmant, schlicht und ehrlich.
Kirschnereits Interpretationen leben vom stetigen Wechsel der Stimmungen und Farbgebungen. Er erweist sich darüber hinaus als ein Meister der kleinen Form und der Gestaltung, sein Spiel ist kondensiert und auf das Wesentlichste konzentriert, dabei aber ungemein farbig, klar und lebendig. Technisch erlebt man allerfeinstes Klavierspiel, prägnant und doch unaufdringlich. Dank der exzellenten Tontechnik spürt man Atem und Dynamik, sodass sich Beethovens Musik auch räumlich sehr gut entwickeln kann, ohne dabei an Transparenz und analytischer Klarheit einzubüßen. Eine wichtige Beethoven-CD und vor allem eine Aufnahme, die einen der besten und interessantesten Pianisten der Gegenwart auf dem Höhepunkt seines Könnens zeigt. Wir haben uns kurz vor dem Erscheinen der CD mit dem Pianisten unterhalten.
Tageblatt: Herr Kirschnereit, Ihre letzte CD heißt „Beethoven unknown“ und stellt kaum gespielte, unbekannte Werke des Meisters vor. Gibt es denn wirklich noch unbekannte Stücke von Beethoven?
Matthias Kirschnereit: Also, der Titel ist schon etwas provokant und muss auch relativ betrachtet werden. Alle Werke Beethovens sind verlegt, es gibt keine verstaubte Partitur mehr auf irgendeinem Speicher oder in irgendeinem Archiv. Aber es gibt einige Werke, die sehr selten oder überhaupt nicht gespielt resp. aufgenommen werden, es sei denn im Rahmen einer wirklich kompletten Integralen, wie sie bei Naxos erschienen ist. Die Werke, die ich hier eingespielt habe, waren mir und dürften auch den meisten meiner Kollegen unbekannt sein.
Wie sind Sie denn bei der Auswahl vorgegangen?
Wie ich schon gesagt habe, die Werke sind alle verlegt, und zwar beim Henle-Verlag und der Wiener Urtext-Edition. Ich habe mir überlegt, wie ich vorgehen sollte, denn das, was ich beim Recherchieren entdeckt habe, war hochinteressant. Gerade in diesen unbekannten Werken entdeckt man Beethoven nicht nur als Komponisten, sondern vor allem als Menschen. Er zeigt sich hier sehr persönlich, unterhaltsam, ja alltäglich, aber auch sehr ergreifend, wie im Präludium f-Moll, das zu Beginn des Verlustes seines Gehörs entstand und sehr von Bach inspiriert ist. Wenn man diese Stücke hört, lernt man neue Aspekte und vor allem eine Leichtigkeit kennen, die man Beethoven sonst nicht zugetraut hätte. Ich habe mich dann entschlossen, größtenteils chronologisch vorzugehen und somit ein musikalisches Tagebuch zu erstellen, das zudem alle Gattungen berücksichtigen sollte, die Beethoven in seinem pianistischen Schaffen verwendet hat, also Sonate, Tanz, Variation, usw. Alle Werke, die ich aufgenommen habe, umspannen die Lebensperiode zwischen 1782, beginnend mit dem Rondo in C-Dur, und 1825, abschließend mit dem Klavierstück in g-Moll. Als Hörer kann man so auch die kompositorische Entwicklung Beethovens mitverfolgen.
Ist es für einen Interpreten schwierig, gerade in solchen Miniaturen – die Stücke sind ja meist von einer sehr kurzen Dauer – eine Interpretation anzubieten, die einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt?
Beethoven war ein Meister der großen Form. Aber nicht nur. In seinem Zyklus von Bagatellen beispielsweise, beweist er seine Fähigkeit, in wenigen Momenten eine ganze Welt zu erschaffen. Die große Form verlangt einen Bogen und vor allem eine gewisse Spannung, die gehalten werden muss. Die kleine Form dagegen ist bei Beethoven sehr spontan, überraschend, frei und weniger streng. Es ist durchaus eine lustvolle Musik.
Wie geht der Pianist Matthias Kirschnereit bei solch unbekannten Werken vor? Worauf achten Sie besonders? Auf Technik? Auf Psychologie? Auf Klang?
Für mich gehören diese Aspekte, und noch andere wie Texttreue oder Dynamik, immer zusammen und sind nicht zu trennen. Die Kunst der Interpretation, und das macht die Sache so spannend, besteht darin, all diese verschiedenen Aspekte in Einklang und in eine natürliche Balance zu bringen. Ich stelle mir die Frage: Was sagt mir das Werk? Wie komme ich möglichst nahe an seine Wahrhaftigkeit? Ich bin ein Pianist, der eigentlich sehr klangsinnlich spielt und auch immer den Ausdruck sucht, ohne aber den Notentext zu vergessen. Ich selber stelle eine saubere Technik, leuchtende Farben und einen obertonreichen Klang in den Mittelpunkt und erarbeite mir das Werk dann von dieser Basis aus.
Bis wohin geht denn die Freiheit beim Interpretieren eines Notentextes?
Im Laufe der Jahre habe ich einen inneren Kompass bekommen, auf den ich höre. Er sagt mir, ob ich zu viel oder zu wenig mache. Wenn mein Ausdruckswille sich mit den Absichten des Komponisten deckt, bin ich eigentlich zufrieden. Man muss sich eine gewisse Spontaneität erhalten, ohne aber willkürlich zu werden. Diese Freiheit, die ich mir zugestehe, erlaubt es mir dann, immer Neues zu entdecken. Obwohl Beethoven immer alles ganz genau notiert hat, erlaubt seine Musik dem Interpreten, sich frei zu bewegen. Das macht u.a. auch das Genie Beethovens aus. Beethoven selbst war ein großer Improvisator, wie auch Bach und Mozart. Aber das ist kein Freifahrtschein für Willkür und ichbezogenes Virtuosentum.
Was können Sie über die allgemeine Beethoven-Rezeption der letzten Jahrzehnte sagen?
Also. Beethoven ist ein Komponist, der persönlichkeitsstarke Interpreten braucht, um den Geist seiner Musik wiederzugeben. Und die hat es eigentlich immer gegeben. Musik existiert nur im Moment, sie ist somit an die Zeit gebunden, und alles verändert sich im Laufe der Zeit. Bei Beethoven bleiben einige wichtige Aspekte immer im Fokus: Stärke, Klarheit, Vitalität und Strenge. In dem Sinne gibt es dann eigentlich nicht so viele Möglichkeiten. Eine große und wichtige Veränderung kam mit der historisch informierten Aufführungspraxis, wo die Sorgfalt der klanglichen Umsetzung nun die Karajan-Ära mit ihrer ganz anders gerichteten Klangentfaltung im Sinne eines klangsinnlichen Erlebens ablöste. Aber eigentlich ist die stilistische Ausrichtung sekundär, sie ist immer von ihrer Zeit abhängig.
Schnabel, Brendel, Richter, Gulda, Schiff, Pollini – sie alle waren oder sind persönlichkeitsstarke, individuelle und großartige Beethoven-Interpreten, allerdings ist jeder von ihnen ein Kind seiner Zeit. Oder Arrau, dessen Spiel ein Musterbeispiel für Balance und Geist, Emotion und Struktur war. Die Musik und ihre Interpreten sind in ständiger Bewegung, und das ist auch gut so. Ich bin davon überzeugt, dass Beethoven in 250 Jahren genauso populär sein wird wie heute. Und gerade heute, in unserer Zeit der Verrohung der Gesellschaft, ist Beethoven ein kraftspendender Fels in der Brandung.
In Ostfriesland leiten Sie das Festival Gezeitenkonzerte, das in verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Locations spielt …
Ja, im Herbst 2011 ist man an mich herangetreten, ob ich interessiert wäre, ein Kammermusikfestival in Ostfriesland mitzugründen und zu leiten. Es sollte ein Festival sein, das ganz eng mit der Landschaft und den Menschen in dieser Gegend verbunden sein sollte. Mir schwebte sofort Lars Vogts Festival Spannungen in der Eifel vor. Es gab zwei andere Bewerber, doch schließlich fiel die Wahl auf mich. Die Chemie zwischen den Organisatoren mit dem Namen Ostfriesische Landschaft und einigen kleineren lokalen Förderern stimmte. Allerdings gab es schon ein Festival in Ostfriesland, was anfangs dann zu Spannungen führte. Momentan funktionieren beide Festivals aber harmonisch nebeneinander.
Mir ist es wichtig, dass auch von den Interpreten wichtige Impulse ausgehen. Es soll ein Festival unter Freunden sein, bei dem sich hochrangige Musiker neben Solokonzerten auch zum gemeinsamen Musizieren zusammenfinden. Christian Tetzlaff, Daniel Hope, Sabine Meyer, Grigori Sokolov, Elisabeth Leonskaja, Leif Ove Andsnes, sie alle spielten schon bei uns und lieben die einmalige, ja magische Atmosphäre der verschiedenen Locations, vor allem der wunderschönen Kirchen. Alleine nach Ostfriesland zu kommen, ist wie eine Pilgerfahrt. Künstler wie Publikum entschleunigen und genießen Kultur und Landschaft. Wir sind zwar ein kleines Festival, aber die Zahl des Publikums wächst stetig, wir begannen 2012 mit 4.500 Zuhörern, 2019 waren es 13.000. Wichtig für uns ist es auch, den musikalischen Nachwuchs zu fördern und beispielsweise mit unseren Künstlern in Schulen zu gehen. Und es gibt nicht nur Klassik. Wir spielen auch Jazz, Tango und Klezmer. Ich denke, gerade dieses vielseitige Angebot hilft es, Vorurteile und Grenzen abzubauen.
- Luxemburg-Stadt erwirbt Wohnungen für mehr als 66 Millionen Euro - 28. März 2024.
- BMS meldet in fünf Jahren zwölf Vorfälle der Polizei - 28. März 2024.
- Attal va limiter l’indemnisation du chômage - 28. März 2024.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können.
Melden sie sich an
Registrieren Sie sich kostenlos