KolumneDie versuchte Rettung von Tokio 2020

Kolumne / Die versuchte Rettung von Tokio 2020
Jugend-Olympia Ende der 1930er-Jahre in Tokio. Diese Wettkämpfe sollten als Test dienen für die richtigen Olympischen Spiele von 1940, die nie stattfanden. Foto: Archiv P.L.

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Thomas Bachs Kehrtwendung hat etwas Gutes an sich. Die Sportler, Funktionäre, Trainer, Betreuer und Journalisten, die zu den Olympischen Spielen nach Tokio fahren sollten oder wollten, können sich vorrangig um etwas Wichtigeres kümmern, nämlich um ihre Gesundheit.

Während der Herr der fünf Ringe noch am 17. März in einem Kommuniqué alle Athleten anspornte, „sich so gut wie möglich auf die Spiele vorzubereiten“, schloss er fünf Tage später eine Verlegung von Tokio 2020 nicht mehr aus. Man wolle sich vier Wochen Zeit nehmen, um die Situation analysieren und dann eine Entscheidung treffen, so der Präsident des IOC.

Dem Druck nicht gewachsen

Keine 24 Stunden danach traten Bach und der japanische Premierminister Abe Shinzo erneut vor die Mikrofone, strahlend, als ob sie eben einen wirksamen Impfstoff gegen Covid-19 entwickelt hätten, und verkündeten die Verlegung der Spiele um ein Jahr. Als späteste mögliche Datum nannten sie den Sommer 2021, der nächstes Jahr am 21. Juni beginnt und am 22. September endet.

Die plötzliche Richtungsänderung der Veranstalter von Tokio 2020 und des IOC entstand durch den Druck vieler Sportler, Medien und auch verschiedener NOKs. So waren Kanada, Australien, Norwegen und Großbritannien bereit, keine Athleten nach Tokio zu entsenden. Andere Länder hätten nachgezogen, sodass die Spiele Ende Juli/Anfang August im allerbesten Fall in abgespeckter Form möglich gewesen wären.

Mit der Verlegung ins Jahr 2021 verschafften Bach und Shinzo sich etwas Luft. Das Logo „Tokio 2020“ wird beibehalten, nicht nur der Partner wegen, sondern auch, um Kosten zu sparen. Das ganze Umdisponieren verschlingt eine schöne Stange Geld. Alle Kontrakte sind Makulatur, zudem muss eine Lösung mit den Verantwortlichen der Sportstätten und Hotels sowie den zukünftigen Besitzern der Wohnungen des olympischen Dorfes gefunden werden usw., usf.

2022 wäre besser gewesen

Weil Gesundheit nun einmal nicht mit Moneten erkauft werden kann, ist die Verschiebung der Spiele die einzig richtige Entscheidung. Ob ein Jahr Rückverlegung allerdings reicht, steht auf einem anderen Blatt. Wer gibt dem Organisationskomitee und dem IOC eigentlich die Garantie, dass Covid-19 nicht auch 2021 noch wütet?

Ohne Hellseher, Virenforscher oder Facharzt zu sein, muss man bezweifeln, dass die Pandemie innerhalb der nächsten 12 Monate gebändigt werden kann. Die prätentiöse Verkündung, Olympia im Sommer 2021 in alter Frische zu veranstalten und die Spiele gleichzeitig als Sieg der Menschheit über einen unsichtbaren Feind zu feiern, ist vorerst also etwas für Träumer, Gemütsberuhiger und Stimmungsaufheller.  

Obwohl Wissenschaftler auf Hochtouren nach einem Impfstoff forschen, ist es fraglich, ob das Wundermittel beizeiten entdeckt wird, um jeden zu immunisieren, der 2021 etwas von nah und fern mit den Spielen in Japan am Hut hat. Da der internationale Sportkalender der nächsten Jahre sowieso geändert werden muss, wäre es viel realistischer gewesen, Tokio 2020 ins Jahr 2022 zu verlegen. In dem Fall hätten wie früher zwei Olympische Spiele in einem Jahr stattgefunden, im Februar die Winterspiele in Peking, im Sommer diejenigen von Tokio, dazu im November/Dezember die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar. Demnach drei Großereignisse im Jahr 2022 und etwas mehr Zeit für das Virus, aus den Körpern und von der Bildfläche zu verschwinden.

Gesicht nicht verlieren

Bei der Verlegung von Tokio 2020 ging es den Japanern und dem IOC vor allem darum, das Gesicht nicht zu verlieren. Bach, der ohnehin kein Kommunikationsgenie ist, nahm dabei die Kurven wie in den 1930er-Jahren sein deutscher Landsmann Rudolf Caracciola in seinem Mercedes-Benz auf dem Berliner Avus-Ring. Frei nach Bundeskanzler Konrad Adenauers Ausspruch „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern!“ zählte auf einmal nur noch die Gesundheit der Sportler. Die einmütige Entscheidung, so der IOC-Vorsitzende Mitte der Woche in einer Telefon-Pressekonferenz, sei gefallen, nachdem die Weltgesundheitsorganisation am Montag (also am Tag vor der Verschiebung) eine „dynamische, dramatische Entwicklung des Virus“ vorhergesagt habe. Das muss man erst einmal verarbeiten. Kam die schnelle Ausbreitung vielleicht überraschend? Oder haben die Medien weltweit seit Januar nicht ausreichend über Corona berichtet?

Für das Selbstwertgefühl der Japaner ist die Verschiebung von Tokio 2020 ein harter Schlag. Neun Jahre nach der dreifachen Katastrophe von Fukushima (Erdbeben, Tsunami und Atom-Gau am 11.März 2011) wollte die stolze Nation den Besuchern aus aller Welt olympische Spiele des Wiederaufbaus vorstellen, nun muss man vorrangig mit der Coronavirus-Pandemie klar kommen.

Die große Schmach

Auch wenn es 1964 die Olympischen Spiele schon einmal mit Erfolg organisierte, scheint Japan nicht auf bestem Fuß mit dem größten Sportfest der Welt zu stehen. Zweimal (1960, 2016) wurde die Kandidatur Tokios von den wichtigen Herren im IOC für nicht gut befunden. Im Jahr 1940 sollte das Land der aufgehenden Sonne sowohl die Winterspiele (Sapporo) als auch die Sommerspiele (Tokio) organisieren. Zuvor war in der japanischen Hauptstadt eine sogenannte Jugend-Olympiade für Sportler und Sportlerinnen bis 18 Jahre angesagt. Insgesamt 31 Länder beteiligten sich an den Wettkämpfen, der Einzug ins Meiji-Stadion erfolgte sogar nach den Vorschriften des olympischen Protokolls.

Danach marschierte Japans Armee in China ein. Das Geld wurde knapp und anderweitig gebraucht, so dass die Regierung dem Organisationskomitee die finanzielle Unterstützung verweigerte. Tokio musste die Spiele im Jahr 1938 an das IOC zurückgeben, was noch heute von vielen Japanern als grosse Schmach angesehen wird. Auch mit der Ersatzstadt Helsinki als Austragungsort von Olympia 1940 war es schnell Essig. Der Angriff Russlands auf Finnland im Winter 1939 ließ den olympischen Traum platzen. Erst in London 1948 loderte das Feuer wieder auf.  

Krieg und Frieden

„Nous sommes en guerre“ („Wir sind im Krieg“) meinte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mit Bezug auf den Kampf gegen das Coronavirus, diesen unsichtbaren Gegner, der unser tägliches Leben derart veränderte, dass der Sport weit in den Hintergrund rückte. In Zeiten des Krieges, so will es die Überlieferung, haben die alten Griechen die Austragung der Olympischen Spiele der Antike durch ein Abkommen geregelt, das allen Teilnehmern eine sichere An- und Abreise gewährleistete. An den Wettkampfstätten war es ohnehin verboten, Waffen bei sich zu tragen.

Mit dem neuen, verborgenen Feind ist eine solche Abmachung leider nicht möglich. Darum waren das IOC und die Veranstalter von Tokio 2020 gezwungen, zu anderen Mitteln zu greifen. Seit Baron Pierre de Coubertin die Spiele Ende des 19. Jahrhunderts wiederbelebte, wurden sie nur durch die beiden Weltkriege unterbrochen. Verlegt wurden sie noch nie, bis eben jetzt. Gerettet sind sie durch die Verschiebung auf 2021 aber noch lange nicht.