Migration„Die Menschen wollen in ihren Ländern bleiben“: Expertin Olivia Akumu über Europas Mitschuld und die Hoffnung Afrikas 

Migration / „Die Menschen wollen in ihren Ländern bleiben“: Expertin Olivia Akumu über Europas Mitschuld und die Hoffnung Afrikas 
Ein Mädchen in einem Camp im Krisenstaat Südsudan: Die allermeisten Flüchtlinge aus Ostafrika bleiben in der Region Foto: AFP/Tony Karumba

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Seit fünf Jahren ist das Thema Flucht zentral in Europa. Nach den Abkommen der EU mit der Türkei und mit Libyen sowie dem Ende der Seenotrettung sind die Zahlen der Flüchtenden übers Mittelmeer zurückgegangen. Dabei sind die Gründe für Flucht sehr unterschiedlich und oft kompliziert. 70 Prozent der Menschen haben mehr als einen Grund, zu flüchten. Die Risiken, die sie auf ihrem Weg auf sich nehmen, sind hoch und nehmen zu, je weiter der Weg ist, sagt Olivia Akumu vom Mixed Migration Centre aus Nairobi. Akumu forscht zu aktuellen Migrations- und Fluchtbewegungen in Ostafrika und dem Zusammenhang zwischen Klimawandel und Migration.

Tageblatt: Europa setzt Länder wie den Sudan unter Druck, um die Menschen auf ihrer Reise Richtung Norden aufzuhalten. Was bedeutet dieser Geldsegen für die Sudanesen?

Olivia Akumu: Wer aus Ostafrika nach Nordafrika oder weiter nach Europa will, muss durch den Sudan. Das Land spielt eine Schlüsselrolle in der Migrationsroute Richtung Norden. Aus der EU floss viel Geld hierhin, vor allem in Sicherheitsmaßnahmen, den Grenzschutz, die Migrationskontrolle. Aber auch Milizen wie die Dschandschawid, die im Darfur-Konflikt eine große Rolle spielten, haben kassiert. Alles dreht sich darum, die Menschen auf dem Weg nach Norden aufzuhalten – den Menschen im Sudan hilft dieses Geld nicht.

Was bedeutet das für die Flüchtenden?

Die Reise wird noch riskanter, die Menschen noch verletzlicher. Das sind Menschen, die für sich und ihre Familien ein besseres Leben suchen. Migranten aus Ostafrika, etwa aus Eritrea, fliehen oft zuerst nach Äthiopien, bekommen dort aber häufig keine Arbeit, keine Chancen auf Bildung. Also ziehen sie weiter in den Sudan. Dort sind sie auf Menschenschmuggler angewiesen, um durch die Wüste zu kommen. Während dieser Reise sind sie Gewalt und sexuellen Misshandlungen ausgesetzt, Folter, Hunger und Durst. Wer es trotz alledem durch den Sudan schafft, landet meistens in Libyen in einem dieser entsetzlichen Lager. Früher war Libyen ein Zielland, heute ist es ein Transitland, von dort wieder heimzufahren ist keine Option mehr. Also versuchen viele, das Mittelmeer Richtung Europa zu überqueren – eine weitere Flucht, diesmal aus Libyen heraus.

„Politische Entscheidungen haben Menschen auf der Flucht noch verletzlicher gemacht“: Über das Mittelmeer gelangen immer weniger Menschen nach Europa, ihre Reise wird trotzdem gefährlicher
„Politische Entscheidungen haben Menschen auf der Flucht noch verletzlicher gemacht“: Über das Mittelmeer gelangen immer weniger Menschen nach Europa, ihre Reise wird trotzdem gefährlicher Foto: AFP/Pablo Garcia

Wer will überhaupt nach Europa?

Die Vorstellung, dass halb Ostafrika nach Europa kommen will, ist völlig falsch: Alle Daten und Fakten sprechen dagegen. Die größte Fluchtbewegung in der Region geht Richtung Osten, also nach Saudi-Arabien und in die anderen Golfstaaten. Viele zieht es auch nach Südafrika. Die Anzahl jener, die nach Europa wollen, ist drastisch zurückgegangen und macht nur einen Bruchteil aller Fluchtbewegungen aus, die in der Region ihren Ursprung haben. Auch wegen der Lage im Sudan, in Libyen und des Endes der Seenotrettung.

Dass weniger Menschen Richtung Norden flüchten, heften sich einige Politiker in Europa als Verdienst ans Revers und sagen: Seht her, das Mittelmeer lässt sich doch schließen. Was würden Sie dem entgegnen?

Genau solche politischen Entscheidungen haben Menschen auf der Flucht noch verletzlicher gemacht. Europa muss daran etwas ändern, moralisch gesehen machen wir da keinen guten Job. Die Europäer müssen sich klar werden, wo sie die roten Linien ziehen, wenn sie Regime oder Milizen als Partner einbinden – Partner wie die libysche Küstenwache, die diese entsetzlichen Lager unterhält, oder die sudanesische Regierung, die sich für kaum eine Menschenrechtsverletzung zu schade ist. Wer solche Regierungen oder Milzen als Partner hat und ihnen eine Sicherheitspolitik gegen Geld aufdrängt, fördert Menschenrechtsverletzungen.

Was könnte denn besser gemacht werden?

Ich weiß, das ist eine schwierige Diskussion, aber wir brauchen legale Migrationswege. Könnten Menschen ein Visum bekommen, würden sie diese gefährliche Reise, vor der ja alle Angst haben, nicht antreten. Sie könnten dann für ein oder zwei Jahre in Europa bleiben, dort arbeiten und Geld zurückschicken. Danach müssten sie zurück und könnten sich überlegen, ob sie das noch einmal versuchen wollen oder nicht.

Die Sorge in Europa besteht darin, dass die Zahlen explodieren würden. Teilen Sie diese Bedenken nicht?

Was wir regulieren, können wir auch kontrollieren. Würden die Menschen in die Wirtschaft des Ziellandes integriert, wüssten wir, wo sie sind, und sie ließen sich besteuern, was ja nicht unwichtig ist für Staaten. Migration gab es, gibt es und wird es weiterhin geben. Je restriktiver wir sind, desto mehr Macht geben wir der dunklen Seite: dem Schmuggel, der Schlepperei, der Ausbeutung.

Gäbe es legale Migrationswege, müsste dann jeder, der illegal nach Europa kommt, zurückgeschickt werden?

Ganz klar, ja. Aber die Anzahl an Visa muss substanziell sein, mit 200 pro Jahr wäre es nicht getan. Wir müssen realistisch bleiben: Menschen kommen zum Arbeiten, weil es Arbeit gibt. Europas Bevölkerung altert, in Afrika ist sie sehr jung, eigentlich eignet sich das gut. Wir sollten alle Faktoren im Blick behalten. Und eines bleibt sowieso festzuhalten: Die Menschen wollen in ihren Ländern bleiben – es sei denn, irgendetwas macht das Leben unmöglich.

In Ostafrika denkt niemand beim Thema Klima daran, deshalb nach Europa zu fliehen

Olivia Akumu

Welche Rolle spielen falsche Erwartungen vom Leben in Europa für die Entscheidung der Menschen, sich auf den Weg zu machen?

Vor der Flucht stammen die meisten Informationen von Freunden und Familie, auch solchen, die es bereits ins Zielland geschafft haben. Unterwegs werden die Schmuggler zur Informationsquelle. Diese erzählen den Menschen natürlich, dass im Zielland alles ganz großartig ist. So haben viele, die im Jemen landen, überhaupt keine Ahnung, dass dort ein massiver Konflikt herrscht und die humanitäre Situation horrend ist. Einmal in Europa angekommen, stehen vor allem junge Männer unter großem Druck. Sie haben die „Pflicht“, Geld nach Hause zu schicken. Die Menschen haben sehr viel Geld für die Reise ausgegeben, oft hat die ganze Familie mitgezahlt. Die Gemeinschaften setzen all ihre Hoffnungen auf den, der sich auf den Weg macht. Die Erwartungen sind groß – und das kann dazu führen, dass die Geflohenen ein falsches Bild von ihrem Leben in Europa zeichnen.

Wie viel kostet die Reise von Eritrea nach Luxemburg?

Das kommt auf die Route an, auf das Schmugglernetzwerk und auf die Hürden unterwegs. Man kann aber von mindestens 10.000 Euro ausgehen. Viele Menschen werden im Jemen, im Sudan oder in Libyen gefangen genommen, ihre Familien müssen Lösegeld zahlen.

Sehr arme Menschen könnten sich eine Flucht nicht leisten. Jetzt ist aber die Rede davon, dass sich mit dem Klimawandel viel mehr Menschen auf den Weg machen werden. Wie passt das zusammen?

In Ostafrika denkt niemand beim Thema Klima daran, deshalb nach Europa zu fliehen. Für die Fluchtbewegungen innerhalb der Regionen in Ostafrika spielt es dennoch eine große Rolle. Bei der großen Dürre in Somalia 2011/2012 sind Hunderttausende in die Nachbarländer Kenia und Äthiopien geflohen. Sobald die Lage sich besserte, kehrten sie nach Hause zurück. In den kommenden Jahrzehnten wird das Klima Konflikte über Ressourcen anheizen. Wenn die Menschen zu Hause nicht mehr für ihr Überleben sorgen können, sehen sie sich zuerst in der Region um. Mit massiven Bewegungen nach Europa ist nicht zu rechnen, eher mit Binnenmigration und Flucht in Nachbarländer. In der Region gibt es 4,5 Millionen Flüchtlinge, 81 Prozent davon sind Frauen und Kinder, die ärmsten und verletzlichsten retten sich eben nur knapp über die Grenze.

Was ist mit der sogenannten Hilfe vor Ort, die viele in Europa der Migration vorziehen? Wie sollte diese aussehen?

Wichtig wäre, wenn die internationale Politik Einfluss auf Regierungen in Afrika nimmt, damit diese ihre Türen für Flüchtlinge öffnen und ihnen mehr Rechte einräumen, darunter Reisefreiheit, die Erlaubnis zu arbeiten, Bildungschancen und der Zugang zu öffentlichen Diensten. Diese vier Freiheiten sind der Schlüssel – sie beeinflussen die Entscheidung maßgeblich, ob wir bleiben oder nicht.

Wird Geld überwiesen, fließt das oft an repressive Regime. Ergibt das überhaupt Sinn?

In einer idealen Welt stecken Regierungen solche Hilfsgelder immer dorthin, wo sie am dringendsten benötigt werden. Aber wir sind nicht in einer idealen Welt und deswegen bleibt diese Hilfe eine Herausforderung. Die Hilfe für den Sudan wurde ja auch stark kritisiert. Die Grausamkeiten dieses Regimes sind über Jahrzehnte hinweg genauestens dokumentiert. Eritrea ist völlig abgeschottet, ein Staat, der wirkt, als läge er gar nicht auf diesem Planeten. Es hilft trotzdem nichts, idealistische Perfektion in Regierungshandeln zu suchen – wir werden sie nicht finden. Wichtig für Geber wie die Staaten der Europäischen Union wäre eine eindeutige Linie, was geht und was nicht. Sie müssen sich entscheiden, wo sie die rote Linie ziehen. Daher kommt die Kritik am Geld, das in den Sudan oder nach Libyen floss – viele Menschen sehen dort solche roten Linien längst überschritten, finden, dass der Zweck die Mittel nicht mehr heiligt. Aber solche Absicherungen brauchen wir. Einfach irgendwo Geld hinschmeißen hilft nicht.

Welche Trends haben Sie die vergangenen Jahre beobachtet? Was müssen wir erwarten?

Die Zahlen gehen hoch, auch während der vergangenen fünf Jahre sind sie gestiegen – und sie werden hoch bleiben, wenn nicht sogar noch höher werden. Die bedeutendste Bewegung, die wir beobachten, ist die östliche Route über Jemen nach Saudi-Arabien oder in andere Golfstaaten. Hier gehen die Zahlen kontinuierlich hoch. Zur Route in den Süden gibt es nicht viele Zahlen, die scheinen aber gleich zu bleiben. Was sich auf dem Weg nach Norden verändert hat, ist die Immobilität unterwegs. Menschen werden gegen ihren Willen festgehalten, im Sudan, in Libyen, mit allem Entsetzlichen, was daran hängt. Hinzu kommen die Bevölkerungsentwicklung und die Wirtschaft, die zwar wächst und Arbeitsplätze schafft, aber eben nicht genug, um all jene unterzubringen, die jährlich auf die Arbeitsmärkte strömen. Und da eins plus eins zwei macht, wissen wir: Es wird weiter viel Bewegung in der Region geben.

Sie selber wurden in Kenia geboren, wuchsen dann in Großbritannien auf, leben aber jetzt wieder in Nairobi. Was führte zu dieser Entscheidung?

Meine Lebensqualität hier ist besser als in Großbritannien. Es ist aufregend hier, bunt, wir haben eine schöne Gesellschaft. Die Umstände verlangen der Jugend viel Innovation ab. Was Kenia angeht, gibt es einen großen Fintech-Hub, da passiert viel, auch weil junge Menschen kleine Unternehmen gründen, sich quasi selber anstellen müssen, da es sonst wenig gibt. Weil wir uns noch „entwickeln“, gibt es so viel Potenzial. In dem Wort „Entwicklung“ schwingt immer so ein Leiden mit, als wäre man noch nicht dort angekommen, wo andere schon sind, als wäre der Standard noch nicht erreicht. Aber gerade weil wir uns „entwickeln“ und so viele junge Menschen dahinterstecken, bietet das Räume für Innovation und neue Wege, die Dinge zusehen. Die Herausforderung in Afrika bleiben all die Präsidenten und Regierungen, die seit Ewigkeiten herrschen. Aber warten wir mal die kommenden zehn, 15 Jahre ab. Es wird Veränderungen geben, die Afrikaner werden sich für sich selber einsetzen, sie wollen afrikanische Lösungen und nicht mehr auf Hilfe von außen angewiesen sein. Was Afrika angeht, bin ich sehr optimistisch. Es gibt so viele junge, engagierte Menschen, die eine andere Welt gestalten wollen.

Olivia Akumu, 1989 in Nairobi, Kenia geboren, ist Analytikerin beim Forschungszentrum Mixed Migration Centre for East Africa in Nairobi. Zuvor war sie als Entwicklungsforscherin und Projektmanagerin bei zahlreichen humanitären Krisen und Vertreibungen am Horn von Afrika im Einsatz. Olivia Akumu hat einen Master of Laws der University of Essex in Internationalen Menschenrechten und humanitärem Recht und einen Bachelor of Laws der University of Manchester. Sie lebt in Nairobi.
Olivia Akumu, 1989 in Nairobi, Kenia geboren, ist Analytikerin beim Forschungszentrum Mixed Migration Centre for East Africa in Nairobi. Zuvor war sie als Entwicklungsforscherin und Projektmanagerin bei zahlreichen humanitären Krisen und Vertreibungen am Horn von Afrika im Einsatz. Olivia Akumu hat einen Master of Laws der University of Essex in Internationalen Menschenrechten und humanitärem Recht und einen Bachelor of Laws der University of Manchester. Sie lebt in Nairobi. Foto: Mixed Migration Centre for East Africa