Ende der Tabuisierung„Nichts ist mehr so wie es war“: Frau verlor zwei Brüder durch Suizid

Ende der Tabuisierung / „Nichts ist mehr so wie es war“: Frau verlor zwei Brüder durch Suizid
Etwas schüchtern lächelt Francine in die Kamera, während Carlo die Augen groß aufreißt. Das Foto stammt aus glücklicheren Zeiten. Foto: Editpress/Eric Hamus

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Ein Suizid versetzt Familie und Freunde in einen Schockzustand. Was bleibt, sind oft Trauer und Fragen über Fragen. „Jeder muss für sich selbst entscheiden, wie er mit der Trauer umgeht“, sagt Francine Remesch. Sie hat beide Brüder durch Selbstmord verloren.

„Wollen Sie etwas Wasser?“, fragt Francine Remesch und deutet auf ihr helles Esszimmer, während die letzten Sonnenstrahlen des Tages den Raum in ein angenehmes Licht tauchen. Auf dem Tisch liegen fast ein halbes Dutzend Bücher, die meisten davon Ratgeber. In einem Kasten auf dem Fensterbrett döst eine Katze friedlich vor sich hin, während eine Duftkerze vom Schweberegal eine angenehme Note Lavendel im Raum verbreitet. Der Blick aber fällt auf ein Schwarz-Weiß-Foto hinter der Kerze, das zwei Kinder in einer engen Umarmung zeigt.

Das Bild zeigt Francine mit ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder Carlo. In Zeiten, in denen das Unfassbare noch nicht wie ein Schatten über der Familie lag. „Carlo, wie konntest du nur, musste ich oft beim Anblick an dieses Foto denken“, sagt Francine mit einem sanften Lächeln. „Bis das mit Jengy passiert ist“, fügt sie dann hinzu – sie meint ihren jüngsten Bruder Jean-Marie.

Entscheidet sich ein geliebter Mensch, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, tut sich für die Hinterbliebenen ein Abgrund auf. Francine hat das Martyrium schon zwei Mal hinter sich: Beide Brüder haben sich – im Abstand von 20 Jahren – dazu entschlossen, ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Dennoch wirkt die alleinstehende Mutter gefasst, wenn auch Jean-Maries Tod erst ein Jahr her ist. „So schlimm es auch klingt: Letztes Jahr hatte ich den Vorteil, dass ich alles bereits einmal durchgemacht habe“, betont die Bankangestellte.

Sie wusste demnach, was auf sie zukommt: die Gefühle der Trauer, Unwirklichkeit und Machtlosigkeit. Eine anfängliche Schockstarre und das Gefühl des Nicht-Wahrhaben-Wollens. Die gewaltige Aufgabe, den Tod annehmen und gleichzeitig akzeptieren zu müssen, von einem geliebten Menschen verlassen zu werden. Ein unablässiges Bedürfnis, zu hinterfragen, einen Sinn zu finden und zu verstehen, warum es geschehen ist.

So hat jeder Mensch seine eigene Art, zu trauern. „Es gibt keine richtige oder falsche Art“, weiß auch Francine. „Es gibt kein Rezept für ein Leben nach dem Selbstmord eines geliebten Menschen. Jeder muss für sich selbst entscheiden, wie er mit der Trauer umgeht.“ Sie habe etwa nie einen Arzt oder Therapeuten aufgesucht, sondern Trost, Rat und Hilfe in Büchern gefunden. „Ich musste einfach mehr wissen“, so Remesch.

Ziel sei es nicht nur gewesen, den Verlust zu verarbeiten, sondern auch herauszufinden, wie es zum Selbstmord kommen konnte. „Verstehen, was zum Entschluss geführt hat. Nachvollziehen, was in den letzten Tagen in den Köpfen meiner Brüder vorgegangen ist“, erklärt die ältere Schwester. Eine umfassende Antwort aber habe sie nicht gefunden. Vielmehr sei sie in jedem Buch auf mindestens einen Satz gestoßen, der ihr geholfen habe. Einen Grundtenor aber vertreten sämtliche Ratgeber: „Das Leben geht weiter“, antwortet Remesch. „Auch wenn es ab sofort nur noch ein Leben davor und ein Leben danach gibt. Nichts ist mehr so, wie es war.“

Bei Nummer 16 war Schluss

Die Suche nach Antworten zieht sich wie ein roter Faden durch ihre persönliche Geschichte. Oft sind es kleine Details, die erst im Nachhinein Sinn ergeben. Aber sind es gerade diese Momente, an die sich Francine Remesch ganz besonders erinnert. Etwa der Umstand, dass Carlo – ein Grundschullehrer – kurz vor seinem Tod die Namen seiner Schüler in ein Klassenbuch schreiben wollte, aber bei Nummer 16 aufhörte und das Buch zum Recyceln auf den Stapel mit dem Altpapier legte.

Sie selbst war 31 Jahre alt, als sich ihr zwei Jahre jüngerer Bruder dazu entschied, seinem Leben ein Ende zu setzen. An den Anruf ihres Vaters erinnert sie sich noch heute. Die Schule hatte gerade wieder angefangen, als sich der Lehrer nur einen Tag vor seinem 30. Geburtstag das Leben nahm. „In seinen Hosentaschen fanden die Polizisten mehrere Flaschen homöopathischer Beruhigungstropfen“, erinnert sich Francine. Carlo sei schon immer alternativ angehaucht gewesen. „Er war einer der ersten Bio-Anhänger“, lacht die Schwester kurz auf.

Francine Remesch aus Senningerberg hat ihre beiden Brüder durch Selbstmord verloren. Sie macht ihnen keinen Vorwurf, respektiert ihre Entscheidung. Doch verstehen werde sie sie nicht, so die Mutter eines jugendlichen Sohnes. 
Francine Remesch aus Senningerberg hat ihre beiden Brüder durch Selbstmord verloren. Sie macht ihnen keinen Vorwurf, respektiert ihre Entscheidung. Doch verstehen werde sie sie nicht, so die Mutter eines jugendlichen Sohnes.  Foto: Editpress/Eric Hamus

Im Gegensatz zu seinem Bruder Jean-Marie sei Carlo auch immer schon etwas schwermütiger gewesen. Ob er unter Depressionen gelitten habe, wisse sie nicht. „Ich kann es mir aber vorstellen“, sagt sie. Schon als Kind habe er viel Aufmerksamkeit gebraucht. Er sei sehr sensibel gewesen. Später dann habe er stundenlang über Faust gesprochen. Der innerlich zerrissene Protagonist aus Goethes Jahrhundertwerk habe Carlo regelrecht fasziniert. Nach seinem Tod habe sie mit ihrem Ex-Mann die Wohnung nach Antworten durchsucht. „Man sucht alles mögliche“, so Francine Remesch. Die Wohnung habe etwas vernachlässigt gewirkt, auch seien Bar und Kühlschrank nicht mehr nachgefüllt worden. „Man konnte schon sehen, dass es langsam aufs Ende zuging“, schlussfolgert Francine. Es sind Erinnerungen wie diese, die sich bis heute lebhaft in ihr Gedächtnis gebrannt haben.

Oder etwa jener Abend kurz vor seinem Tod im hauptstädtischen „Gronn“: Er habe in einer Kneipe partout kein Kleingeld annehmen wollen. Er brauche es nicht mehr, so sein Argument. „Wieder etwas, das wir nicht sofort in den richtigen Zusammenhang setzen konnten“, gibt die alleinstehende Mutter zu bedenken. „So macht jeder suizidgefährdete Mensch kleine, unscheinbare Andeutungen, die wir nicht richtig interpretieren, weil wir nicht in seinen Gedanken leben.“

„Ich werde meinen Weg gehen“

Der Fall der Familie Remesch zeigt denn auch, dass es unmöglich ist, einem Menschen in den Kopf zu blicken. Unterschiedlicher hätten die Umstände bei den Brüdern kaum sein können. Schien Carlo schon immer etwas schwermütiger, war Jean-Marie genau das Gegenteil. „Er war ein Wonneproppen, ein Glückskind“, so Francine. Ihr „Jengy“ sei immer unbeschwert durchs Leben gegangen, habe im Lyzeum bereits die Liebe seines Lebens kennengelernt und nach dem Ingenieurstudium in Aachen auch geheiratet.

Sorgen habe er eigentlich keine gehabt, meint Francine. Es schien, als sei er lange vom Unglück verschont geblieben. Bis er seiner großen Schwester im Sommer 2018 plötzlich von Eheproblemen berichtete. Zu diesem Zeitpunkt sei die Scheidung bereits beschlossene Sache gewesen. Doch schien es zunächst noch, als habe sich Jean-Marie wieder fangen können: „Er ist in eine schicke Wohnung gezogen, hat sich wieder unter die Leute gemischt und sogar von möglichen Frauenbekanntschaften gesprochen“, erinnert sich Francine. Bis plötzlich auch sein Job auf der Kippe stand.

„Ein Mann hat drei Stützen in seinem Leben: seine Familie, seinen Job und seine Gesundheit. Ich habe jetzt zwei davon verloren“, habe er ihr damals eröffnet. Einer seiner Vorgesetzten hatte ihn vorgewarnt, dass das Unternehmen dabei sei, Posten zu streichen. Die Aussicht, auch seinen Job zu verlieren, habe ihm dann regelrecht den Schlaf geraubt. „Es gab gute Tage und schlechte Tage“, so die Schwester. Bis er mit einem Freund, der sich ebenfalls in der Scheidung befand, im Januar 2019 ein Wochenende in seiner ehemaligen Universitätsstadt verbrachte.

„Das war wohl ein Fehler“, stellt Francine Remesch heute fest. An jenem Sonntag sei Jean-Marie zurück nach Luxemburg gekommen, um den Vater zur Kirche zu begleiten. Anschließend habe sie ihn zum Mittagessen getroffen. Er sei später noch auf ein Kaffee zu ihr gekommen, habe das Haus aber urplötzlich verlassen. „So, ich gehe jetzt“, habe er verkündet. Das war das letzte Mal, dass sie ihn lebend gesehen hat. Später am Abend hatte sie ihn noch per Kurznachricht auf eine Kreuzfahrt eingeladen. „Mit seiner Tochter, meinem Sohn und mir. Ich wollte ihn aufmuntern“, sagt Francine. Eine Antwort habe sie nicht mehr erhalten.

Zwei Tage später dann der Anruf der Polizei. Ob es um ihren Vater gehe, wollte sie von den Beamten wissen. „Nein, es geht um ihren Bruder“, so die Antwort. „Und ich wusste sofort, dass er sich das Leben genommen hatte“, erinnert sich Francine Remesch. Erst später habe sie dann gesehen, dass Jean-Marie ihr doch noch geantwortet hatte: „Keine Angst. Ich werde meinen Weg gehen“, habe er ihr über einen anderen Nachrichtendienst zukommen lassen.

Wieder einer dieser Hinweise, die erst im Nachhinein einen Sinn ergeben. Vorwürfe aber mache sie sich nicht. „Habe ich eigentlich nie getan“, so Francine Remesch, die Trost darin findet, über ihre Erfahrungen mit Suizid zu sprechen. Natürlich habe sie sich unendlich viele Fragen gestellt. Und viel über die Selbstmorde ihrer Brüder nachgedacht. „Ich bin natürlich nicht glücklich darüber. Dennoch respektiere ich ihre Entscheidung. Nur verstehen kann ich sie nicht“, sagt sie. Eines aber habe sie inzwischen gelernt: „Verhindern konnten wir es nicht.“

Hilfsangebote bei Suizidgefahr

Der Umgang von Medien mit dem Thema Selbstmord ist sehr heikel. Sensible Berichterstattung kann jedoch auch präventiv wirken. Haben Sie Suizidgedanken? Sie sind nicht allein! Bitte wenden Sie sich an folgende Rufnummern:
SOS Détresse: (+352) 45 45 45
Kanner- a Jugendtelefon: 11 61 11
oder an www.prevention-suicide.lu

Ermansky
24. Februar 2020 - 7.24

Genee esou as dat, et gët an denen meeschten Fäll nët driwwer geschwat. Lëtzebuerg huet awer a ganz héigen taux un suiciden. Virwat eigentlech? Schummt d'Gesellschaft sech wenn e Mënsch esou Gedanken huet? Et soll vill méi driwwer geschwat gin an méi preventif Hëllef ugebueden gin. Riicht dann kënnen mer vläicht eppes erréechen.