AnalyseNach der Operation „Sophia“: Wie Europas Migrationspolitik die Bewaffnung Libyens förderte

Analyse / Nach der Operation „Sophia“: Wie Europas Migrationspolitik die Bewaffnung Libyens förderte
Eine deutsche Fregatte läuft 2018 zur Operation „Sophia“ aus: Eine neue, militärische Mission soll nun das UN-Waffenembargo für Libyen überwachen. Foto: dpa/Mohssen Assanimoghaddam

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Die EU-Außenminister haben eine neue Militär-Mission zur Überwachung des Waffenembargos gegen Libyen beschlossen und die „Sophia“-Mission damit zu Grabe getragen. Die hat die Segel allerdings bereits länger gestrichen. Mit katastrophalen Folgen für Libyen – und für Europa.

Die EU schafft eine Mission ab, die es seit einem Jahr nicht mehr gibt. Am Montag entschieden die Außenminister der EU-Staaten das Ende von „Sophia“, ihrer Marine-Mission vor Libyens Küste. Ab 2015 waren die Europäer im Rahmen von „Sophia“ zwischen Libyen und Italien unterwegs, mit Schiffen, Flugzeugen, Hubschraubern und Drohnen.

Die sogenannte Mission EU NavForMed war eine Reaktion auf ein Schiffsunglück, bei dem 2015 mehr als 700 Flüchtlinge ums Leben gekommen waren. Der Name „Sophia“ geht zurück auf das erste Kind, das nach der Rettung seiner Mutter auf einer deutschen Fregatte geboren wurde. Die Somalierin nannte ihr Kind Sophia. Im August 2015 war das.

Obwohl 45.000 Flüchtlinge nach Italien gebracht wurden, bestand die Hauptaufgabe der Mission nie in der Flüchtlingsrettung, sondern in der Bekämpfung von Schlepperbanden, die Migranten auf die lebensgefährliche Reise über das Mittelmeer schicken.

Mehr als ein Mandat

„Sophia“ hatte das Mandat, verdächtige Boote notfalls mit Waffengewalt zu stoppen, zu durchsuchen und zu beschlagnahmen. Rund 150 mutmaßliche Schleuser wurden so festgenommen. Weitere Aufgaben waren die Überwachung gegen illegale Ölexporte aus Libyen sowie die Ausbildung des Personals der libyschen Küstenwache – der Küstenwache, die die Europäische Union beim Schutz der Außengrenzen unterstützen sollte, im Libyen-Konflikt aber als Milizen auch Kriegspartei aufseiten des anerkannten Ministerpräsidenten Fajes al-Sarradsch in der Hauptstadt Tripolis ergriffen.

Bereits ab Juni 2016 überwachte der Marineeinsatz auch das geltende UN-Waffenembargo gegen Libyen, das beim Berliner Libyen-Gipfel vor wenigen Wochen zwar bekräftigt wurde, an das sich in Libyen aber niemand hielt bzw. hält. Seit Beginn 2019 war „Sophia“ nicht mehr operationell. Nachdem der damalige italienische Innenminister Matteo Salvini von der rechten Lega-Partei mit der Schließung der Häfen auch für Schiffe der EU-Mission gedroht hatte, zogen die anderen Teilnehmer ihre Marineeinheiten ab.

Das heißt auch, dass im Mittelmeer seit einem Jahr keine Kontrolle des UN-Waffenembargos für Libyen stattfindet, zu dessen Durchsetzung sich die Europäer aber eigentlich bekannt hatten. Der Streit um Migration in Europa und das Scheitern eines Verteilungsschlüssels für Migranten auf die europäischen Staaten führten dazu, dass das Bürgerkriegsland auf der anderen Seite des Mittelmeeres gegenüber von Europa ein gutes Jahr lang vollkommen ohne Überwachung auf See mit Waffen beliefert werden konnte.

Kontrolle abgegeben

Um nur ja keine Flüchtenden aus Gründen des Seerechts aus dem Wasser fischen zu müssen, wurden die Waffenhändler demnach ungehindert in ein Land passieren gelassen, das als Schnittstelle der Migration zwischen Afrika und Europa fungiert und immer weiter ins Kriegschaos abgleitet; so geht in diesen Jahren europäische Grenz- und Sicherheitspolitik.

Schaut man sich den Konflikt und die beteiligten Länder genauer an, wird es noch abstruser. Im libyschen Bürgerkrieg stehen sich zwei Regierungen und zwei Armeen/Milizen gegenüber. Die Regierung im Westen, die nur Tripolis kontrolliert, ist die von der internationalen Gemeinschaft anerkannte. Militärisch unterstützt wird sie von der Türkei, Katar und Italien. Der Regierung im Osten, mit Sitz in Tobruk, deren Armee von General Kalifa Haftar geführt wird, greifen Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und Frankreich militärisch unter die Arme.

Ihren Beistand aus dem Ausland erhalten beide Seiten auf unterschiedlichen Wegen. Während Haftars Truppen vor allem aus der Luft und über die Landgrenze nach Ägypten mit Kriegsmaterial beliefert wurden, konnten die Milizen, die al-Sarradsch verteidigen, auf Nachschub aus der Türkei vertrauen, der über das Mittelmeer nach Libyen geschifft wurde. So kamen in den vergangenen Monaten nicht nur Kriegsmaterial sowie türkische Ausbilder und Soldaten, sondern auch Tausende Kämpfer aus Syrien an die Bürgerkriegsfronten in dem Wüstenstaat.

Knackpunkt des Embargos

Diese Komponente gilt als einer der Knackpunkte bei der Überwachung des Waffenembargos –  sicherzustellen, dass die Kontrolle nicht nur eine Seite lähmt und damit die andere bevorteilt. In Libyen selber startete Haftar ab April vergangenen Jahres eine Offensive auf Tripolis – auch in dem Wissen, dass aufgrund der „Sophia“-Stilllegung die andere Seite nun alle Freiheiten zur Aufrüstung hatte. Vor der Stadt angekommen, blieben Haftars Truppen stecken. Auch heute verläuft die Frontlinie nur knapp außerhalb der Stadtautobahn um Tripolis.

Indem sich Italiens rechte Hardliner in der vorigen Regierung durchsetzten und Salvini die „Sophia“-Mission so bereits informell zu Grabe trug, öffnete sich für die Türkei (Italiens Verbündeter in Libyen) ein Zeitfenster zur unüberwachten Flutung der libyschen Milizen-Partner mit Waffen, Soldaten und militärischem Know-how.

Auf dem libyschen Schachbrett konnte sich Ankara so in eine Position bringen, die der Türkei bei jeder weiteren Entscheidung weitläufige Mitentscheidung garantiert. Nach dem Türkei-Deal hat Europa in Flüchtlingsfragen Ankara damit einen zweiten Hebel in die Hand gegeben. Aus der Weigerung heraus, Menschen vor dem Ertrinken retten zu wollen, hat man sich erneut zum möglichen Spielball gemacht – und rennt erneut den Ereignissen hinterher.