Käerjeng„Ich dachte, wir sterben“: Betroffene blicken sechs Monate nach dem Tornado auf die Katastrophe zurück

Käerjeng / „Ich dachte, wir sterben“: Betroffene blicken sechs Monate nach dem Tornado auf die Katastrophe zurück
In Käerjeng wurden auch die vielen freiwilligen Helfer geehrt, die den Opfern des Tornados unter die Arme gegriffen haben Foto: Editpress/Didier Sylvestre

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Am 9. August 2019 fegte ein Tornado über den Südwesten Luxemburgs hinweg. Über 600 Häuser wurden beschädigt und 19 Personen verletzt. Nachdem die Gemeinde Petingen die Opfer und vielen freiwilligen Helfer im Dezember auf einen Umtrunk eingeladen hatte, war nun Käerjeng am 10. Februar an der Reihe. Mehr als 300 Personen sind der Einladung ins Kulturzentrum „Käerjenger Treff“ gefolgt. Zwei Opfer berichten, wie sie die Katastrophe erlebt haben.

Marie Ramona Schuster-Goerens aus Ehleringen muss sich demnächst einer ganzen Reihe von chirurgischen Eingriffen an einem Bein unterziehen. Als der Tornado durch die Straßen fegte, stand sie an der Bushaltestelle neben der Aral-Tankstelle am Eingang von Käerjeng. Sie wurde vom Wirbel erfasst und meterweit durch die Luft geschleudert. Die Folge: etliche Knochenbrüche und Schnittwunden.

Auf der Bühne im „Käerjenger Treff“ war eine Großleinwand aufgestellt worden, auf der das Logo der Helfer prangte: Ein Herz, zusammengesetzt aus vielen Personen. Es soll die enorme Solidarität darstellen, die am Katastrophentag und danach herrschte. Diese wird auch von einem anderen Opfer, M.N. (Name der Redaktion bekannt), hervorgehoben. Die Mutter zweier Töchter war am 9. August mit dem Auto unterwegs, als das Unheil über sie hereinbrach.

„Ich hatte gerade meine beiden Kinder von der ‚Maison relais’ abgeholt und wollte nach Hause fahren“, erzählt sie. Auf dem Nachhauseweg gerät ihr Wagen in der Nähe des Cactus-Supermarkts in den Sturm. „Ich fuhr direkt in den Rüssel. Der Wagen fing plötzlich an zu schaukeln, hob aber glücklicherweise nicht ab. Trümmerteile kamen geflogen. Ich sagte meinen Kindern, sie sollen sich ducken. Ich dachte, wir sterben, es war wie im Film.“ Alle drei Insassen des Fahrzeugs blieben unverletzt. Das Auto wurde jedoch komplett zerstört. Dachschindeln stachen in der Motorhaube, alle Fenster waren kaputt, das Dach eingedrückt. „Wir hatten unglaubliches Glück“, schlussfolgert die Mutter. Um sie herum schrien die Menschen.

Auf den Felgen nach Hause

Nach einiger Zeit kamen die Rettungskräfte und fingen an, die Straße freizuräumen. „Da der Motor noch funktionierte, entschied ich, nach Hause zu fahren – auf den Felgen, weil alle Reifen geplatzt waren“, berichtet M.N. Die Straße in Käerjeng, in der die Familie wohnt, war aber gesperrt worden. Als die drei das Haus sahen, waren sie am Boden zerstört. Das Flachdach hatte sich durch den Sturm gehoben und war auf die Mauern gekracht. Die obere Etage und ein Großteil des Erdgeschosses waren komplett zerstört. Und dann kam noch der Regen. „Ich war schockiert. Meine beiden Töchter weinten und riefen nach dem Hund, der sich noch im Haus befand. Wir hörten ihn bellen, doch es war zunächst unmöglich, zu ihm zu gelangen“, sagt M.N. Schlussendlich konnte das Tier aber unverletzt geborgen werden.

Das Haus war jedoch ein einziges Trümmerfeld. Nur die Küche und das Klavier hatten dem Sturm standgehalten. Das Reihenhaus war erst etwa 15 Jahre alt. „Wir mussten woanders untergebracht werden. Ins Hotel wollte ich nicht. Schließlich kamen wir bei meinem Ex-Mann unter. Das war gut, denn so waren die Kinder nach den schrecklichen Erlebnissen wenigstens in einem sicheren, bekannten Umfeld“, schildert M.N. Sie blieben etwa zwei Monate dort und zogen dann in eine andere Wohnung um. „Die letzten Monate waren keine einfache Zeit. Ich musste arbeiten, die Kinder versorgen und parallel alle notwendigen Schritte für den Wiederaufbau unseres Zuhauses einleiten und überwachen.“

Nur die Küche und das Klavier standen noch

Der kurz nach der Katastrophe herbeigerufene Statiker hatte schlechte Nachrichten für die Familie. Er erklärte, dass vom Gebäude quasi nur die Grundmauern erhalten werden können. Das Dach, die Fenster, Böden, Decken … alles musste ersetzt werden. Zum Glück kannte M.N. einen Dachdecker aus Vianden. „Wie viele andere Handwerker war er sofort bereit, uns zu helfen“, erzählt M.N. erleichtert.

Etwa drei Wochen nach dem Sturm begannen die Arbeiten. Der Dachdecker hat nicht nur das Dach der Familie, sondern auch das der beiden Nachbarhäuser erneuert. In einem davon war zum Beispiel der Kamin durch die Decke gekracht und auf einem Bett gelandet, erzählt Bürgermeister Michel Wolter uns. „Jetzt müssen nur noch die Fassade, die Terrasse und der Garten fertiggestellt werden, dann ist wieder alles beim Alten“, sagt M.N.

Die Angst ist nie ganz weg

Nach dem Sturm musste das Haus schnell geleert werden. „Wir hatten die Sachen, die nicht kaputt waren, in Kisten gepackt. Jetzt, wo wir wieder eingezogen sind, weiß ich immer noch nicht, was in einigen davon ist. Wir sind noch dabei, uns einzurichten“, erklärt die Frau weiter. Ihr Ziel sei es gewesen, Weihnachten wieder in ihrem Zuhause zu feiern. Daraus wurde aber nichts. Sie zogen erst am 28. Dezember um. „Dann haben wir halt Silvester dort gefeiert.“

„Wie verarbeitet man solch ein traumatisches Erlebnis?“, wollten wir wissen. „Niemals ganz“, erklärt das Opfer. Bei einem Sturm schlafe M.N. zum Beispiel nicht gut. Die jüngere ihrer beiden Töchter, sechs Jahre alt, zucke manchmal zusammen bei einer Luftböhe oder wenn sie die Sirene eines Krankenwagens hört. Insgesamt gehe es ihnen aber gut. Großen Anteil daran hätte der „Service de soutien psychologique“ gehabt, der sie unmittelbar nach der Katastrophe betreut hat. „So etwas verändert einen“, sagt M.N. „Man definiert seine Prioritäten neu. Und man führt eine neue Zeitrechnung ein. Wir sprechen so zum Beispiel von einem Ereignis vor dem Wirbelsturm oder danach.“

Ihr Herz blieb stehen

Auch Odette Bermer-Keller (69) wird den 9. August 2019 so schnell nicht vergessen. Sie war mit ihrem Ehemann zu Hause in der avenue de Luxembourg, als sich der Tornado bildete. „Ich wollte das Fenster im ersten Stockwerk schließen, als der Wind kam, schaffte es aber aufgrund des Luftdrucks nicht, die Tür zum Zimmer zu öffnen“, erzählt die Frau. „Plötzlich regnete es auf meinen Kopf und die Rollläden kamen mir entgegengeflogen.“ Odette Bermer-Keller und ihr Mann verließen das Gebäude und sahen die Feuerwehr und die Techniker vom Gaswerk ankommen. Zurück nach innen Haus konnten sie nicht, weil die Leitung eines Hochspannungsmastes auf das Haus gefallen war. Plötzlich wurde die Seniorin von Unwohlsein befallen. Sie ging zu einem Krankenwagen, der vor dem Cactus geparkt hatte. „Dann erinnere ich mich an nichts mehr“, sagt Odette Bermer-Keller. Später erfuhr sie, dass sie einen Herzstillstand erlitten hatte und zweimal reanimiert werden musste. „Probleme mit dem Herzen habe ich nie gehabt. Laut dem Arzt waren der Schock und Stress der Auslöser gewesen.“ Das Opfer wurde in ein Krankenhaus in die Hauptstadt gebracht. Dort war es elf Tage lang im künstlichen Koma. Insgesamt musste Odette Bermer-Keller vier Wochen im Spital verbringen. Nach drei weiteren Wochen im Rehabilitationszentrum in Colpach wurde sie am 25. September wieder nach Hause gebracht. Mittlerweile ist Odette Bermer-Keller wieder auf dem Damm und die Arbeiten am Haus sind quasi fertig.