Forschung Auf einen Kaffee mit weltberühmten Forschern 

Forschung  / Auf einen Kaffee mit weltberühmten Forschern 
Der historische Teil des Leibniz-Zentrums für Informatik im Saarland auf Schloss Dagstuhl Foto: Wiebke Trapp

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Dem weit ab vom Schuss gelegenen Schloss im nördlichen Saarland eilt ein exzellenter Ruf voraus. Dagstuhl ist weltweit ein Begriff unter Informatikern. Wissenschaftler der Uni.lu sagen, es sei ein „Paradies für Forscher“. Ein Besuch im Leibniz-Zentrum für Informatik.

In dem Tal am Rande des Hochwaldes könnte das Ende der Welt liegen. Leichter Nebel liegt an diesem Vormittag über der gemächlich dahinfließenden Löster und wabert bis zum Wald. Das einzige Gebäude weit und breit ist Schloss Dagstuhl mit Garten, Gruft und Kapelle samt Anbau mit Bibliothek, Arbeitszimmern und Konferenzsaal. Drinnen diskutieren Seminarteilnehmer in einer Kaffeeecke über Fragen der Optimierung für elektronisch gesteuerte Systeme. Die Teilnehmerliste ist international und offenbart Anreisen aus China, Portugal, Amerika, Australien oder Mexiko.

Einer, der schon sehr oft da war und es nicht so weit hat, ist der Professor für Künstliche Intelligenz an der Uni.lu Leon van der Torre (51). „Dagstuhl ist ein Paradies für Forscher“, sagt der gebürtige Niederländer, „dort kommen Wissenschaftler der Informatik auf hohem Niveau und jeden Alters aus der ganzen Welt zusammen.“ Sie kommen nicht, um ihre Arbeitsgebiete zu präsentieren wie auf anderen Konferenzen, sondern um in der Abgeschiedenheit der Schlossanlage Fachthemen mit Kollegen zu diskutieren. Dafür, dass sich die aus aller Welt zusammengewürfelten Forscher kennenlernen, wird viel getan. Es gibt eine per Los gezogene wechselnde Tischordnung beim Mittagessen. Jeder sitzt irgendwann neben jedem. Billardzimmer, Weinkeller oder das historische Musizierzimmer lassen abends keine Langeweile aufkommen. Die spontanen Kammerkonzerte am Ende einer Seminarwoche sind legendär.

Ein Uniprofessor interpretiert Chopin 

Gerade das schätzt van der Torres Kollege Thomas Engel, Professor für Computernetzwerke und Telekommunikation an der Uni.lu. Schon so mancher Seminartag in Dagstuhl endete für ihn nach abstrakter Theorie an dem weißen Piano des Musizierzimmers – bevorzugt mit Chopinsonaten. Engel ist mit seinem rund 30-köpfigen Uni-Team, dem sich immer ehemalige Doktoranden anschließen, spätestens seit 2009 ein regelmäßiger Gast in Dagstuhl. Die zwanglose Atmosphäre fasziniert. „Es ist die Möglichkeit, mit weltberühmten Forschern einen Kaffee zu trinken“, sagt er. 80 Veranstaltungen mit rund 3.000 Besuchern stehen jährlich auf dem Programm der Begegnungsstätte. Gerade erst haben 40 australische Informatiker für 2020 angefragt. Deren Bereitschaft, 24 Stunden Flug auf sich zu nehmen, um in der saarländischen Provinz zusammenzukommen, spricht für sich.

Reinhard Wilhelm (73), langjähriger Informatikprofessor an der Universität des Saarlandes und wissenschaftlicher Gründungsdirektor von Dagstuhl, bestätigt die Aussagen der luxemburgischen Kollegen. „Ein Großteil der Wissenschaft macht die persönliche Kommunikation mit den Kollegen im gleichen oder angrenzenden Forschungsgebiet aus“, sagt er. „E-Mails oder Skypetelefonate sind dafür viel zu unterdimensioniert.“ Es hat einiges gekostet, bis sich Einsichten wie diese durchgesetzt haben. Die Pläne zur Nutzung des Schlosses sehen anfangs anders aus. Managerweiterbildungen in gediegener Atmosphäre sollte es geben, Wilhelm will eine wissenschaftliche Begegnungsstätte. Berühmte Köpfe, denen ihr Ruf vorauseilt, sollen nach Dagstuhl kommen. Der Gründungsdirektor will aktive, erfahrene und junge Wissenschaftler zusammenbringen. Die unterschiedlichen Vorstellungen bei der Gründung gipfeln in der banalen Komfortfrage, ob es Fernseher in den 80 Gästezimmern gibt oder nicht. Es gibt bis heute keine.

Grafen, Revolutionstruppen und Nonnen

Für das Schloss ist es eine von vielen Nutzungen, die das Gebäude im Laufe seiner Geschichte erlebt hat. Die Grafen von Öttingen-Soetern-Hohenbaldern bauen es im 18. Jahrhundert, französische Revolutionstruppen besetzen es danach zeitweise, zuletzt widmen sich Franziskanerinnen der Altersfürsorge im Schloss. Die sechs letzten Ordensschwestern sind in der Gruft des Schlosses beigesetzt. Obwohl sie vor ihrem Tod das Gebäude verließen, hatten sie sich lebenslanges Rückkehrrecht erbeten. Es wurde ihnen gewährt. Als das Bundesland Saarland das Anwesen 1989 kauft, herrscht Aufbruchstimmung unter dem damaligen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine (bis 2005 SPD, heute die Linke). Das Max-Planck-Institut und das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) entstehen gerade an der Universität des Saarlandes. Ein Begegnungszentrum für Informatiker ist die ideale Ergänzung für den damals politisch gewollten IT-Standort Saarland. Die Rechnung ist aufgegangen.

Neben den wissenschaftlichen Begegnungen hat sich das Zentrum als Kunstbetrieb etabliert. Gerade stellt die aus München stammende Künstlerin Lola Sprenger aus. Kunst und Informatik scheinen sich anzuziehen. „Informatiker arbeiten an extrem abstrakten Fragestellungen“, sagt Gründungsdirektor Wilhelm zu der Kombination. „Sie mit Kunst zu konfrontieren, ist wie Medizin für den seelischen Ausgleich.“ Obwohl 2014 emeritiert und in Rente kuratiert er nach wie vor das Kunstprogramm. Dagstuhl hängt voller Kunst. Die Flure zwischen den Gästezimmern, Kaffeetreffs, Arbeitszimmer, überall hängen die Geschenke von „Dagstuhlianern“ oder von den Künstlern selbst an das Haus. In vielen Seminaren kreist der „Hut“ für Kunstspenden, das Zentrum hat nur einen sehr bescheidenen Kunstetat.

Dagstuhl als Gesamtpaket schafft eine Atmosphäre, die freies Denken und effektives Arbeiten ermöglicht. Das macht den Geist der Bildungsstätte aus und widerlegt gleichzeitig die weit verbreitete Annahme, der technische Fortschritt erübrige die persönliche Begegnung. Wie viele neue Projekte der persönliche Austausch schon angeschoben hat, vermag nach 30 Jahren und Tausenden von Besuchern niemand mehr zu sagen. Fest steht, Dagstuhl ist in der Beziehung ein Thinktank. Das hat sich längst in der weltweiten Informatikszene, aber auch an der noch jungen Universität in Luxemburg herumgesprochen.

Weisheit ist nichts anderes als die Wissenschaft der Glückseligkeit

Gottfried Wilhelm Leibniz, Universalgelehrter des 17. Jahrhunderts, Philosoph, Mathematiker, Jurist und Historiker

Leibniz-Zentrum für Informatik

Dagstuhl finanziert sich aus Zuwendungen der Bundesrepublik Deutschland und der beiden Bundesländer Rheinland-Pfalz und Saarland. Das jährliche Budget liegt zwischen 2 und 3 Millionen Euro. 40 Mitarbeiter sind dort angestellt – vom Koch über Hausdame bis zur Geschäftsführung. Über die fachliche Expertise und Zusammensetzung der angestrebten Seminare wacht ein 12-köpfiges wissenschaftliches Direktorium. Jede Veranstaltung in Dagstuhl kommt durch einen positiv beschiedenen Antrag zustande. Dagstuhl ist ein Institut der Leibniz-Gemeinschaft, die aus 96 selbstständigen Forschungseinrichtungen besteht. Die Ausrichtung reicht von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Raum- und Sozialwissenschaften bis zu den Geisteswissenschaften.