Animal Kingdom

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Jeff Schinker darüber, was passiert, wenn Cannes den Lack der Gesellschaft abkratzt.

Die in Cannes vorgestellten Filme entfernen sich interessanterweise immer mehr vom ausgelutschten Narrativ des weißen Westens. In zwei Filmen verschwindet der anthropozentrische Schwerpunkt etwa gänzlich: Die Menschheit wird entweder (fast) ausradiert („In my Room“) oder in ihrer intrinsischen Bestialität porträtiert („Dogman“).

Von Jeff Schinker

„In My Room“ ist ein poetischer End-of-the-World-Film, der ganz ohne Aliens und Zombies auskommt und sowohl Elemente von Social Realism einbaut wie auch eine Thoreau-artige Rückkehr zur Natur thematisiert. Der Streifen beginnt mit einer Reihe von Rushes von Interviews mit deutschen Politikern, die jedes Mal abrupt enden, wenn der Journalist seine erste Frage stellt. Glaubt man die ersten paar Minuten an einen deutschen Avantgarde-Film, ergibt sich schnell, dass es sich um Aufnahmen von Armin (Hans Löw) handelt, der fürs Fernsehen arbeitet und es vermasselt hat, die eigentlichen Unterhaltungen aufzuzeichnen. Muss wohl den falschen Knopf betätigt haben, erklärt Armin.

Irgendwie scheint diese Aussage auf das Leben der Hauptfigur zuzutreffen: Mit den Frauen klappt’s nicht so recht, die Arbeit nervt und mit seinem Vater, zu dem er aufs Land fährt, um vor ihrem bevorstehenden Tod seine Großmutter ein letztes Mal zu sehen, kommt er auch nicht klar. Als er nach dem Tod der Großmutter davonfährt und nach einer Nacht, die er im Auto mit Biertrinken verbringt, wach wird, ist die gesamte Menschheit wie vom Erdboden verschluckt.

Im Gegensatz zu den meisten Weltende-Fiktionen gibt es hier keinen außerirdischen Fremdeingriff, es kommt auch zu keiner ökologischen Katastrophe. Die Welt bleibt eigentlich gleich, nur hat man ihr die Menschheit entzogen. Zu Beginn wandert Armin durch verlassene Dörfer und Autobahnen, auf denen Motorräder bedeutungslos herumliegen, begegnet gespenstischen Unfallszenen ohne Opfer, bevor er sich in den Wald zurückzieht, um dort in totaler Autonomie zu überleben, bis ihn Kirsi (Elena Radonicich), die letzte Frau auf Erden, findet. Zusammen durchwandern die beiden eine Welt, die schnell wieder von Pflanzen, Insekten und Tieren erobert wird – und ohne die Krone der Schöpfung wunderbar zurechtkommt.

„In my Room“ ist poetisch, ruhig, aber nie kontemplativ und spart sich, im Gegensatz z.B. zu Aronofskys „Noah“, den ökologischen Zeigefinger. Der Film schafft ein Gedankenexperiment, in dem eine Welt ohne gesellschaftliche Zwänge implizit hinterfragt, wieso wir so leben, wie wir es gerade tun. Köhlers Fiktion inszeniert in ihrem letzten Teil die Beziehung eines Pärchens, das eigentlich nur noch die Wahl zwischen Einsamkeit und geteilter Einsamkeit hat. Denn wie sang schon Nagel, damals Sänger der Band Muff Potter: „Einsamkeit allein ist Einsamkeit. Einsamkeit zu zweit, das ist Tristesse.“
Die schönen Pläne, das einfühlsame, lakonische, nie pathetische Schauspiel unterstreichen, wie stark diese sogenannte neue „Berliner Schule“ ist, zu der auch Köhlers Frau Maren Ade („Toni Erdmann“) gehört.


Ein ähnliches Setting entfaltet sich auch in „Dogman“ von Matteo Garrone, der nach „Tale of Tales“, das vor zwei Jahren in Cannes auf wenig Begeisterung stieß, zu der Welt, die er in „Gomorra“ (Grand Prix au Festival de Cannes 2008) porträtiert hatte, zurückkehrt. Marcello ist geschieden, liebt seine Tochter … und die Hunde seiner Kunden: In der Anfangssequenz bändigt er ein Biest von einem Tier, indem er es verhätschelt, hypnotisch beschwört. Wenn er aber nicht gerade Hunde auf Trab bringt, verhilft Marcello seinen Nachtkunden mit ein paar Gramm Kokain wieder zur Großform. Einer davon ist Simone, ein animalischer Schläger, der die Gemeinschaft so sehr terrorisiert, dass man in der Nachbarschaft sogar plant, ihn beseitigen zu lassen. Nur Marcello lässt sich immer wieder von Simone bändigen, gehorcht ihm fast blind, obwohl er wissen müsste, dass die kriminellen Machenschaften dieser monströsen Figur ihm irgendwann fatal werden müssen.

Grandios ist hier, neben der präzisen Kameraführung, der (etwas zu) poetisierten Bilder einer zerfallenen Gegend und der simplen, aber sehr spannenden Story, vor allem das Schauspiel von Marcello Fonte, der seiner Figur eine bedrohliche Tiefe verleiht. Marcello besteht vollständig aus flüchtenden Blicken, aus zitternden Händen, beruhigenden, säuselnden Sprüchen, lebt seine Existenz wie eine Verlängerung seines Berufes. Man weiß nie so recht, ob der schmächtige Tierliebhaber aus Unterwürfigkeit oder aus Angst gehorcht, ob er Mitleid mit Simone hat, ob er ihn lediglich falsch einschätzt oder sich in seiner imposanten Gegenwart wertgeschätzt fühlt.

Wo bei „In my Room“ die Zivilisation ganz zerfällt, zeigt die abblätternde Gesellschaft von „Dogman“, dass es sie eigentlich niemals gab – und dass der soziale Darwinismus des Kapitals, wie wir ihn praktizieren, von körperlicher Dominanz geprägt ist. Unterschwellige Hierarchien in der Körpersprache und in der Größe des Bizepses, in der Selbstsicherheit und der sozialen Identität, mit der man maskiert auftritt, sind das A und O unserer Welt. Identität konstruiert sich mitunter auch durch diese Machtspielchen.

„In My Room“, Un certain regard, 3,5/5
„Dogman“, En compétition, 4/5 (am 11. Juli in unseren Kinos)