Menschenverachtendes Reisen

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„Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen“, hieß es schon bei Matthias Claudius im Jahre 1774. Aber was kommen da heutzutage für Geschichten zusammen? Wo liegt der Fokus und was wird weggelassen? Wer hat in diesem ganz persönlichen Storytelling seinen Platz und wer muss unerwähnt bleiben, weil’s sonst ungemütlich wird? Und eine der wohl wichtigsten Fragen: Welche Informationen werden gezielt ignoriert, damit die Seifenblase nicht auf ohrenbetäubende Weise platzt?

Sogar die AIDA wirbt mit „bewusstem Reisen“ und behauptet vom eigenen Großunternehmen, dass dort nachhaltiges Handeln stets mit unvergesslichen Urlaubserlebnissen verknüpft sei. Bei derartigen Selbstbeweihräucherungen kann ich nicht umhin, an den Reisebericht des US-amerikanischen Schriftstellers David Foster Wallace zu denken, den dieser während eines siebentägigen Aufenthalts auf einer Luxuskreuzfahrt durch die Karibik verfasste und der den treffenden Titel „Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“ trug. Dort hieß es nämlich: „Ich habe erwachsene US-Bürger aus dem gehobenen Mittelstand gehört, die am Info-Counter wissen wollten, ob man beim Schnorcheln nass wird, (…) ob die Crew ebenfalls an Bord schläft oder um welche Uhrzeit das Midnight-Buffet eröffnet wird.“ Das größte Problem bei diesen durchaus unterhaltsamen Zeilen ist, dass es sich dabei keineswegs um Fiktion handelt. Das romantische Bild der Reise, die laut Goethe, Reiseagenturen und selbst ernannten digitalen Nomaden mit Bildung einhergehen soll, artet immer mehr zu einer Karikatur aus. Im Zentrum der Erinnerungsstücke stehen nicht etwa neu Erlerntes oder gar die Menschen, die ein bereistes Land ausmachen, sondern dort prangt häufig die eigene Fratze.

Das Ego hat viele Gesichter – ob nun mit detailverliebt geföhntem, an der Vorliebe der Schwiegermutter orientiertem Seitenscheitel oder mit angestrengt lässig in Szene gesetzten Filzlocken. Und dieses steht nicht nur Monumenten, also dem Hauptelement peinlicher „Ich war hier“-Beweisfotos, im Weg, sondern auch dem Reisenden selbst, der in einem Land weitaus mehr entdecken könnte, gelänge es ihm, vom Blick (durch die Handykamera) von sich selbst, für wenigstens einige Stunden, abzulassen.

Der verstorbene deutsche Autor Roger Willemsen statuierte nicht zu Unrecht in seinem meisterhaften Werk „Die Enden der Welt“, in dem er 24 Reiseetappen (mit der Eifel beginnend und dem Nordpol endend) beleuchtet, dass es mindestens zwei Sorten von Reisenden gibt, nämlich jene, die nach der Dauer suchen, und solche, für die nur der Moment zählt. Was an und für sich einfach klingt, birgt ein essentielles Element in dieser Diskussion: Für die Mehrheit der Menschen, die sich auf eine Reise begeben, geht es nicht darum, den Alltag in einem anderen Land besser zu verstehen, sondern der Urlaub muss „schön“, allem voran ästhetisch ansprechend sein, denn sonst generiert der eigene Instagram-Feed nicht ausreichend Bestätigung dafür, dass man gerade „die Zeit seines Lebens“ verbringt.

Wenn nicht gerade schöne Gebäude oder historische Stätten verwackelten Selfies zum Opfer fallen, so ist die Perspektive meist auf das traumhafte Meer gerichtet (das sich in praktischer Entfernung befindet, damit man den Plastikmüll darin nicht direkt sieht). Der Tunnelblick zielt dabei durch die eigenen braun gebrannten, abfotografierten Knie hindurch. Alles andere drum herum – außer dem überteuerten Cocktail, den man im mit Stacheldraht umzäunten Resort serviert bekommt, versteht sich – wird ausgeblendet.

Die Perversion der Gleichgültigkeit

Nun besteht Meinungsfreiheit auch darin, keine Meinung zu haben. Es ist legal, sich für wenig bis gar nichts außer sich selbst zu interessieren. So also auch auf Reisen. Nichtsdestotrotz frage ich mich oft, wie weit diese Ignoranz gehen kann und darf. Ab wann ist die Grenze hin zu einer fast schon perversen Gleichgültigkeit erreicht? Wie (für andere) menschenunwürdig kann man eigentlich reisen?
Als ich als Journalistin in Kambodscha unterwegs war, begegnete ich Backpackern, die ohne mit der Wimper zu zucken angaben, das Tuol-Sleng-Genozid-Museum sowie die Killing Fields nicht zu besuchen, da dies sie zu sehr runterziehe. Sie seien ja schließlich dort, um die Schönheit des Landes zu genießen. Nun birgt „das Kingdom of Wonder“ ohne Zweifel wunderschöne natürliche Schätze, darunter sind jedoch teilweise bis heute Tote verscharrt, Familienmitglieder, die von ihren Mitmenschen vermisst werden. Dazwischen befinden sich Minen, die viele Kambodschaner wenn nicht das Leben so doch manche Gliedmaßen kosteten und kosten. Nicht wenige der als ach so putzig empfundenen, durch die Straßen laufenden Kinder sterben noch heute an Durchfallerkrankungen, weil das Grundwasser (im Gegensatz zum Wasser im Hotel) nicht sauber ist.

Könnten solche Reisende einem Einwohner des Landes in die Augen sehen und sagen: „Mich interessiert nicht, was ihr erlebt habt und erlebt, denn ich will jetzt mal ausspannen und Spaß haben“? Ich tendiere da eher zu einem „Nein“. Wahrscheinlich beschränken deswegen viele Touristen ihre Gespräche mit Einheimischen auf das, was sie auf dienstleisterischer Ebene von ihnen brauchen.

Eine ähnliche Situation erlebte ich in Guatemala, als ich mit zwei jungen Guatemalteken und zwei Touristinnen essen ging. Die jungen Damen hatten sich gerade für einen Spottpreis zwei Tage lang von einem Local zu einem Vulkan führen lassen. Ihr Smalltalk drehte sich um das tolle Wetter und die Schönheit der Kolonialstadt Antigua (in der Einheimische bis heute ein menschenunwürdiges Minimum verdienen, während Ausländer, die quasi die gesamte Stadt besitzen, horrende Summen für Unterkunft, Essen und touristische Dienstleistungen verlangen – der sogenannte „Postkolonialismus“ lässt grüßen). Als der Völkermord in Guatemala erwähnt wurde, stutzten beide. Sie hatten scheinbar noch nie etwas davon gehört, dass in diesem angeblichen Paradies zwischen 1960 und 1996 200.000 Menschen gestorben sind.

In einem Zeitalter, in dem man innerhalb von Sekunden unzählige Informationen über ein Land online abrufen kann, stellt sich die Frage, ab welchem Moment ein derartiges Desinteresse fast schon sadistische Züge annimmt. Und ob so nicht auch gerade westliche Reisende, die sich zudem öfters in der Heimat über Nicht-Einheimische aufregen, schlicht und ergreifend zu Schmarotzern werden. Während nicht gerade wenige privilegierte Mittelständler ausschwärmen, um sich von ihrem ach so langweiligen Alltag zu befreien, haben die Einwohner vieler gehypter Reisedestinationen nicht einmal die Möglichkeit, ihre Heimat zu verlassen. Es entspräche einem Mindestmaß an Respekt, ihnen wenigstens in die Augen zu sehen. Aber offenkundig könnte dieser tiefere Blick etwas spiegeln, vor dem viele Menschen Angst haben.

Chrigeline55
5. April 2018 - 9.05

Ich habe Ihren Artikel mit grossem Interesse und Vergnuegen gelesen und kann Ihnen nur Recht geben. Dass man beim Schnorcheln eventuell nass werden kann ist ja schon eine weitreichende Erkenntnis......;) Wir reisen selber auch gerne und gruendlich und haben aehnliche Beobachtungen gemacht bei Mitreisenden. Ist dieses Verhalten denn nicht ein generelles Symptom der Mentalitaet heute? Reisen muss billig sein und man muss Handyfotos herumschicken wo man gerade ist. Geschichte ,Politik, Lebensumstaende der Menschen , ueberhaupt mal Infos ueber den Ort wo man sich befindet ,scheinen ,trotz stets zur Verfuegung stehender Information im Internet, voellig unerheblich zu sein. Und so wachsen Oberflaechlichkeit und Mangel an Respekt.