Gutmenschfrau mit Feigling

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Norbert Gstrein trifft mit seinem Roman „Die kommenden Jahre“ ins Herz der Gegenwart: Flüchtlingskrise, Alterskrise und Ehekrise werden so vermischt, dass sich der Leser gut in die Figuren hineinversetzen kann.Gstrein entlarvt dabei die Doppelmoral der Gesellschaft.

Von unserem Korrespondenten Roland Mischke

Der österreichische Glaziologe Richard ist verehelicht mit der deutschen Schriftstellerin Natascha. Er, ein renommierter Wissenschaftler, befasst sich mit Formen, Auftreten und den Eigenschaften von Eis, und Schnee, Permafrost und Gletschern. Sie, ohne durchschlagenden Erfolg als Autorin, ist eine menschlich engagierte und wortgewandte Frau, die sich nach den Flüchtlingskolonnen von 2015 der humanitären Nothilfe zugewandt hat.

Tochter Fanny ist gerade dabei, der Ehe der Eltern zu entwachsen. Es tut sich viel in kurzer Zeit in dieser Dreierkonstellation, und alles will bewältigt werden. Norbert Gstrein, 56, verkoppelt im Roman „Die kommenden Jahre“ eine der üblichen Midlife- und Ehekrisen mit der Flüchtlingskrise.

Nah am Zeitgeschehen

Es geht in allem, was geschieht, immer auch um das Schicksal der syrischen Flüchtlingsfamilie Farhi aus Damaskus, die in Hamburg gestrandet ist. Seine weibliche Hauptfigur lässt Gstrein aufgehen im Dauereinsatz für Geflüchtete, Fernsehteams dürfen sie dabei stets begleiten. Während die männliche Hauptfigur dem Geschehen erst skeptisch, schließlich abweisend gegenübersteht. Ein Riss geht durch diese Ehe. Richard geht „diese unmittelbare journalistische, diese schriftstellerische Nutzbarmachung um jeden Preis gegen den Strich“. Der Roman ist extrem nahe am Zeitgeschehen mit seiner Doppelmoral.

Keine Idylle im Sommerhaus

Das Ehepaar hat ein Sommerhaus an einem romantischen See in Mecklenburg. Natascha überlässt es den Neuankömmlingen und hilft ihnen, sich einzuleben. Das funktioniert aber nicht so, wie sie sich das vorstellte. Am See kommt es zu Schwierigkeiten, Bewohner des nahegelegenen Dorfes glauben, dass es sich beim Familienvater Farhi um einen desertierten Offizier der Armee des Diktators Assad handelt; irgendwer hat das Gerücht in Umlauf gebracht. Eine Gruppe von Jugendlichen kommt wiederholt dem Haus bedrohlich nahe, die Farhis reagieren verängstigt auf die dunklen Gestalten, die um das Grundstück schleichen. Atmosphärisch baut sich etwas auf, das zur fatalen Kettenreaktion führen könnte.

Die Schwierigkeiten nimmt Natascha als Herausforderung an. Sie stellt sich schützend vor die Familie, lockt Vater Farhi in ein Schreibprojekt. Als es später zu einer gemeinsamen Lesung mit dem geflüchteten Mann kommt, geht das schief. Nataschas humanitärer Furor und ihre überbordende Empathie nimmt die Farhis regelrecht gefangen. Das Unbehagen der Familie will das „blonde Monster der Moral“ (Richard) wegreden, ihre Scham nicht akzeptieren. Als die Familie zum Christentum übertreten will, empfindet Natascha das als einen Verrat ihrer Zöglinge, da sie dem Christentum feindlich gegenübersteht.

Noch ein Aufbruch vor dem Altwerden

Richard flüchtet sich nach einer Tagung in New York nach Kanada. Er zweifelt an der Politik, an Natascha, an der einstigen Liebe. Vor Beginn des Altwerdens sucht er noch mal einen Aufbruch. Bei dem Aufenthalt in Übersee lässt sich Richard mit einer ehemaligen Studentin ein, der jüdischen Mexikanerin Idea, die aber keine Trösterin ist, sondern ihn vielmehr spöttisch triezt mit seiner Unsicherheit, was zu tun sei. Richard zieht sich in sich zurück, hasenfüßig entflieht er der Konfrontation. Er ist ein Feigling.

Doppelmoral wird bloßgestellt

Gstrein ist es gelungen, die schwierige Gemengelage am Beispiel dieser Ehe so zu beschreiben, dass die Leser sich in die Frau und in den Mann hineinversetzen können. Was die „kommenden Jahre“ bringen werden, lässt er offen. Gstrein hat für seine Geschichte auch eine wunderbare eigene Sprache gefunden, mit der er die Doppelmoral einer von der Flüchtlingskrise überraschten Gesellschaft bloßstellt und zugleich seine Figuren auf der Suche darstellt.

Norbert Gstrein: „Die kommenden Jahre.“ Hanser, München, 287 S., 22 Euro.

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