Vielleicht ist Nelly gar nicht tot

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Nina Bußmann irritiert ihre Leser mit dem komplexen Roman „Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen“. Der Roman hat keinen logischen Handlungsstrang, sondern fließende Gedanken in Fülle. Das ist lesenswert.

Von unserem Korrespondenten Roland Mischke

Nelly ist verschwunden. Scheinbar spurlos, aber jeder Mensch hinterlässt Spuren. Ihre Freundin, die Erzählerin, macht sich auf den Weg, um Nelly zu finden. Die Suche führt zunächst zum „Isthmus von Zentralamerika, im Süden Nicaraguas“. Hier ist Nelly, die Seismologin, mit einem Ingenieur in einer Cessna zu einem Flug in die Karibik aufgebrochen. Und nicht zurückgekommen.

Gab es ein Unglück? War der Ingenieur ein Liebhaber? Oder ein Mörder? Aber vielleicht ist Nelly gar nicht tot? Vielleicht hat sie sich nur versteckt? Aber warum? Wollte sie die Abkehr von der Welt? Die Anonymität?

Faszination der Flucht

Das ist ein Buch für Literatur-Fans, die sich gern hineinziehen lassen in die Bewusstseinsströme fremder Personen. Der Roman von Nina Bußmann, 1980 geboren, ist klug und komplex gebaut, er erzählt von einer offenkundig Geflüchteten – und im Laufe der Erzählung wird immer klarer, dass die Erzählerin auch eine Geflüchtete ist. Es könnte sogar gut sein, dass sich Leserinnen und Leser bei der Lektüre auch wie auf der Flucht fühlen. Und das hat eine ganz eigene Faszination.

Nelly und die Ich-Erzählerin waren zuletzt nur sporadisch befreundet. Nicht immer hatte man sich viel zu sagen. Nun ist die Erzählerin in Nellys Zimmer in einer öden Gegend Lateinamerikas. Sie übernimmt es von der Vermieterin, stöbert in Nellys Feldforschungsnotizen herum, wird aber nicht schlau daraus. Sie spricht auch mit Leuten in der „dösenden Kleinstadt“ San Dionisio in Nicaragua, „zwischen Kaffeeplantagen und erodierenden Hügeln, in keinem unserer Reisehandbücher verzeichnet“. Aber sie kommt einfach nicht weiter.

Falsche Fährte

Nina Bußmann hat ihre namenlose Erzählerin auf eine falsche Fährte geführt. Die hat in Frankfurt Sozialwissenschaften studiert und plant eine akademische Karriere. Nellys Abgang wirft sie aus der Bahn. Der Roman hat keinen logischen Handlungsstrang, sondern fließende Gedanken in Fülle.

Die Recherchen der Ich-Erzählerin führen zu keinem Ergebnis. Deshalb verrennt sie sich in Mutmaßungen und Abwägungen, die letztlich erst recht kein Ergebnis zustande bringen. Sie begreift: „Viel zu leicht verlor ich mich in nebensächlichen Details, ich interessierte mich für dunkle Taten, aber nicht für die Aufklärung ihrer Motive, die zwingend und eindeutig zu einer ganz bestimmten Handlung führten.“

Die Erzählerin rutscht in die Krise, sowohl in ihrem Privatleben als auch in den beruflichen Ambitionen. Alles ist fragil, unsicher, prekär. Die Abenteuerreise wird zur Offenbarung, die Welt erscheint als feindlich und schwer zu ertragen. Es gibt keine endgültige Erkenntnis, die hilft, rettet und alles doch noch zum Guten wendet. In Wahrheit, versteht die Erzählerin, weiß sie nicht viel von Nelly. Dazu kommt das Gefühl der Fremde, der Einsamkeit, aber auch das tröstende „Zuckerbunt der Häuserfassaden“, die Zuwendung der Zimmerwirtin Esperanza. Die Leser denken längst mit. Bangen, Hoffen.

Auf der Spur von Camus

Hier haben wir es mit einem Roman zu tun, der die Frage nach der Sinnsuche stellt, ohne sie so zu benennen. Nina Bußmann ist eine Art Nachfolgerin von Albert Camus oder Joseph Conrad, zwei Schriftstellern auf moralischen Irrfahrten, auf denen sie das Existenzielle zu finden hoffen. Das, was sie angeht, bewegt und umtreibt.

Einfache Antworten sind unmöglich, Lösungen gibt es nicht, das Erzählte bleibt vage und die Vergangenheit – hier Nellys Leben – wird reflektiert. „Die Erde wird nicht verschwinden. Ich hörte es Nelly noch sagen“, erinnert sich die Erzählerin. Wenn die Erde nicht verschwindet, verschwinden auch nicht die Menschen darauf. Warum also ist Nelly verschwunden? „Wer verschwindet, will gesucht werden.“

Nina Bußmann: „Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen“, Suhrkamp-Verlag, Berlin, 329 S., 22 Euro