Damals: Die Armee verlässt Luxemburg

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Am 4. Dezember 1940, wenige Monate nach der Okkupation durch die Nazis, verließ die Freiwilligen-Kompagnie, eigentlich die damalige Luxemburger Armee, das Land, um an einer Weiterbildung in Weimar (Deutschland) teilzunehmen. 14 von ihnen waren drei Jahre später an Massenexutionen von Juden in Polen verstrickt." Zum Artikel

Von Mil Lorang

„Vom frühen Morgen bis zum späten Nachmittag schossen an beiden Tagen zum Teil volltrunkene Männer stundenlang auf entkleidete Menschen, Männer, Frauen und Kinder. Dazu dröhnte bei voller Lautstärke Marsch- und Schlagermusik.“

In Lublin (KZ Majdanek) und in den Zwangsarbeitslagern Trawniki und Poniatowa, ebenfalls im ehemaligen Distrikt Lublin gelegen, wurden am 3. und 4. November 1943 mindestens 40.000 jüdische Menschen erschossen. Dies war die größte Massenerschießungs-Einzelaktion des Zweiten Weltkriegs. Die deutsche Polizeiführung nannte sie zynisch „Aktion Erntefest“. Sie schloss die „Aktion Reinhard“ ab, d.h. die Vernichtung von 3 Millionen polnischen Juden in dem Teil Polens, der unter deutscher Besatzung „Generalgouvernement“ genannt wurde. 2.000-3.000 deutsche Polizisten und Waffen-SS(2) waren bei der „Aktion Erntefest“ im Einsatz, darunter auch einige Luxemburger.

Einer der Luxemburger Beteiligten, Jean Heinen, beschrieb das Massaker von Poniatowa vom 4.11.1943, wo mindestens 15.000 Juden erschossen wurden, 53 Jahre nach den Ereignissen in einem Interview mit Victor Weitzel(3) folgendermaßen (aus dem Luxemburgischen übersetzt):

„Und am zweiten Tag, … da haben wir das Lager abgesperrt. Und da war vor dem Lager ein großer, breiter, tiefer und langer Graben ausgehoben. Da kamen nackte Männer und Frauen herausgelaufen – die Frauen kamen gelaufen und hielten ihre Brüste mit den Händen bedeckt, weil sie noch einen Ehrbegriff besaßen, auch wenn sie nur noch eine Minute zu leben hatten – und das habe ich gesehen, ich stand da, eine Viertelstunde, 20 Minuten, um zuzusehen. Und oben am Grabenrand, da standen drei Polizisten, oder sechs, drei haben geschossen, und drei haben sich ausgeruht, und ich glaube, dass diejenigen, die sich ausruhten, die Magazine nachgefüllt haben – ich nehme an, es wurde mit Pistolen geschossen, aber kein gezielter Schuss, der Graben war zu groß – wie kann man in einer solchen Lage einen gezielten Schuss abfeuern? Für mich ging das so: Da waren viele, die nicht tot waren, die waren nicht tot, die waren nur verwundet, vielleicht schwer. Und die anderen sind auf sie getreten. Als ich kam, hatten sie bereits mehr als eine Stunde geschossen. Da lagen bereits mehrere Schichten im Graben. Und die, die danach kamen, sind auf die vorherigen draufgetreten und gingen weiter nach vorne. Wenn da einige nicht tot waren, dann wurden sie zu Tode getreten oder sind erstickt. Für mich konnten sie nicht alle tot gewesen sein.“

Im Bataillon soll am Ende des zweiten Erschießungstages Heinen zufolge die Rede von 40.000 Ermordeten gewesen sein. Der SS- und Polizeiführer Lublin, Jakob Sporrenberg, nannte die Zahl 42.000. Möglicherweise sind hier noch die ermordeten Juden anderer, kleinerer Lager in der Umgebung einbezogen worden.(4)

Wie kam es dazu, dass Luxemburger in deutscher Polizeiuniform an dieser Massenmordaktion beteiligt waren und vorher an vielen anderen „kleineren“ sog. Judenaktionen? Um dies zu verstehen, müssen wir das Rad der Geschichte um drei Jahre zurückdrehen.

Die Freiwilligenkompanie

10. Mai 1940: Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in Luxemburg. Wegen seines Neutralitätsstatus verfügte der Staat Luxemburg seit 1881 nicht über eine „normale“ Armee, sondern lediglich über eine sogenannte Freiwilligenkompanie (FK).

Die Hauptaufgabe der FK war „die Ausbildung der Freiwilligen für die Gendarmerie-, Polizei-, Zoll-, Forst- und Gefängnisverwaltung sowie andere Verwaltungszweige im Staate.“(5) Am Tag des deutschen Überfalls hatte die FK auf dem Papier eine Stärke von 425 Soldaten. Dazu kamen noch ein Offizierskorps und eine Musikkapelle von 45 Musikern. Chef der Kompanie war Capitaine Aloyse Jacoby, der bereits am nächsten Tag die Aufgabe übernahm, sich um die Luxemburger Evakuierten im Kriegsgebiet zu kümmern. Am 11.5.1940 wurde Oberleutnant Jean Brasseur „bis auf weiteres“ mit der Führung der FK betraut.(6)

Die militärische Besatzungsmacht pflegte einen einigermaßen zivilisierten Umgang mit der FK. Dies sollte sich ändern, als im August 1940 die Militärverwaltung durch eine Zivilverwaltung unter Führung von Gauleiter Simon ersetzt wurde. „Unter Androhung der schlimmsten Vergeltungsmaßnahmen im Falle von Widerstand wurde durch einseitige Erklärung von Gauleiter Simon die Freiwilligen-Kompanie am 14. August von der ‚deutschen Schutzpolizei‘ übernommen.“(7)

Himmler beeindruckt

Am 8.9.1940 besuchte „Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei“ Heinrich Himmler Luxemburg. Er sprach anschließend „dem stellv. Kompaniechef der Luxemburger Freiwilligenkompanie, Oberleutnant Brasseur, seine Anerkennung für die gute Haltung und Disziplin der Kompanie aus. Er erwarte, dass die Freiwilligenkompanie als Ersatz für die deutsche Polizei voll ihre Pflicht tun würde.“(8)

Dies wurde den Luxemburger Soldaten von Anfang an versprochen: Sie sollten nach einer fünfmonatigen Umschulung in Deutschland in Luxemburg polizeilichen Dienst in deutscher Uniform leisten. Himmler wollte auch „einen Teil der ihm so gut gefallenden Formation zur schönen Karriere in der SS heranziehen“.(9)

Am 28.9.1940 musste Brasseur dem Gauleiter den geschlossenen Eintritt der FK in die luxemburgische Nazi-Organisation „Volksdeutsche Bewegung (VdB)“ melden.(10)
Am 30.10.1940 wurde Brasseur dazu aufgefordert, 50 zusätzliche Männer zu rekrutieren, da das Kontingent weit unter die gesetzlich vorgesehene Gesamtzahl von 425 gefallen war. Daraufhin wurden die Vorkriegskandidaten kontaktiert und für den 1.11.1940 bestellt. Knapp mehr als 60 Männer folgten der Aufforderung und von diesen wurden schließlich 51 einberufen. Die anderen zogen ihre Kandidatur zurück, nachdem Brasseur ihnen die Bedingungen unterbreitet hatte, d.h.: 1. sie mussten in die VdB eintreten und 2. mussten sie sich verpflichten, in der deutschen Polizei zu dienen.(11)

Auf die 51 neuen Rekruten „wurde absolut kein Druck ausgeübt. Es war ihr freier Wille, selbst zu entscheiden.“(12) Die Namen waren der deutschen Verwaltung nicht bekannt und es wurde den Kandidaten versichert, dass wenn sie ihre Kandidatur zurückziehen würden(13), ihre Anträge zerstört werden würden. Trotz dieser Zusicherungen entschieden sich 51 junge Männer freiwillig für die deutsche Polizeiuniform, was natürlich Fragen aufwirft, besonders weil sie, genauso wie alle anderen Mitglieder der FK, im Nachhinein als „Zwangsrekrutierte“, also als „Opfer des Nationalsozialismus“, betrachtet wurden.

Bahnhof Luxemburg: Abreise der Freiwilligenkompanie am 4. Dezember 1940                                              Pierre Bertogne (Phototèque de la Ville de Luxembourg)

Auf nach Weimar

So wie andere Kategorien von Beamten des öffentlichen Dienstes – Lehrer, Gendarmen, Richter usw. – mussten auch die Luxemburger Soldaten zur Umschulung nach Deutschland fahren. Sie sollten zu reichsdeutschen Schutzpolizisten ausgebildet werden.

Am 4.12.1940 wurde die FK, also die Luxemburger Armee, geschlossen per Bahn zu einer fünfmonatigen Ausbildung nach Weimar transportiert. Insgesamt waren es 459 Mann: die drei Offiziere Brasseur, Donckel und Melchers, der Musikchef Thorn, 43 Militärmusiker sowie 412 Unteroffiziere, Korporäle und Soldaten.(14)

Das Korps wurde feierlich von der Besatzungsmacht auf dem Bahnhof Luxemburg verabschiedet. Es sollte der letzte öffentliche Auftritt der FK in Luxemburg sein. Eine im Jahre 1881 geschaffene luxemburgische Institution war von den Deutschen de facto aufgelöst und für andere Zwecke vereinnahmt worden.

Am 9.12.1940 stießen in Weimar noch die zwei Offiziersanwärter Heldenstein und Mayer, die bereits am 10.10.1940 nach Berlin-Köpenick zur Offiziersausbildung gefahren waren, dazu, sodass sich im ersten Halbjahr 1941 insgesamt 461 Luxemburger in Weimar in polizeilicher Ausbildung befanden.(15) Den Männern wurde in Aussicht gestellt, dass sie mit einer Rückkehr nach Luxemburg für Juni/Juli 1941 rechnen könnten.(16) Es sollte allerdings anders kommen.

Gebrochenes Versprechen

Gegen Ende der Umschulung kam ein Schnellbrief von Himmler in Weimar an, der anordnete, die Ausbildung der Luxemburger am 21.5.1941 abzuschließen und sie auf verschiedene Standorte in Deutschland, Luxemburg und Frankreich zu verteilen. Es war u.a. in diesem Plan vorgesehen, dass eine 115 Mann starke Kompanie des „Polizei-Ausbildungsbataillons (L)“ der deutschen Polizeiverwaltung in Luxemburg zugeteilt werden sollte.(17)

Bereits am 3.3.1941 waren 27 Mann nach Hamburg-Langenhorn zur Ersatzformation der SS-Standarte „Germania“ von Weimar verabschiedet worden. Von diesen sollen 25 willkürlich in die Waffen-SS „gepresst“ worden sein.(18) Schon am 4.4.1941 wurden die 27 dem SS-Regiment „Westland“ in Klagenfurt zwecks Vorbereitung „auf den kommenden Krieg mit Russland“ angegliedert.(19) Von den 27 Luxemburgern kamen 18 zu Beginn des Russlandfeldzuges an die Front. Zehn von ihnen ließen dort in SS-Uniform ihr Leben.
Am 23.5.1941 wurden vier Gruppen à 25 Mann in vier verschiedene deutsche Städte entsandt. Für die Übrigen begann nun eine schmerzliche Wartezeit, die am 7.6.1941 durch einen neuen Brief Himmlers beendet werden sollte.

Weimar – Köln –  Slowenien

Für die Zwecke dieses Artikels soll der Fokus auf die 115 Männer, die für die Polizeiverwaltung Luxemburg vorgesehen waren, gerichtet werden, um anschließend den Weg von 15 von ihnen noch näher zu betrachten. Diese Kompanie ist am 9.6.1940 zwecks weiterer Ausbildung nach Köln abkommandiert worden, wo noch im gleichen Sommer vier Luxemburger desertierten und die Kompanie vom einzigen luxemburgischen Offizier getrennt wurde.

4.12.1940: Luxemburger Soldat nimmt Abschied vor seiner Reise ins Ungewisse
Tony Krier (Phototèque de la Ville de Luxembourg)

Die 110 Übriggebliebenen wurden Mitte Oktober nach Jugoslawien (Skofja-Loka) zum Partisaneneinsatz abkommandiert. Sie wurden als 5. Kompanie dem österreichischen Polizeibataillon 181 zugeteilt. Der Historiker Stefan Klemp, der sich eingehend mit der Freiwilligenkompanie befasst hat, schreibt dazu: „Am 31. Oktober 1941 kamen fünf Bataillonsangehörige – davon vier Luxemburger – bei einem Partisaneneinsatz in St. Oswald ums Leben. Nach einer offenen Meuterei wurden 27 Luxemburger am 2. Januar 1942 verhaftet und zunächst im Polizeigefängnis Graz inhaftiert. Später wurden sie in die Konzentrationslager Buchenwald, Sachsenhausen, Neuengamme, Natzweiler, Majdanek und Auschwitz eingeliefert.“(20)

Das Ende des Jugoslawien-Einsatzes nahte. „Wegen dauernden Widerstandes gegen die erlassenen Befehle und wegen Unzuverlässigkeit wurde die 5. Kompanie aus Jugoslawien abgezogen und nach Innsbruck verlegt.“(21) Zu diesem Zeitpunkt blieben von den 115 nur noch 77 Mann übrig. Diese sollten nun auf den Führer vereidigt werden. 17 von ihnen verweigerten den Eid und wurden am 23.3.1942 „verhaftet und ins Gefängnis von Innsbruck eingeliefert. Zwei Tage später erfolgte ihr Abtransport ins Konzentrationslager Dachau.“(22) „Am 15. Mai 1942 erfolgte dann die Vereidigung der 60 Übriggebliebenen auf Hitler“, schreibt der Historiker Paul Dostert.(23)

Innsbruck – Hamburg – Polen

Am 2.6.1942 wurde die 5. Kompanie des Bt. 181 aufgelöst und die 60 Übriggebliebenen wurden auf vier Standorte in Deutschland verteilt: 14 Mann kamen nach Essen, 15 nach Kiel, 16 nach Köln und 15 kamen zur 1. Kompanie des Reserve-Polizeibataillons 101 (RPB 101) nach Hamburg.(24)

Mit diesen 15 – De Waha Joseph, Engel Albert, Ewert Emile, Feipel René, Heinen Jean, Kalmes Jean-Pierre, Konsbruck Emile, Léon Aloyse, Schmit René, Schumacher Nicolas, Speller Marcel, Weber Jean, Weis Pierre, Wietor Roger und Zimmer Albert(25) – will sich dieser Beitrag jetzt näher beschäftigen. Fünf von ihnen waren erst im November 1940, also unter deutscher Besatzung, in die FK rekrutiert worden.

4.12.1940: Die Luxemburger Soldaten werden von der NS-Besatzungsmacht verabschiedet.
Tony Krier (Photothèque de la Ville de Luxembourg)

In Band 2 des Standardwerkes „Freiwëllegekompanie 1940-1945“ schreibt Heinen: „Die Gruppe, der ich angehörte, wurde nach Hamburg verlegt. (…) Diese Gruppe sollte in Hamburg Revierdienst verrichten. (…) Noch vor unserer dortigen Ankunft am 2. Juni 1942 wurden geheime Vorbereitungen für den Einsatz eines Polizei-Bataillons in Polen getroffen.“(26)

Auch Wietor berichtet über diese Zeit: „Nach einem 14-tägigen Aufenthalt in Hamburg wurde uns mitgeteilt, dass wir mit einem deutschen Polizeibataillon nach Polen zum Partisaneneinsatz verlegt würden. (…) In Polen wurden wir zu verschiedenen Diensten herangezogen, unter anderem auch zum Partisaneneinsatz.“(27) Beide betonen, dass die Luxemburger in Hamburg gegen ihren Poleneinsatz vergeblich protestiert hätten. Heinen erwähnt noch, dass Léon Aloyse krankheitshalber in Hamburg zurückblieb.

Nach Polen zum Partisaneneinsatz?

Die anderen 14 Luxemburger wurden zusammen mit dem insgesamt ca. 500 Mann starken Reserve-Polizeibataillon 101 der Ordnungspolizei am Sonntag, den 21.6.1942 nach Zamosc, Distrikt Lublin, ins besetzte Polen transportiert. Die Luxemburger waren die jüngsten des Bataillons mit einem Durchschnittsalter von 22 Jahren, während das Durchschnittsalter der Mannschaften insgesamt zu dem Zeitpunkt bei 39 Jahren lag.(28)

Was waren die Aufgaben des RPB 101 in Polen? Heinen schreibt dazu: „Das Bataillon sollte ursprünglich nur zum Schutz der Ernte, deren Vernichtung durch Partisanen befürchtet wurde, eingesetzt werden. In Wirklichkeit aber sollte es bis Kriegsende nicht mehr nach Deutschland zurückkehren. Es befand sich ständig im östlichen Partisaneneinsatz bis zu seinem Einsatz an der russischen Front im Januar 1945, wo es größtenteils aufgerieben wurde.“(29)

Diese Aussagen Heinens sind falsch. Das Bataillon befand sich nicht im ständigen Partisaneneinsatz und es wurde auch nicht „größtenteils aufgerieben“. Das Bataillon wurde zunächst im Rahmen der „Aktion Reinhard“ zu einem Instrument der Vernichtung der polnischen Juden im Generalgouvernement, Distrikt Lublin. Dieser Distrikt war das Zentrum der Judenvernichtung im Generalgouvernement. Allein auf diesem Gebiet existierten drei Vernichtungslager: Belzec, Sobibor und Majdanek, das ebenfalls als Konzentrations- und Zwangsarbeitslager diente, sowie unzählige Ghettos und Arbeitslager.

Der Begriff „Partisanenbekämpfung“, den die Luxemburger, die sich über diese Zeit äußerten, ständig im Mund führten, wurde von der deutschen Polizei und von der Wehrmacht im Osten oft als Tarnbegriff benutzt für „Vernichtungsaktionen gegen Juden“ oder wenn es sich um die „Ermordung der nichtjüdischen Bevölkerung Polens und der Sowjetunion“ handelte.(30) Im Rahmen der Nachkriegsermittlungen gegen ehemalige Angehörige des RPB 101 bezweifelten sogar Vernommene „die Plausibilität des Stereotyps vom ‚Partisanen‘. Im Januar 1963 bekannte der später Angeklagte Bockelmann, dass während der Einsätze gegen ‚Banden und Partisanen‘ alle angetroffenen Juden erschossen worden seien.“(31)

„Ganz normale Männer“ versus „willige Vollstrecker“

Obschon die Ordnungspolizei eine wichtige Unterstützungsinstitution der SS und des Sicherheitsdienstes (SD) in der Ermordung der europäischen Juden war und viele verschiedene Bataillone und Kompanien an Massakern beteiligt waren(32), bzw. sie selbst verübten, ist wohl kein Bataillon bekannter als das Reserve-Polizeibataillon 101.

Dies ist dem Umstand zu verdanken, dass der Historiker Christopher Browning im Jahre 1992 eine Studie über das RPB 101 unter dem Titel „Ordinary Men: Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland“ veröffentlichte. Das Buch erschien 1993 in deutscher Sprache im Rowohlt Verlag unter dem Titel: „Ganz normale Männer: Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die Endlösung in Polen“.

Am 17.8.1942 wurde vom RPB 101 in Lomazy, Polen, ein Massaker an mindestens 1.700 Juden verübt. Die Menschen wurden auf dem Sportplatz versammelt. Jüdische Männer mussten im Wald ein Massengrab ausheben. Nach stundenlangem Warten wurden die Todeskandidaten in den Wald getrieben, mussten sich dort ausziehen und wurden erschossen.
U.S. Holocaust Memorial Museum / StA.b.LGerHamburg

Browning wollte mit seinem Buch beweisen, dass unter bestimmten Umständen ganz normale Männer zu Massenmördern werden können. Er griff dabei auf die Prozessakten des Hamburger Ermittlungsverfahrens gegen ehemalige Angehörige des RPB 101 zurück, im Rahmen dessen zwischen Ende 1962 und Anfang 1967 insgesamt 210 ehemalige Bataillonsangehörige verhört wurden. Dass 22 Jahre nach Kriegsende noch fast die Hälfte der Angehörigen des Bataillons am Leben waren, widerlegt eindeutig Heinens Behauptung, das Bataillon sei „größtenteils aufgerieben“ worden.

Brownings Studie basierte weitgehend auf 125 Vernehmungsprotokollen, die es ihm erlaubten, eine „detaillierte Darstellung und Analyse der inneren Dynamik dieser Mordtruppe“ aufzuzeichnen.(33) Was ihm die Rekonstruktion der Verwicklung des RPB 101 in der Judenvernichtung im besetzten Polen zudem erleichterte, war die Tatsache, dass der Dienstplan dieses Bataillons erhalten geblieben war.

Browning errechnete, dass das RPB 101 direkt oder indirekt an der Erschießung von mindestens 38.000 Juden beteiligt gewesen war und an der Deportation von mindestens 45.200 Juden aus verschiedenen Ghettos ins Vernichtungslager Treblinka, wo die Opfer sofort vergast wurden.(34)

Brownings Studie rief einen anderen Holocaustforscher auf den Plan, der die These von den „ganz normalen Männern, die unter bestimmten Umständen zu Massenmördern werden können“ widerlegen wollte und sich deshalb mit den gleichen Unterlagen befasste wie Browning. Es handelt sich um Daniel Goldhagen, der 1996 mit seinem Buch „Hitler’s willing executioners“ beweisen wollte, dass den Deutschen ein „eliminatorischer Antisemitismus“ quasi in die Wiege gelegt war und dass hier die Erklärung für den Völkermord an den europäischen Juden zu suchen sei.

„Killer des Polizeibataillons 101“?

Dies führte zu einem Historikerstreit, den Paul Dostert zusammenfasst: „… in der deutschen Presse entbrannte ein wissenschaftlicher Streit um den Begriff des ,eliminatorischen’ Antisemitismus“, der den Deutschen und nur ihnen eigen sei, als Erklärung für die Bereitschaft ,ganz gewöhnlicher Männer’, jüdische Zivilisten, Frauen, Kinder und alte Menschen zu erschießen. In dieser Debatte verwies Professor Browning auf das Beispiel der 14 Luxemburger im Reserve-Polizei-Bataillon 101, um zu zeigen, dass die vereinfachende Erklärung Goldhagens der Wirklichkeit nicht gerecht würde.“(35)

Nun war die Katze aus dem Sack. Der Spiegel-Journalist Fritjof Meyer griff in einem Artikel vom 20.5.1996 Brownings Punkt über die Luxemburger auf und schrieb: „Goldhagens Behauptung, massenhafter Judenmord sei eine deutsche Besonderheit gewesen, jeder anderen Nation fremd, wird von seinem US-Kollegen Browning zurückgewiesen: Zu den Killern des Polizeibataillons 101 gehörte ein Dutzend eingezogener Luxemburger, die nicht durch acht Jahre NS-Indoktrination gegangen waren und sich auch nicht, wie von Goldhagen für die Deutschen behauptet, seit Jahrhunderten auf ,eliminierenden Antisemitismus’ hatten dressieren lassen.“(36)

Hamburg am 21.6.1942: 14 Luxemburger fahren mit dem Reserve-Polizeibataillon 101 nach Polen. Dieses Bataillon war im besetzten Polen fortlaufend an der Ermordung und Deportation von Juden beteiligt. Collection privée

Dies führte dann in Luxemburg zu einer kurzen, aber heftigen Reaktion in der Presse. Im Tageblatt erschien ein Artikel von Lucien Blau am 8./9. Juni 1996 unter dem Titel „Ein Beispiel unbewältigter Geschichte“, in dem der Autor von einem „großen Unbehagen spricht“.

Daraufhin veröffentlichte Heinen im August 1996 einen vierteiligen Leserbrief im Luxemburger Wort unter dem Titel „Die Luxemburger im Reserve-Polizeibataillon 101“ (3.8., 7.8., 10.8. und 14.8.1996). In diesem „Rechtfertigungsschreiben“ weist der Autor jede Beteiligung der Luxemburger an den Erschießungen weit von sich.(37)

Paul Dostert recherchierte nun seinerseits bei der Staatsanwaltschaft in Hamburg im Auftrag des Justizministers zu den Luxemburgern im RPB 101. Er bekam Einsicht in die Untersuchungsunterlagen, die in Hamburg zusammengetragen worden waren, aber nur zu einem Prozess geführt hatten. Neben seinem Bericht an den Justizminister veröffentlichte er im Jahre 2000 eine historische Studie in der „Hémecht“. Der Autor stellt fest: „Mehr als fünfzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist nun klar, dass auch Luxemburger in den Massenmord an den Juden verstrickt waren.“ Und weiter: „Mehr als fünfzig Jahre lang haben diese (Mit-) Täter geschwiegen und damit verschwiegen, was sie gesehen hatten und woran sie beteiligt waren.“(38)

Wenn man unter Wölfen ist …

Im Weitzel-Interview (s. Anm. 3) gibt Heinen zu, dass die Luxemburger an „einigen“ Judenaktionen beteiligt waren, insbesondere der größten, der sogenannten „Aktion Erntefest“ (s. Anfang des Beitrags). Er ist übrigens der einzige, der diesen Schritt tat und wurde nach eigenen Aussagen von seinen damals noch lebenden Kameraden dafür gerügt. Trotzdem stritt er bis zuletzt ab, dass Luxemburger Juden getötet hätten, was von deutschen Zeugen im Rahmen des Hamburger Ermittlungsverfahrens widerlegt wurde.(39)

Drei Luxemburger haben sogar einem ihrer ehemaligen Vorgesetzten, der nachweislich mit seiner Gruppe in Massaker und in sogenannte „Judenjagden“ verwickelt gewesen war, im Rahmen eines Folgeverfahrens Anfang der 1970er Jahre ein Entlastungsschreiben ausgestellt. Der Deutsche hatte in einem ersten Verhör 1964 seine Beteiligung an bestimmten Aktionen zugegeben, diese Aussage dann aber mehrere Jahre später widerrufen. Browning schreibt, dass sich die Luxemburger mit dem Entlastungsschreiben selbst entlastet hätten.(40)

Nach den Massakern und Deportationen vom Sommer 1942 fing das Bataillon im Herbst damit an, unter dem Deckmantel der „Partisanenbekämpfung“ sogenannte „Judenjagden“ zu organisieren. Es galt die allgemeine Regel im Generalgouvernement, dass Juden, die sich außerhalb der Ghettos oder Lager aufhielten und keine Arbeitsgenehmigung bei sich trugen, sofort zu erschießen seien.

Vor dem Lomazy-Massaker am 17.8.1942: Jüdische Männer müssen ein Massengrab ausheben                        U.S. Holocaust memorial Museum / StA.n.LGerHamburg

Dazu Dostert: „In der Folgezeit ging das Bataillon dazu über, Juden in den Wäldern aufzuspüren und zu erschießen … An dieses Vorgehen wollte sich keiner der überlebenden Luxemburger erinnern. Sie sprachen nur von ‚Streifengängen‘ mit Fahrrädern, auf denen ‚Verdächtige‘ und ‚Partisanen‘ bekämpft werden sollten.“(41) Ein deutscher Zeuge sagte allerdings 1969 aus, dass über die Streifengänge, bei denen nach versteckt lebenden Juden gefahndet wurde, „vornehmlich die jungen Luxemburger unserer Kompanie“ sprachen.(42)

Obwohl Heinen im Weitzel-Interview eine Direktbeteiligung der Luxemburger an Erschießungen abstritt, gab er zu, dass sie sich „unter Wölfen“ befanden, „und wenn man unter Wölfen ist, muss man auch mit ihnen heulen“, so Heinen. Hypothetisch sagte er noch, wenn er zum Erschießen von Juden aufgefordert worden wäre, hätte er dies natürlich getan, ansonsten er seinen eigenen Kopf riskiert hätte.

Auch dies ist eine eindeutige Lüge, da niemand im RPB 101 gezwungen wurde, Juden zu erschießen. Wenn man dies nicht tun konnte, bekam man andere Aufgaben. Bereits vor der ersten Mordaktion in Jozefow, wo am 13.7.1942 vom RPB 101 mindestens 1.500 Juden erschossen wurden, hatte der Bataillons-Kommandeur Trapp das Angebot gemacht, wer der Aufgabe nicht gewachsen sei, der solle zur Seite treten. Das hätten dann Browning zufolge sofort zwölf ältere Polizisten getan. Im Laufe des Tages seien noch mehr dazugekommen. Browning geht davon aus, dass sich insgesamt im Laufe der Zeit 10-20% der eingeteilten Schützen von der Beteiligung an Massakern freistellen ließen.(43)

Ein Luxemburger erschoss eine hochschwangere Frau

Einen Beweis, wie in der Praxis diese Form der Befehlsverweigerung ohne Folgen für den Betroffenen funktionierte, liefert Dostert. Im Januar 1943 wurde auf einem Bauernhof von der oben erwähnten Gruppe der 1. Kompanie, die in Kock stationiert war und in der sieben Luxemburger dienten(44), ein Judenversteck entdeckt. Nach einer Schießerei, bei der 12 bis 15 Juden erschossen oder schwer verwundet wurden, sind vier oder fünf unverletzt festgenommen worden. Sie wurden „verhört“ und anschließend erschossen.(45)

Der nächste Abschnitt ist integral von Paul Dostert:

„Dann machte man sich daran, die polnische Bäuerin zu suchen, welcher der Hof gehörte und der es gelungen war zu flüchten. Drei Tage später, am Mittwoch, dem 13. Januar, fand man sie in einem nahe gelegenen Dorf im Hause ihrer Eltern. Leutnant Boysen stellte den Vater vor die Alternative: entweder sein Leben oder das seiner Tochter. Der Mann lieferte seine Tochter aus. Leutnant Boysen gab nun einem Soldaten (Anm. d. Red.: müsste wahrscheinlich heißen „Polizisten“) den Befehl, die Bäuerin zu erschießen. Dieser lehnte dies ab, da die Frau hochschwanger sei. Daraufhin befahl Boysen dem Luxemburger Q.S., die Bäuerin zu erschießen. Q.S. führte den Befehl aus.“(46)

Dostert zitiert einen anderen Vorfall, wo Polizisten des RPB 101 auf freiem Feld unter Beschuss gerieten. Angeblich sollen einem Zeugen zufolge sogenannte Partisanen auf Bäumen gesessen haben. „Wie ich später erfuhr“, sagte dieser aus, „soll ein Luxemburger … eine Jüdin vom Baum geschossen haben. … Die Jüdin war von dem Luxemburger tödlich getroffen worden.“(47)

Der Sozialpsychologe Harald Welzer hat sich eingehend mit dem Thema Befehlsverweigerung beim Ermorden von Zivilisten während des Zweiten Weltkriegs befasst. Er stellt fest: „Wir wissen inzwischen, dass es nicht einen einzigen nachweisbaren Fall gibt, in dem jemand, der sich der Teilnahme an einer Erschießung verweigert hätte, dafür ernste persönliche Konsequenzen – Versetzung in ein Strafbataillon, Hinrichtung – hätte gewärtigen müssen.“(48)

Kein Risiko eingegangen

Die Luxemburger im RPB 101 haben sich weder gegen die Eingliederung in die deutsche Polizei gewehrt, noch haben sie den Eid auf Hitler abgelehnt oder in irgendeiner Weise Widerstand geleistet, wie so viele ihrer Kameraden aus der Freiwilligenkompanie dies taten und schwer dafür bezahlen mussten. Während der intensiven Phase der Judenmassaker und Deportationen (Juli 1942 bis November 1943) hat keiner von ihnen sich von solchen mörderischen Aktionen freistellen lassen, noch nachweislich versucht, Juden zu retten, noch den Versuch unternommen, zu desertieren.

17.8.1942 in Lomazy, Polen: Jüdische Frauen werden in den Wald zu einer Sammelstelle getrieben. Dort mussten sie sich bis auf das Unterhemd ausziehen, ihre Kleider auf einen Haufen legen, Wertgegenstände abgeben. Anschließend wurden sie erschossen.
U.S. Holocaust memorial Museum / StA.n.LGerHamburg

Angetrieben vom Motiv, kein Risiko einzugehen und gegenüber der Hierarchie gut dazustehen, scheinen die 14 Luxemburger alles mitgemacht und jeden Befehl ausgeführt zu haben, und alle haben, mit Ausnahme von Heinen, bis zu ihrem Lebensende die Mordeinsätze gegen Juden verschwiegen. Einige desertierten erst, als sie an der Front eingesetzt waren und es deutlich wurde, dass Deutschland den Krieg verlieren würde.

Heinen war der einzige, der bis zum Schluss standhaft und loyal für die deutsche Sache kämpfte. Er gab erst auf, als er am 16.1.1945 von einem russischen Soldaten verletzt wurde und in Gefangenschaft geriet. Nicht umsonst bescheinigten sein Kompaniechef Wohlauf und der Bataillons-Kommandeur Trapp in einer Art „Führungszeugnis“ Heinen bereits am 10.10.1942, dass er die Gewähr dafür biete, „auch weiterhin seine Dienstpflicht im nationalsozialistischen Staat zu erfüllen“. Er war aber nicht der einzige, dem diese „Ehre“ zuteil wurde. Dem Verfasser liegen solche Zeugnisse für neun der 14 Luxemburger vor, aber nur bei drei(49) steht dieser vorher zitierte Satz in leicht unterschiedlicher Formulierung.

Diese Dokumente sind öffentlich einsehbar auf der Webseite der Zwangsrekrutiertenföderation(50). Als diese Zeugnisse ausgestellt wurden, hatte das Bataillon bereits Browning zufolge mehr als 4.500 Juden erschossen und mindestens 15.000 aus den Ghettos brutal zusammengetrieben und ins Vernichtungslager Treblinka abtransportiert.(51)

Der Chef des Bataillons war Heinen ganz besonders ans Herz gewachsen. Er nannte ihn im Weitzel-Interview 1996 immer noch liebevoll „Papa Trapp“ und drückte sein Unbehagen darüber aus, dass dieser „gutmütige Mensch“ in Polen zum Tode verurteilt und 1946 gehängt wurde.

Warum wurde nicht ermittelt?

Von den 14 haben fünf das Kriegsende nicht erlebt und sind in deutscher Uniform gefallen. Obwohl das Bataillon, dem sie angehörten, eindeutig an der Judenvernichtung in dem betreffenden Zeitraum „fortlaufend“ teilnahm(52), wurde den gefallenen Luxemburgern des RPB 101 der Ehrentitel „Mort pour la patrie“ verliehen. Ihre Namen stehen sogar auf dem „Tableau d’honneur des morts pour la patrie de la Force Armée“.(53) Es handelt sich dabei um Emile Ewert, René Feipel, René Schmit, Pierre Weis und Albert Zimmer.

Am 6.10.1942 wurden vom RPB 101 Tausende ausgehungerte Juden aus dem Sammelghetto Miedzyrzec Podlaski ins Vernichtungslager Treblinka deportiert. Wer nicht bis zur Bahnstation laufen konnte, wurde an Ort und Stelle erschossen (dies war bei allen Ghettoräumungen und Deportationen der Fall). Als die Viehwaggons voll waren, blieben 150 Personen übrig, hauptsächlich Frauen und Kinder. Diese wurden nun zum Friedhof getrieben und dort mit dem Gesicht zur Erde per Genickschuss exekutiert.
U.S. Holocaust memorial Museum / StA.n.LGerHamburg

Ewert war einer der 51 ehemaligen Angehörigen der FK, die erst am 1.11.1940, also freiwillig, rekrutiert wurden, um in der deutschen Polizei zu dienen. Ausgehend von den vorliegenden „Führungszeugnissen“ bekam er die vorteilhafteste Beurteilung. Dort ist zu lesen: „Seine Leistungen auf allen Gebieten des Dienstes lassen erkennen, dass er bemüht ist, sich für den nationalsozialistischen Staat einzusetzen.“ Bei den fünf oben genannten ist noch einer, der offensichtlich seiner Beurteilung zufolge die Gewähr bot, „sich für den nationalsozialistischen Staat einzusetzen“ und der im Verdacht steht, die hochschwangere polnische Frau erschossen zu haben.

In Luxemburg hat sich niemand für die möglichen Verbrechen dieser Männer interessiert. Auch als diese Tatsachen in den 1990er Jahren an die Öffentlichkeit gelangten, konnte nicht ermittelt werden, weil die Verbrechen verjährt waren. Es gab zwar solche Bestrebungen aufgrund einer Initiative des Journalisten Paul Cerf, aber Staatsanwalt Roby Biever schlussfolgerte, dass die Recherchen von Browning und Dostert angesichts der gesetzlichen Lage keine strafrechtlichen Folgen haben könnten.(54) Luxemburg hat erst 2012 die Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das Verbrechen des Völkermords in sein Strafgesetzbuch eingeschrieben.(55) Diese Straftaten können nach dem internationalen Völkerrecht nicht verjähren.

Am 3.11.1943 wurden alle sog. „Arbeitsjuden“ aus Lublin erschossen, 18.000 Männer, Frauen und ihre Kinder. Auf dem Bild sieht man jüdische Männer auf dem Weg zu ihrer Ermordung. Die Straße von Lublin bis zum KZ Majadanek, über die an diesem Tag mindestens 10.000 Juden marschierten, wurde u.a. von der 1. Kompanie des RPB 101, der zu diesem Zeitpunkt noch 12 Luxemburger angehörten, abgesperrt.
Fotograf unbekannt. In J. Marszalek „Majdanek Konzentrationslager Lublin“ 1982

Nicht nur wurde nicht ermittelt, sondern aus einigen gefallenen Luxemburgern, die in Mordtruppen dienten, wurden Nationalhelden gemacht. So wurden beispielsweise auch sieben ehemalige Angehörige der FK, die an der Ostfront in einer SS-Uniform gefallen sind, vom Staat der Ehrentitel „Mort pour la patrie“ verliehen.(56) Für welche Heimat sind diese Männer gefallen, möchte man fragen, die in der Uniform einer deutschen „verbrecherischen Organisation“(57) starben.

Schluss

Die Luxemburger Freiwilligenkompanie ist ein hervorragendes Beispiel für mutigen Widerstand im Rahmen einer gezwungenen Eingliederung in fremde Streitkräfte. Immerhin kamen 264 Mitglieder der FK „in deutsche Gefängnisse und Konzentrationslager; 48 haben dies nicht überlebt“.(58) Somit ist mehr als die Hälfte der ursprünglichen Luxemburger Soldaten und Offiziere in Konflikt mit der deutschen Hierarchie geraten und musste Strafmaßnahmen wegen Ungehorsams, Sabotage, Befehlsverweigerung und Meuterei über sich ergehen lassen. Vergleichsweise lag diese Quote bei den Zwangsrekrutierten in die Wehrmacht nur bei 20%.(59)

Aber das Schweigen und die bewusste Irreführung jener ehemaligen Angehörigen der FK, die nachweislich in Mordtruppen agierten, werfen lange Schatten über die Darstellung der Kriegsjahre aus luxemburgischer Sicht. Warum durften diese Männer nach dem Krieg unbehelligt ihr Leben führen und zum Teil im Staatsdienst Karriere machen?

Heinen brachte es immerhin bis zum „Commissaire en chef“ bei der „Sûreté“. Es bleiben noch viele offene Fragen, auch zu den Luxemburgern, die in anderen deutschen Einheiten waren beziehungsweise bis zum Schluss in der Wehrmacht(60) dienten. Diese Fragen gilt es in Zukunft wissenschaftlich aufzuarbeiten, damit sich das nationale Narrativ mehr der Wirklichkeit annähern kann.

 


 

Anmerkungen:

(1) S. Klemp, „Aktion Erntefest“: Mit Musik in den Tod, Verlag Villa ten Hompel, Münster, 2013, S. 7. Nach Klemp wurden u.a. folgende Titel gespielt: „Wovon kann der Landser denn schon träumen?“, „Wozu ist die Straße da?“, „Freut Euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht“, „Es geht alles vorüber“.
(2) Klemp, S. 8
(3) Am 13. und 27. September 1996 führte der Publizist Victor Weitzel ein 8-stündiges Interview mit Jean Heinen. Das Interview wurde bis heute nicht veröffentlicht. Victor Weitzel stellte dem Verfasser dieses Beitrags freundlicherweise das Transskript zur Verfügung.
(4) Klemp, S. 12.
(5) Jacoby, Trauffler, Freiwëllegekompanie 1940-1945, Tome II, ISP Luxembourg, 1986, S. 9
(6) Jacoby, Trauffler, Freiwëllegekompanie 1940-1945, Tome I, ISP Luxembourg, 1980, S. 28
(7) Ebd.
(8) Luxemburger Wort, 9.9.1940, Titelseite, http://www.eluxemburgensia.lu
(9) Jacoby, Trauffler, Tome II, S. 60.
(10) Jacoby, Trauffler, Tome I, S. 89
(11) Jacoby, Trauffler, Tome II, S. 60
(12) Ebd., S. 59
(13) Ebd., S. 60
(14) Ebd., S. 14
(15) Ebd.
(16) Jacoby, Trauffler, Tome I, S. 92
(17) Ebd., S. 145
(18) Jacoby, Trauffler, Tome II, S. 337
(19) Jacoby, Trauffler, Tome I, S. 65
(20) S. Klemp, Nicht ermittelt, Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz, Ein Handbuch, 2. Auflage, Klartext Verlag, Essen, 2011, S. 71
(21) Jacoby, Trauffler, Tome II, S. 194
(22) Ebd., S. 195
(23) Dostert, Die Luxemburger im Reserve-Polizei-Bataillon 101 und der Judenmord in Polen, Hémecht, Jg. 52, 2000, Vol. 1, ISP, Luxembourg 2000, S. 86
(24) Jacoby, Trauffler, Tome II, S. 195-196
(25) Ebd., S. 196
(26) J. Heinen, Das Schicksal einer Gruppe, In: Jacoby, Trauffler, Tome II, S. 207-208
(27) R. Wietor, Ich hatte einen Beschützer, In: Jacoby, Trauffler, Tome II, S. 220
(28) C. Browning, Ganz normale Männer: Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Rowohlt, 1996, 7. Aufl. 2013, S. 69
(29) Heinen, In Jacoby, Trauffler, Tome II, S. 208
(30) Klemp, „Aktion Erntefest“, S. 25-26.
(31) J. Kiepe, Das Reservepolizeibataillon 101 vor Gericht, LIT Verlag, Hamburg, 2007, S. 116

(32) Stefan Klemp hat in einer Langzeitstudie errechnet, dass Polizeibataillone insgesamt mehr als 630.000 Zivilisten in Osteuropa ermordet haben. Die große Mehrzahl dieser Opfer waren Juden. Siehe: S. Klemp, Nicht ermittelt, S. 545
(33) Browning, Ganz normale Männer, S. 13
(34) Ebd., S. 293-294
(35) Dostert, S. 83
(36) F. Meyer, Ein Volk von Dämonen, Der Spiegel, 21/1996, S. 51
(37) Dostert, S. 83
(38) Ebd., S. 81
(39) In einer überarbeiteten Neuauflage seines Buches, die im Februar 2017 bei HarperCollins, NY, erschien, widmet Browning den Luxemburgern ein kurzes Kapitel unter dem Titel „The Luxemburgers“. Als Anfang der 1970er Jahre der Hamburger Prozess neu aufgerollt wurde, sind Browning zufolge fünf deutsche Zeugen, die in derselben Einheit dienten als die Luxemburger, nochmals befragt worden. „Ihr Verdikt war einstimmig, die Luxemburger sind nie von irgendwelchen Aufgaben entbunden worden, auch nicht von Judenaktionen.“ (S. 246; Übersetzung durch den Verfasser).
(40) Ebd., S. 245. Bemerkung: bei den drei Luxemburgern handelte es sich um Jean Weber, Emile Konsbrück und Marcel Speller (s. Browning S. 329)
(41) Dostert, S. 94
(42) Ebd.
(43) C. Browning, Ganz normale Männer, S. 108
(44) Die Namen kann man hier nachsehen: „Freiwëllegekompanie 1940-1945“, Tome II, S. 523, Bericht von Nicolas Schumacher
(45) Dostert, S. 94
(46) Ebd., S. 95. Bemerkungen: 1. Dostert zitiert aus einem Vernehmungsprotokoll vom 22.1.1974; 2. ein anderer Zeuge soll Dostert zufolge auch einen Luxemburger als Täter genannt, aber einen anderen Namen angegeben haben.
(47) Ebd., S. 96
(48) H. Welzer, Täter: Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, Z. Auflage 2016, S. 85
(49) Dostert spricht von vier Zeugnissen, in denen ein ähnlicher Satz steht. Er schreibt auch, dass 1944 „identische Beurteilungen nochmals Eingang in die Personalakten fanden“, S. 88
(50) http://www.ons-jongen-a-meedercher.lu/
(51) Browning, Ganz normale Männer, S. 293-294
(52) Kiepe, S. 69. Der Autor zitiert aus der Hambuger Anklageschrift datiert auf den 4. Juli 1966.
(53) Jacoby, Trauffler, Tome II, S. 733 (s. auch S. 110-111)
(54) B. Thomas, Fissures, d’Lëtzebuerger Land, 2.9.2016, http://www.land.lu/page/article/385/9385/DEU/index.html
(55) Code pénal, Art. 136bis und 136ter
(56) Jacoby, Trauffler, Tome II, S. 110-111
(57) Die SS wurde im Rahmen der Nürnberger Prozesse 1946 insgesamt als „verbrecherische Organisation“ verurteilt.
(58) Dostert, S. 84
(59) P.M. Quadflieg, Die Zwangsrekrutierung von Luxemburgern zur deutschen Wehrmacht im Spiegel von Wehrmachtspersonalunterlagen, In: Hémecht 59 (2007) 4, S. 428
(60) Angesichts der enormen Verbrechen der Wehrmacht an der Zivilbevölkerung und den Kriegsgefangenen sowie ihre Verwicklung in die Judenvernichtung in den eroberten Gebieten der Sowjetunion ist es nicht abwegig, auch hier Fragen über die Beteiligung von Luxemburgern zu stellen.

Mil LORANG
3. Dezember 2017 - 14.32

Den Auteur huet net den Titel falsch gewielt. Mäin Haapttitel war: "Wie Luxemburger Soldaten in Osteuropa zu Teilnehmern am Judenmord wurden". Et wier effektiv méi richteg, wann deen Titel hei an der Online-Versioun géif benotzt ginn, d'autant plus, dass op der Foto 14 Lëtzebuerger an enger däitscher Polizeiuniform ze gesi sinn. ... Ech war mam Dr. Stefan Klemp a Kontakt an hat him den Artikel och am Virfeld geschéckt, well ech hien vill zitéiert hunn. Hien hat bei der finaler Versioun guer näischt ze beanstanden, au contraire ... Mä et ass richteg, dass nach vill misst recherchéiert ginn, an net nëmmen iwwer d'Leit, déi an der FK woren. Den Artikel soll jo och als Encouragement un d'Historiker an deem Sënn verstane ginn.

C.Diener
2. Dezember 2017 - 11.14

Hunn den Artikel matt Spannung gelies, sinn awer der Meenung dass den Titel falsch gewielt ass. An der Schoul geif et heeschen ´Thema verpasst´. Den Auteur wielt den Titel ´Als die Luxemburger Armee das Land verliess´, wielt also den Jahresdaag vum Depart vun der FWK op Weimar an beschränkt sich am sengem Artikel zu >80% matt denen Jongen dei am Polizeibataillon 101 waren. Den Dr.Stefan Klemp huet Ufank 2017 bei enger Ausstellung iwert FWK zu Berlin d´Recherchen vum Browning an Fro gestallt. Thema FWK ass nach nett richteg + komplett opgeschafft.

de rom
1. Dezember 2017 - 20.09

dat do brauch daach nu wierklech kénn ze wonneren ,wat eis seit 70 joer emmer nees als eng liegen verkaff ginn ass stellt sech elo als traureg wourecht duer . bei de PREISEN hunn se elo kierzlech nach esou eng persoun mat 90 joer zu 4 joer PRISONG veruerteelt, do war och schon meng Fro fir wat brauchen dei 70 joer zeit fir esou eng persoun ze lokaliseieren, an dat selwecht gellt och fir dest LAND

Mike weber
1. Dezember 2017 - 12.31

Respekt vir den Artikel. Bei den "Antipartisanen Aktiounen" an Yugolslawien hun och Letzeburger matgemach.

J.C. KEMP
1. Dezember 2017 - 11.22

Kein Wunder, dass man die russischen Archive nicht haben wollte, wo die gefangenen Wehrmachtsoldaten aus den Lagern verhört wurden. Da sind bestimmt noch mehr solcher unappetitlichen Sachen dabei, die verschiedene 'Patrioten' nicht wahr haben wollen.

Jean Bodry
1. Dezember 2017 - 11.13

Hunn déi 14 Lëtzebuerger aus dem Policebattaillon 101 och hir Rente mam Complement differenzielle kritt! Oder hunn se hir Rente zu Tréier kritt, wéi déi Lëtzebuerger déi an de SS waren? Och 70 Joer donochten ass et interessant ze wëssen?

Jean A.
1. Dezember 2017 - 8.46

Habe den Artikel mit grossem Interesse gelesen. Respekt für die Recherche- Arbeit. Diese Klarstellung ist erschreckend wenn auch nicht ganz neu. Ich glaube einige der erwähnten Personen waren noch als Kader aktiv in unserer Armee als ich 1966 meinen Militärdienst absolvierte.

Jscholnier
1. Dezember 2017 - 7.48

Respekt, Sie schreiben über ein Thema ,das über Jahrzehnte von unseren " all woren se Patrioten" unter den Teppich gekehrt wurde.Wer in den letzten Jahren diese Wahrheiten über die luxemburgische Mittäterschaft an Verbrechen der Wehrmacht oder anderen NS Organisationen zur Sprache brachte, wurde als Nestbeschmutzer betitelt .