Eine Jahrhundertidee feiert Geburtstag

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Seit nunmehr 150 Jahren fluten Reclam-Hefte den Markt. Eine Änderung des Urheberrechts war der Auslöser, doch erst die Industrialisierung der Literatur ließ Reclam zum Erfolg werden.

Seit nunmehr 150 Jahren fluten Reclam-Hefte den Markt. Eine Änderung des Urheberrechts war der Auslöser, doch erst die Industrialisierung der Literatur ließ Reclam zum Erfolg werden. Auch heute sind die gelben Hefte noch verbreitet.

Von Roland Mischke

Es gibt sie immer noch, auch jüngere Menschen kennen die schmalen quietschgelben Reclam-Hefte aus dem Schulunterricht. Vor 150 Jahren gelangten sie erstmals in die Buchhandlungen, die Werke von Goethe, Schiller, Lessing oder Kleist gab es auf einmal zum Pfennigpreis.

„Eine Jahrhundertidee“, heißt es in Leipzig, dem ursprünglichen Verlagsort von Reclam, der 1990 aufgegeben wurde. Seither residiert der Verlag in Stuttgart. Eine Leipziger Ausstellung erklärt die Begeisterung, die damals einsetzte, und ihre Wirkungen bis heute.

Günstiger Zugang zur Weltliteratur

Die kleinen Bände aus Reclams Universal-Bibliothek mit der großen Literatur eroberten seit November 1867 den Lesemarkt, anfangs im Rosenholzton. Sie wurden auch auf der Straße verkauft und in den Kriegen, die das Deutsche Reich führte, begleitete die Soldaten eine „Tragbare Feldbücherei“ mit einer „Auswahl guter Bücher für Schützengraben und Standquartier“. Für Menschen, die sich die seinerzeit noch sehr teuren Bücher nicht leisten konnten, gab es nun den günstigen Zugang zur Weltliteratur.

Anton Philipp Reclam, 1867 schon 60 Jahre alt, hatte sich das ausgedacht. Nachdem seit 1837 ein neues Urheberrecht galt, beschlossen von der deutschen Bundesversammlung und in der preußischen Gesetzgebung festgehalten, wollte er davon profitieren. Demzufolge durften nämlich Werke von verstorbenen Autoren nach einer Schutzfrist von 30 Jahren rechtefrei veröffentlicht werden. 1867 war es so weit, Reclam kam mit seiner „Universal-Bibliothek“ auf den Markt. Nummer eins war Goethes „Faust“, es folgten Schillers „Wilhelm Tell“, Kellers „Kleider machen Leute“ und Lessings „Nathan der Weise“. Sie erreichten Millionenauflagen. Pro Jahr erschienen 140 Nummern, neben Klassikern der deutschen auch solche der europäischen Literatur.

Literatur wird industrialisiert

Ältere erinnern sich: Brecht, Lorca, Neruda, Melville, Breton, Majakowski – auf einmal waren diese Autoren zu lesen. In der DDR kostete ein Reclam-Heft eine Mark, im Westen nicht viel mehr. Man trug die dünnen, kleinformatigen Bände bei sich, sie passten in jede Hosentasche.

Es war die neue Technik, die Gedichten, Romanen und jeder anderen literarischen Form diesen Weg bahnte. In die Druckereien zogen Schnellpressen ein, neue Papiermaschinen für Texte und Holzstich-Illustrationen. Nur der industrielle Fortschritt ermöglichte den unschlagbar günstigen Preis für die Taschenbuchausgaben. Jahrzehnte später, erstmals 1912, gelangte der Buchautomat, den der berühmte Architekt Peter Behrens entworfen hatte, auf die Straßen, auf Marktplätze, in Bahnhöfe, Krankenhäuser und Kasernen, sogar auf Schiffe. Aus dem tanksäulenähnlichen Turm konnte man sich nach Eingabe von 40 Pfennigen „ein gutes Buch“ ziehen. Die Industrialisierung der Literatur hatte sich nun endgültig durchgesetzt.

„Reclam braucht keine Reklame“

Nach dem Tod Anton Reclams 1896 hatten seine Nachfolger als Verleger die Macht des Marketing erkannt, ohne dass der Begriff schon im Umlauf war. Der Vertrieb wurde effizienter gestaltet und zielte auf hohen Absatz. Zugleich kokettierte der Leipziger Verlag, der auch „Reclams Universum. Moderne Illustrierte Wochenschrift“ für 30 Pfennig herausgab – im damals populären Jugendstil –, mit dem frechen Spruch „Reclam braucht keine Reklame“.

Das Reclam-Heft war lange Zeit ein Standardformat bei der Lektüre im schulischen Unterricht. Auch wenn heute der Computer die dominierende Rolle spielt, ist der schmale Band nach wie vor im Gebrauch.

Ausstellung „Universal. Reclams Jahrhundertidee – Leipzig 1867 bis 1990.“, Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek, Leipzig, bis 3. Juni 2018. Mehr Informationen dazu gibt es hier.

Zum Autor:

Roland Mischke wurde als Kind vertriebener Schlesier in Chemnitz geboren. Er studierte Evangelische Theologie und Germanistik in Berlin, volontierte bei der FAZ und arbeitete danach zwölf Jahre vor allem im Feuilleton dieser Zeitung. Danach gründete er mit Partnern einen Buchverlag und war nebenher als freier Journalist für Zeitungen und Zeitschriften im gesamten deutschsprachigen Raum tätig.

Sein Themenspektrum erstreckt sich von aktuellen Kulturberichten – vor allem aus Berlin – über Kommentare zum Kulturbetrieb bis zu Lifestyle-Berichten und Geschichten über politische und gesellschaftliche Hintergründe und Entwicklungen. Zudem hat er einige Sachbücher geschrieben.