Ukraine-KriegAlle Toten sollen erfasst werden

Ukraine-Krieg / Alle Toten sollen erfasst werden
Oleksandr Remes, 63, steht vor einem zerstörten Wohnblock, wo er seine Frau Natalia und sein Zuhause verloren hat Foto: Sergei Supinsky/AFP

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Der Raketenangriff hat Oleksandr Remes alles genommen – seine Frau Natalia und das Zuhause im zentralukrainischen Uman. Remes überlebte nur deshalb, weil er an diesem Morgen im April früh aufgestanden war und sich in der Küche zu schaffen machte. Als er Wochen später vor dem zerstörten Wohnblock steht, der noch nach beißendem Rauch riecht, äußert er einen Wunsch: Jedes einzelne Opfer des Krieges soll dokumentiert werden.

„Wir brauchen nicht nur die Zahlen, sondern auch Namen, denn niemand sollte vergessen werden“, sagt der 63-Jährige mit Tränen in der Stimme.

Offiziellen ukrainischen Zahlen zufolge wurden seit dem russischen Einmarsch im Februar vergangenen Jahres mindestens 10.368 Zivilisten getötet und 14.404 verletzt. „Das sind nur die Leute, von denen wir wissen“, sagt Oleg Gawrysch, Berater im ukrainischen Präsidialamt. „Wir schätzen, dass die tatsächlichen Zahlen höchstwahrscheinlich fünfmal höher sind.“ Die ukrainischen Zahlen sind nicht weit entfernt von denen der Vereinten Nationen, die bis Ende April 8.709 Tote und 14.666 Verletzte zählten. Auch die UNO vermutet, dass die wirkliche Zahl „erheblich höher“ liegt.

Die toten und verletzten Zivilisten des russischen Angriffskriegs vollständig zu erfassen, ist eine schwierige Aufgabe. Aber Experten nennen diese Dokumentation unabdinglich für einen Heilungsprozess, der vielleicht einmal einsetzt, und die gründliche Aufarbeitung der Geschehnisse.

Erfahrungen aus anderen Kriegen

Russland müsse „für jeden Einzelnen zur Verantwortung gezogen werden“, sagt Remes am Denkmal für seine Frau und die anderen 22 Opfer des Luftangriffs vom 28. April, darunter vier Kinder. Doch ist schwer zu ermitteln, wie viele Menschen insgesamt bei den ungezählten russischen Angriffen mit Artillerie und Raketen bislang starben.

Ein Haupthindernis liegt in fehlender Information aus Gebieten, die von Russland besetzt sind, wie der Hafenstadt Mariupol, wo möglicherweise zehntausende Zivilisten getötet wurden. Und selbst wenn die Ukraine Mariupol und andere Orte zurückerobern würde, fürchten Experten, dass die russischen Truppen dort die Beweise vernichtet haben.

In Gebieten mit starker Zerstörung wie dem von Russland nach eigenen Angaben zuletzt eroberten Bachmut kann es schon schwierig sein, zu registrieren, wer überhaupt vermisst wird, wer tot ist und wer geflüchtet. Deshalb kann es Jahre dauern, bis Opferzahlen sicher dokumentiert sind, wie sich etwa auch beim Bosnien-Krieg der 1990er Jahre oder beim jahrzehntelangen Nordirland-Konflikt gezeigt hat.

Wegweisende Forschungen haben die Namen von etwa 97.000 Menschen zusammengetragen, die im Bosnien-Krieg (1992-95) getötet wurden. Das Ergebnis der Recherche ist das 2007 veröffentlichte bosnische „Totenbuch“. Es gilt als die umfassendste Dokumentation des Blutvergießens nach dem Zerfall von Jugoslawien.

Entscheidend, nachprüfbare Zahlen zu bekommen

Philip Verwimp, Experte für Demografie in Konfliktsituationen, war an der Untersuchung der im „Totenbuch“ erfassten Daten beteiligt. Er nennt es entscheidend, nachprüfbare Zahlen zu bekommen. „Die Ukrainer sind sehr schnell darin. Sobald sie Dörfer zurückerobert haben, schicken sie schon Teams von Forschern dorthin, um die russischen Kriegsverbrechen zu dokumentieren“, berichtet der Experte.

Seit Beginn der russischen Invasion hat die Ukraine den Tod von Zivilisten, Fälle sexueller Gewalt sowie die Zerstörung von Häusern und Kulturdenkmälern in Zahlen dokumentiert. Eine Liste von verifizierten einzelnen Namen von Todesopfern könne den Familien helfen, mit dem Verlust eines Angehörigen fertig zu werden, sagt der Demograf Jakub Bijak, der in den 90er Jahren mit dem UN-Tribunal für das frühere Jugoslawien zusammenarbeitete. Ebenso wichtig sei es aber auch, das Gesamtausmaß der Verluste zu ermitteln, die ein Land im Krieg erlitten hat.

Oleksandr Remes kämpft noch damit, von Tag zu Tag weiterzumachen mit seinem Leben. Den Tod seiner Frau zu dokumentieren, gibt ihm immerhin etwas Trost. „Wir müssen alles erfahren, alles Menschenmögliche tun, damit so etwas nicht wieder passiert“, sagt er. (AFP)