UkraineRussen beschießen Flutopfer in Cherson

Ukraine / Russen beschießen Flutopfer in Cherson
Der russische Krieg gegen die Ukraine birgt für die Menschen im Land immer wieder neues Unheil Foto: Aleksey Filippov/AFP

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Bis Donnerstagmittag wurden nach dem Staudammbruch in Nowa Kachowka mindestens zehn Tote gemeldet. Ein Zivilist war beim russischen Beschuss eines Evakuierungszentrums im Chersoner Stadtteil Korabel getötet worden. Laut Gouverneur Alexander Prokudin wurden bei dem Beschuss vom russisch besetzten Dnipro-Ufer aus zudem ein Rettungshelfer und ein Polizist schwer verletzt. „Die Russen beschießen die Küstenabschnitte und die Innenstadt“, warnte Prokudin auf seinem Telegram-Kanal.

Die Stadtteile Korabel und Ostrow befinden sich seit der ukrainischen Rückeroberung der Großstadt im November immer wieder unter russischem Beschuss. Am Donnerstag sollte dort der Kulminationspunkt der Flutwelle des rund 80 Kilometer nördlich gelegenen Kachowka-Stausees erreicht werden. Aus dem Stadtbezirk Ostrow wurden alleine am Donnerstag weitere 800 Bewohner evakuiert.

In der Gegend der großen Hafenbrücke beim Stadtteil Korabel zeigte sich am Donnerstagmittag mit besorgter Miene Wolodymyr Selenskyj. Das Wasser an dem Verkehrskreisel stand beim Besuch des ukrainischen Präsidenten knapp einen halben Meter hoch. Selenskyj machte sich ein Bild von den Rettungsarbeiten und versprach im höher gelegenen Stadtzentrum eine komplette Schadensaufnahme und Ausgleichszahlungen. „Wir helfen“, betonte er.

Am Nachmittag reiste der Staatspräsident weiter an den Nebenfluss Ingulets in der Oblast Mykolajew. Dort war in der Nacht zum Donnerstag das bisher zweite bestätigte Todesopfer auf der von Kiew kontrollierten Westseite des Dnipro zu beklagen. Auf der russisch besetzten Ostseite des größten Flusses der Ukraine meldeten die zivilen Besatzungsbehörden bis Donnerstagnachmittag acht Todesopfer und mindestens 40 Verletzte. Drei Personen sollen in Oryscha ertrunken sein, fünf in der Staudamm-Stadt Nova Kachowka. Das ukrainische Verteidigungsministerium berichtete dazu über eine ungenannte Zahl russischer Soldaten, die ertrunken sein sollen. Die russische Armee habe sich infolge der Flut 15 Kilometer nach Osten zurückziehen müssen, hieß es in Kiew. Die Beschuss-Intensität der Westseite des Dnipro habe sich halbiert. Der schon vor dem Dammbruch sehr breite Dnipro bildet südlich der noch von Kiew kontrollierten Großstadt Saporoschschja bis zum Dnipro-Delta am Schwarzen Meer die Frontlinie.

Laut Kiewer Angaben sind bisher rund 600 km2 überschwemmt. Zwei Drittel sollen sich auf dem russisch besetzten Ostufer des Dnipro befinden, auf der seit November wieder von Kiew kontrollierten Seite sollen bisher neben den beiden Stadtteilen in Cherson acht Dörfer am Dnipro-Ufer und 13 Dörfer am Ingulets überschwemmt worden sein.

Evakuierungen dauern noch Tage an

Auch am Donnerstag vergrößerten die Wassermassen des zweitgrößten Stausees der Ukraine das bei der Explosion in der Nacht zum Dienstag in den Staudamm gerissene Loch. Der Wasserstand des Stausees hatte bei 17,5 Metern vor der Explosion einen historischen Höchststand erreicht. Der Druck des 2.200 km2 großen Sees im aufgestauten Dnipro-Fluss ist immens.

Niemand konnte am Donnerstag sagen, wann welche weiteren Elemente der 22 Meter hohen Staumauer wegbrechen könnten. Die Evakuierungen würden noch drei bis vier Tage andauern, hieß es in Cherson. Auf der östlichen Dnipro-Seite ist das 15.000-Einwohner-Städtchen Hola Pristan gegenüber von Cherson am stärksten von der Flut betroffen. Rund 25.000 Menschen sind dort von der Flutwelle bedroht. Auf ukrainischer Seite sind 42.000 Menschen unmittelbar betroffen.

In der Ukraine kam es derweil selbst in Kriwi Rih, 200 Kilometer nordwestlich von Cherson, zu Trinkwasser-Hamsterkäufen. Viele Großstädte der Region haben bisher ihr Trinkwasser aus dem Kachowka-Stausee bezogen. Laut dem Landwirtschaftsministerium in Kiew hat der Dammbruch weitreichende Auswirkungen auf die Bewässerung der Felder. Laut dem Ministerium sollen 94 Prozent der Felder in der Oblast Cherson, 74 Prozent in der Oblast Saporoschschija und 30 Prozent in der Oblast Dnipropetrowsk in diesem Sommer nicht bewässert werden können. Diesen Gegenden könnte also bald eine Dürre bevorstehen.

Das Wasser des Stausees reicht nach ukrainischen Angaben nicht mehr aus, um die Reaktoren im rund 150 Kilometer entfernten Atomkraftwerk Saporischschja zu kühlen. Der Wasserpegel des Sees sei „unter die kritische Marke von 12,70 Meter“ gefallen, sagte der Chef des ukrainischen Betreiberunternehmens Ukrhydroenergo, Igor Syrota, am Donnerstag im ukrainischen Fernsehen. Das bedeute, dass der See die Kühlbecken des Akw nicht länger mit Wasser versorgen könne, fügte er hinzu.

Staudamm unter russischer Kontrolle

Über die Ursache der Staudamm-Explosion in der Nacht zum Dienstag herrschte auch am Donnerstag Unklarheit. Sowohl die russischen Invasionstruppen wie die ukrainischen Verteidiger weisen sich gegenseitig die Schuld zu, haben bisher aber je keine Beweise vorgelegt. Laut dem Kreml soll die Ukraine den Damm zerstört haben, um von ihrer gescheiterten Gegenoffensive abzulenken und die Halbinsel Krim von der Süßwasserzufuhr abzuschneiden. Kiew machte noch am Dienstag die russische Armee verantwortlich.

Tatsache ist jedoch, dass der Staudamm seit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022 unter russischer Kontrolle stand. Bereits in den ersten Monaten der Besatzung soll er von den Russen vermint worden sein. Im August und November kam es jeweils zu ukrainischen Raketenschlägen gegen die Straße in der Nähe der Staumauer. Womöglich wurde dadurch auch der Staudamm beschädigt. Allerdings ließen die russischen Besatzer den Stausee ab März dennoch bis auf einen Höchstpegel anlaufen. Nicht ausgeschlossen ist ein Unfall infolge schlechter Wartung des Staudamms durch die russischen Besatzer.

Ukrainische Experten haben laut der Internetzeitung „Ukrainska Pravda“ bereits im Oktober berechnet, dass ein Raketeneinschlag von außen dem massiven Bauwerk von 1956 nichts anhaben könne, wohl aber Explosionen im inneren des Staudamms.