Kluft macht krankForscher Wilkinson: „Soziale Unsicherheit ist die größte Stressursache“

Kluft macht krank / Forscher Wilkinson: „Soziale Unsicherheit ist die größte Stressursache“
Ein Tag im März in Luxemburg: „Die Gesundheit nimmt nicht erst Schaden, wenn die Arbeitslosigkeit eintritt“ Foto: Editpress/Julien Garroy

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Der britische Epidemiologe Richard G. Wilkinson erklärt, warum der wachsende Abstand zwischen Arm und Reich schlecht für die Gesellschaft ist.

Der Epidemiologe Richard G. Wilkinson untersucht seit Jahrzehnten die Auswirkungen von sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit. Der 1943 geborene Brite, der an der London School of Economics and Political Science Wirtschaftsgeschichte studierte, ist emeritierter Professor für Social Epidemiology an der Universität von Nottingham und Gründer des Equality Trust, der sich mit den Folgen der Ungleichheit und möglichen Maßnahmen ihrer Reduzierung befasst. Bekannt wurde Wilkinson u.a. durch sein zusammen mit Kate Pickett verfasstes Buch „The Spirit Level“ (2009), auf Deutsch „Gleichheit ist Glück“. Das Tageblatt sprach mit ihm per Videocall.

Tageblatt: Herr Wilkinson, was war Ihr erster Ansatz, um die Folgen der Ungleichheit zu erforschen?

Richard G. Wilkinson: Ich begann, die Lebenserwartung der Menschen je nach Einkommen zu vergleichen. Schnell kam ich zu dem Ergebnis, dass die Ungleichheit schlecht für die Gesundheit ist. Je ungleicher eine Gesellschaft ist, desto mehr hängt die Gesundheit vom Status innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie und von der Klassenzugehörigkeit der Menschen ab. Ungleichheit schadet, denn sie führt dazu, dass manche Menschen mehr als andere gelten und wir uns verstärkt darüber Gedanken machen, wie uns andere sehen und beurteilen. Menschen können selbstbewusster, aber auch narzisstischer werden. Andererseits können sie leichter eine Depression erleiden und soziale Kontakte generell als stressig empfinden. Das kann unterschiedliche Folgen haben: Manche ziehen sich eher zurück, isolieren sich und werden depressiv; andere versuchen, statt bescheiden zu bleiben, einen guten Eindruck zu erwecken und sich wichtig zu machen, indem sie immer wieder ihre Leistungen in den Vordergrund stellen.

Je ungleicher eine Gesellschaft ist, desto mehr hängt die Gesundheit vom Status innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie und von der Klassenzugehörigkeit der Menschen ab

Hat dies nicht auch etwas mit dem Wertewandel insbesondere der westlichen (Leistungs-)Gesellschaften hin zu einer Meritokratie zu tun, die mehr und mehr unser ganzes Leben durchdringt?

Ja, und es fördert das Bewusstsein der Eliten einer Gesellschaft, den anderen gegenüber überlegen und besser als sie zu sein. Dieses Denken verstärkt alle Arten von Vorurteilen. In jeder Gesellschaft unterscheidet sich die Lebenserwartung von „unten“ nach „oben“. In manchen beträgt der Unterschied vielleicht nur fünf Jahre, in anderen 20 Jahre. Die Lebenserwartung kann selbst innerhalb einer Stadt variieren. Dabei kommt es nicht nur auf den materiellen Standard an, sondern wie man sich mit den anderen Menschen verbindet. Größere Ungleichheiten haben einen starken Einfluss. In besonders ungleichen Gesellschaften kommt es etwa seltener vor, dass zwei Personen aus unterschiedlichen sozialen Milieus einander heiraten. Es kommt außerdem häufiger dazu, dass man in voneinander getrennten Gegenden lebt und aufwächst. Die soziale Mobilität ist geringer.

Richard Wilkinson
Richard Wilkinson Foto: John Houlihan/witness.co.uk

Wie wir wissen, unterscheiden sich die sozialen Ungleichheiten von Land zu Land.

In Westeuropa sind sie weniger ausgeprägt, als besonders gering gelten sie in den skandinavischen Ländern. Unter den westlichen Staaten weisen die USA und das Vereinigte Königreich deutlich größere Ungleichheiten auf als andere Länder. Am größten sind sie in Lateinamerika. Diese Gesellschaften sind weniger kohäsiv. Das Gemeinschaftsleben ist dort schwächer ausgeprägt, dafür sind Kriminalität und Gewalt höher. Es gibt zahlreiche Untersuchungen über den Zusammenhang von Ungleichheit und Gewalt. Eine Ursache dafür ist, dass die Menschen sich nicht respektiert fühlen. Sie empfinden sich häufig sogar gedemütigt. Besonders ungleiche Gesellschaften sind auch anfälliger. So hat etwa die Covid-Pandemie in jenen Staaten mit größerer Ungleichheit mehr Schaden angerichtet als in anderen.

Obwohl man das alles schon weiß, hat sich in den besonders betroffenen Staaten kaum etwas verändert. Die Kluft zwischen Arm und Reich wurde nicht etwa kleiner, sondern noch größer.

In den westlichen Staaten hingegen hat sich durchaus etwas verändert. Blickt man zurück auf die Zeit vor etwa hundert Jahren, dann stellt man fest, dass die Ungleichheit in den 20er-Jahren besonders groß war. Das hat sich in den 30er-Jahren gebessert – bis die Ungleichheit gegen Ende der 70er-Jahre wieder zunahm. Die Lage verschlimmerte sich, als sich in den 80ern die neoliberale Idee des freien Marktes in Großbritannien unter Margaret Thatcher (Premierministerin von 1979 bis 1990; Anm. d. Red.) und in den USA unter Ronald Reagan (Präsident von 1981 bis 1989) durchsetzte. Es handelte sich um eine internationale Ideologie, die unter anderem zur Privatisierung öffentlicher Einrichtungen, zu Steuererleichterungen für Reiche und zur Schwächung der Gewerkschaften führte.

Selbst sozialistische und sozialdemokratische Regierungen hielten an dem Kurs fest.

Ich bin mir sicher, dass Tony Blair (britischer Premierminister von 1997 bis 2007) davon ausging, dass die unteren 20 Prozent der Gesellschaft im Vergleich zu den unteren 20 Prozent in der Vergangenheit, etwa in den 30er-Jahren, gut lebten. Mir geht es aber nicht um die absoluten materiellen Standards, sondern um die psychosozialen Auswirkungen, die mentale Gesundheit. Blair lag vor allem deshalb falsch, weil er nur den materiellen Aspekt der Ungleichheit in Betracht zog und nicht den Effekt auf die sozialen Beziehungen, auf die Gefühle von Überlegenheit und Unterlegenheit. Lange Zeit haben die Forscher über den kausalen Zusammenhang gestritten, ob „poor conditions“ zu „poor health“ führen oder andersrum. Wir kamen auch zu der Erkenntnis, dass die Gesundheit nicht etwa erst Schaden zu nehmen beginnt, wenn die Arbeitslosigkeit eintritt, sondern bereits, wenn man sich darüber Sorgen macht und fürchtet, arbeitslos zu werden.

Die soziale Unsicherheit ist vielleicht die größte Stressursache

Nimmt die Erkrankungsgefahr also in Zeiten steigender sozialer Unsicherheit weiter zu?

Die soziale Unsicherheit ist vielleicht die größte Stressursache. Ein großer Durchbruch wurde erzielt, als die Bedeutung von chronischem Stress erkannt wurde. Er kann zu einer schnelleren Alterung führen, zu einer erhöhten Krankheitsanfälligkeit. So steigt etwa die Gefahr, an Krebs zu erkranken.

Wie kann die soziale Ungleichheit verringert werden? Etwa durch Sozialtransfers?

Noch wichtiger als soziale Transfers ist die Reduzierung der Einkommensungleichheit vor der Taxierung. Wenn man daran denkt, dass die Gehälter der Spitzenverdiener in den 70er-Jahren rund 20-mal so hoch waren wie die der Geringverdiener und heute etwa 200-mal so hoch. Ein Ansatz ist aber auch die Stärkung der Arbeitnehmerrechte. Betrachtet man die Entwicklung der vergangenen hundert Jahre, so war die Ungleichheit immer besonders dann hoch, wenn die Gewerkschaften schwach waren. Aber auch andere Faktoren traten hinzu: So war die Angst vor dem Kommunismus gut für Kapitalismus, hat aber zugleich den Wohlfahrtstaat gestärkt. US-Präsident Franklin D. Roosevelt zum Beispiel hat bei der Industrie für seinen New Deal geworben, indem er sagte: Wir müssen reformieren, um das System zu erhalten. Ähnlich war es in den asiatischen Ländern, die im Wettbewerb mit dem Kommunismus standen, wie zum Beispiel Südkorea gegenüber Nordkorea oder Taiwan gegenüber der Volksrepublik China.

Noch wichtiger als soziale Transfers ist die Reduzierung der Einkommensungleichheit vor der Taxierung

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